Offenbar ist es dem modernen Menschen in die Wiege gelegt, Themen, die Jahrzehnte, möglicher Weise Jahrhunderte lang niemanden so richtig interessierten, plötzlich aufpoppen zu lassen und – aus meist schwer zu ergründenden Motiven – zu problematisieren. Immerhin ist es aber nicht ganz unwahrscheinlich, dass solch Lancieren neuer Themen mit einem Generationenwechsel zu tun hat. Intellektuelle Wortführer geben nicht nur neuen Ideen sondern auch neuartigen Idiosynkrasien – intellektuell verbrämten Vorlieben und Abneigungen, Lebensarten und Weltanschauungen – eine Plattform; mit einem Schlag offenbart sich die ‚Bildungslandschaft‘ als grundlegend verändert, und die so ganz anders formierte neue Generation von Bildungseliten setzt ihre Benchmarks. Diese neue Wort- und Themenführerschaft bildet sich in drei Phasen heraus. Anfangs werden die in Geltung stehenden Sichtweisen ignoriert und parallele Deutungsuniversen errichtet, dann folgt die Phase der Kritik, bei der das Herkömmliche als veraltet gebranntmarkt wird, um am Ende – wenn der Generationenwechsel definitiv vollzogen ist – offen bekämpft zu werden.
Um diese doch einigermaßen verblüffende Kehrtwende zu verstehen, muss man ein wenig ausholen – und nicht nur ein wenig sondern recht intensiv über gewsse ideologisch-technologisch-wissenschaftstheoretische Werkzeuge nachdenken, die schon lange bevor sie als gesamtgesellschaftliches Phänomen (‚neue Denkungsart‘) zu Tage traten, für sehr spezielle – nämlich militärische – Zwecke entwickelt worden waren. Man kennt dieses Phänomen seit den 40-er-Jahren des vorigen Jahrhunderts unter der Bezeichnung Kybernetik. Nach einer eingängigen Definition ist das „die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise von lebenden Organismen […]. [Man] vergleicht den Istwert [eines Systems …] mit einem Sollwert, [… wobei] eine Abweichung zwischen diesen beiden Werten [das System dazu veranlasst, sich selbst] so zu regulieren, dass sich der Istwert dem Sollwert angleicht.“* Praktisch und in der Maschinensprache ausgedrückt kommt hier das binäre (zweiwertige) Prinzip JA/NEIN beziehungsweise 0/1 (Istzustand erreicht/nicht erreicht) zur Geltung.
Auch dazu gibt es eine einfache und für den intellektuellen Hausgebrauch ausreichende Beschreibung: „Binärcodes lassen sich technisch sehr leicht abbilden und verarbeiten, z. B. durch Spannungen: Spannung liegt an → entspricht 1 oder logisch wahr, Spannung liegt nicht an → entspricht 0 oder logisch falsch. Diese kleinste Informationseinheit aus 1/0 bzw. wahr/falsch bezeichnet man in der Informatik auch als Bit. Durch logische Verknüpfung […] dieser einfachen Werte […] lassen sich komplexere, höherwertige Informationen abbilden.“** Im Vertrauen auf die behauptete universelle Anwendbarkeit auch jenseits der Maschinenwelt wollen wir den Spuren des kybernetischen Systems mit seiner binären Logik folgen – bis tief in die Menschenwelt hinein.
Kybernetisierung einer Generation. Was bedeutet die binäre Logik für die Gesellschaft? Statt einer raschen Antwort stellen wir eine Behauptung an den Anfang; vielmehr eine Negation. Was in den neuen Hermeneutiken (Hermeneutik als Erklärungsprozess verstanden), also in der vorhin beschriebenen zweiwertigen Welt des ENTWEDER – ODER nicht zum Tragen kommt, ist das Gesamthafte eines Systems. Die zur Erfassung ‚des Ganzen‘ (griech. ‚holos‘ = ‚ganz‘, ‚das Ganze‘) nötigen holistischen Methoden sind immer vergleichsweise mühsam, weil man mit ihnen Einzelphänomene sowohl als sie selbst als auch in Hinblick auf ein – allenfalls noch auszuarbeitendes – Ganzes anzusehen und zu untersuchen hat; zahlreich sind dagegen die separatistischen Anschauungen. In diesen gibt es – wir wechseln jetzt in die moralische Diktion – kein Jenseits von Gut und Böse; weder Grauzonen mit Übergängen zwischen Gut und Böse, noch ein Changieren von Gut und Böse. Was der separatistischen Anschauung also fehlt, ist ein Sensorium für die Komplexität des Ganzen und dessen Strukturen. Das würde eine Offenheit zur Zukunft hin bedeuten, und Zukunft ist nie eindeutig sondern zwei-, ja vieldeutig. Wo jedoch nichts offen bleiben darf, gibt es keine Zukunft: nichts und niemand bekommt eine Chance zu zeigen, was in ihm steckt. Schon sind wir mitten im Problem, um nicht zu sagen Dilemma.
Disjunktion statt Konjunktion. Das Denken in Differenzen (Gut und Böse, Weiß und Schwarz, Nützlich – Schädlich) ist keineswegs neu, neu ist sein ungeheuer erweiterter und vertiefter Geltungsbereich; diese Apotheose der Polarisierung (wenn man es denn so pathetisch ausdrücken mag) verdankt sich einer Entwicklung, die man ‚Kybernetisierung des Daseins‘ nennen könnte. Die Historikerin Andrea Komlosy beschreibt das gegenwärtige gesellschaftliche Sein (und nicht nur das gesellschaftliche) als gradezu vom binären Denken beherrscht (Komlosy 2023).***** Ein Denkansatz, dem zu folgen sich lohnt.
In diesem Szenario ist das strukturierte Ganze (das als solches gar nicht mehr wahrgenommen wird) längst in seine Teile zerfallen, aufgesplittert – wie man den Sachverhalt pointiert, möglicher Weise allzu pointiert beschreiben könnte – als ‚bits and bytes‘ in Form von Tausend und einer Ansicht, Tausend und einer Meinung, Tausend und einer Behauptung. Da gibt es keine Diskussion, nur mehr Konsens oder Widerspruch … Abstrakt gesprochen: Differenz ist zur entscheidenden hermeneutischen Kategorie geworden.
In der zweiwertigen Logik des ENTWEDER – ODER sind Entwicklung und Veränderung von Sachverhalten – beispielsweise die Vertauschung der Vorzeichen Plus und Minus – eine Denkunmöglichkeit. Ein Zustand, etwa die Zusammensetzung von Arten in einem gegebenen Biom, ist gemäß solch digitaler ist gleich zweiwertiger Logik niemals nur Momentaufnahme sondern immer schon die ganze Wahrheit. Bekanntlich dulden ganze Wahrheiten keine anderen Wahrheiten neben sich. Im Denken, das den Leitlinien der zweiwertigen Logik folgt, stehen Qualitäten notwendig gegeneinander, ohne jemals ineinander überzugehen; nicht einmal vermischen können sie sich. Komlosy: „Bei jedem digitalen Auswahlprozess erhebt sich das binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen.“
Wer schafft an? Statt linearem Herrschaftswissen kybernetische Optimierung. So unwillkürlich die Gesellschaft digital zustande gekommene ‚Wahrheiten‘ in sich aufnimmt und so selbstverständlich sie an deren Faktizität glaubt, so willkürlich sind deren Inhalte. Beinahe zufällig und auf Grund von eigentlich gleichgültigen Vorurteilen wählt die Öffentliche Meinung ihre Gegenstände aus. Im Falle der pflanzlichen und tierischen Invaders scheint es prinzipiell egal zu sein, welche Geschichte hinter deren Auftreten in der Umwelt steckt und welche biologische Rolle sie tatsächlich spielen. Vielmehr sind sie alle durchs digitale Nadelöhr gegangen und verdanken ihre gesellschaftliche Bedeutung (ihr mediales, oft auch juristisches Dasein) der Passgenauigkeit, mit der sie, um nochmals Komlosy paraphrasierend zu zitieren, im „digitalen Auswahlprozess [als] binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen“ taugen. Egal ob ‚guter‘ Fuchs (Spieler) oder ‚böser‘ Waschbär (Gegenspieler) – immer gilt es eine Entscheidung zu treffen, bei welcher der eine bleiben darf, der andere gehen muss. 0 oder 1, Fuchs oder Waschbär … und so weiter in endloser Kette virtuell austauschbarer Objekte, die zur Wahl stehen, nein: nach dem Zufallsprinzip aus dem Hut gezogen und dem verblüfften Publikum willkürlich zur Wahl gestellt werden. „Bist du dafür oder dagegen, dass der Einwanderer Waschbär den Einheimischen Fuchs verdrängt? Entscheide dich!“ „Ich will aber beide.“ „Das geht nicht.“
Die postmoderne, unter dem Szepter der Kybernetik stehende Denkungsart ist alles Andere als das, was sich eine fröhliche Wissenschaft noch in den 60-er-, 70-er-Jahren des letzten Jahrhunderts von ihr erwartet haben mochte. Es kam genau umgekehrt, sie hat statt der erträumten, im weitesten Sinn ‚antiautoritär-demokratischen‘, von der Basis her kontrollierten und kontrollierbaren Richtlinien für Wissenschaft, Management und Politik – ein neues Setting der Macht für jene drei Bereiche gebracht. Wie denn auch nicht? „Schließlich geht der Begriff ja auf das altgriechische ‚kybernetes‘ zurück, den Steuermann. Kybernetik steht dementsprechend für die Kunst des Steuerns und wird sowohl für technische als auch für politische Belange angewandt. Auch ‚Gouverneur‘ oder ‚Governor‘ leitet sich davon ab“ (Komlosy).*****
Schon in den 70-er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Berliner Politikwissenschaftler Vincent August den Begriff technologisches Steuerungsdenken geprägt – es gibt bis heute keinen besseren, um den Wechsel von den „Fortschritts- und Legitimitätsversprechen der Nachkriegsmoderne“ (Komlosy) hin zu deren Gegenmodell zu bezeichnen: dem Netzwerk- und Systemdenken. „Kybernetik verwandelte sich damit sukzessive von einem technischen Instrument für die Steuerung des Wachstums zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Prinzipien, die die westliche Moderne geprägt hatten, insbesondere die Vorstellung eines durch kluge Politik geleiteten Staates, das damit verbundene Menschenbild des souveränen und mündigen Bürgers sowie den Glauben an ein von Linearität geprägtes Fortschrittsideal“ (ebd.).
Der Naturschutzgedanke war davon nicht ausgenommen. Ursprünglich ein dem Fortschritts-Theorem zwar skeptisch, aber nicht grundsätzlich feindselig gegenüberstehender ‚Wille zur Verbesserung der Welt‘ – als den man ihn bis zur kybernetischen Wende ansehen durfte –, zerplatzte sein Optimismus wie ein schöner Traum … und zerfiel in tausend separatistische Optionen, Möglichkeiten und Wege, aus denen man sich nach dem oben beschriebenen binären Auswahlprinzip (Null oder Eins) jeweils ausschließlich eine Option, ein Modell auszusuchen hatte und hat. Dass eine solche Reduzierung auf die eine Lösung („Eins tut not“, Lukas 10, 42) durch und durch autoritäre Modelle erzeugte und erzeugt – in unserem Fall eben Modelle eines fundamentalökologischen Naturschutzes –, verwundert nicht; zumindest dann nicht, wenn man dahinter die logische Konsequenz besagten Paradigmenwechsels erkennt.
Unfreiwillige Player in autoritären Szenarien. „Manchmal niedlich, manchmal fies.“ So beschreibt der populäre Eintrag im Netz jene Tier- und Pflanzenarten, die seit einiger Zeit das Interesse einer vordergründig Naturschutz-bewegten Öffentlichkeit erregen, weil sie im Konzept des Naturschutzes, nein, nicht als Gegenstand der Fürsorge sondern als Störfaktoren gelten (Link: Invasive Arten 1).*** Wo immer man ins Weltweite Netz hineingreift, fördert man puncto ‚invasive Arten‘ mit Sicherheit mehr alarmistische als gelassen-objektive Beschreibungen, Beurteilungen und Definitionen zu Tage. Mittlerweile auch schon legistische – und zwar, wenig überraschend: Definitionen aus Sicht einer Limitierungs- und Verbotspolitik. Die Biologie hat den Paradigmen-, sprich Generationswechsel, von dem eingangs die Rede war, mitvollzogen: auch an dieser Front sind Alarmismus und dystopische Szenarien in der Überzahl. Vom klassischen Evolutionsgedanken, für welchen ‚Natur‘ die Bühne symbolisierte, auf der die Arten im Wandel ihrer Rolle (und je nachdem, wie gut sie diese spielen) auf- und wieder abtreten, scheint sich eine ganze Generation, die sich dann vorsorglich gleich einmal ‚die letzte‘ nennt, definitiv verabschiedet zu haben. Nicht Bühne sondern Schlachtfeld ist ihr die Natur (und vergessen wir nicht: es handelt sich dabei um eine Alternativlosigkeit; eine Alternativlosigkeit unter dem Siegel nicht der Verschwiegenheit, sondern der binären und digitalen Entscheidung).
Der Begriff ‚Schlachtfeld‘ ist hier wirklich am Platz. Invasive Arten implizieren eine Alternative – Sieg oder Niederlage: „Der Begriff Invasion stammt aus dem Kriegskontext, ist aber […] im Umweltschutz etabliert. Invasive Arten sind solche, die aus einer anderen Region oder Weltgegend stammen und sich im neuen Lebensraum nicht nur etablieren, sondern sich so stark vermehren, dass sie einheimische Arten verdrängen, ihnen Licht und Nährstoffe streitig machen oder diese mit eingeschleppten Krankheitserregern infizieren. Laut dem Report des Biodiversitätsrats stellen sie eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, die unterschätzt und häufig nicht ernstgenommen wird“ (Link: Invasive Arten 2). Ohne damit über den inhaltlichen Aspekt im Positiven oder Negativen etwas auszusagen, sei doch zur Form („Invasive Arten spielen eine Schlüsselrolle beim Artensterben, warnt der Weltbiodiversitätsrat“) eine Anmerkung erlaubt: nicht immer war die „Wissenschaft“ so alarmistisch ...
Objektive Gründe ... für eine Sprache der Gewalt? An Beispielen von Störungen durch invasive Arten herrscht kein Mangel, nicht darin liegt das Überraschungsmoment. Interessant ist die Sprache, mit der dieser Sachverhalt beschrieben wird – ein Tonfall, ein … Zungenschlag: „Der Salamanderfresser, ein Pilz, rafft derzeit Salamander-Bestände in Deutschland dahin. Er löchert die Haut der Lurche. Viele befallene Tiere sterben schon eine Woche nach der Infektion. Seine Heimat ist Asien, aber durch den weltweiten Tierhandel ist er vermutlich eingeschleppt worden. Im Wattenmeer an der deutschen Nordseeküste wimmelt es von scharfkantigen Pazifischen Austern. Ursprünglich wollte man sie als Delikatesse in abgeschotteten Zuchtbetrieben päppeln, etwa auf Sylt seit den 80er-Jahren. Doch ihre Larven brachen aus und überwucherten Miesmuschel-Bänke. […] Im Bodensee und am Genfer See explodieren die Bestände der Quaggamuschel und verdrängen andere Arten. Stellenweise siedeln Zehntausende Tiere auf dem Quadratmeter. Sie verstopfen Trinkwasser-Förderleitungen und verursachen dadurch Schäden in Millionenhöhe. Die Quaggamuschel stammt aus dem Schwarzmeerraum“ (Link: Invasive Arten 2). Es wird dahingerafft, eingeschleppt, sodass es von scharfkantigem Zeug nur so wimmelt; aber man hat die Invasoren ja aufgepäppelt, nun sind sie ausgebrochen und überwuchern alles. Das unerwünschte (unwerte) Leben explodiert und verdrängt Wertvolles, Erwünschtes. Zu Zehntausenden drängen die Invasoren aus dem Schwarzen Meer in den Bodensee. Ein Kriegsszenario.
Erster vorläufiger Eindruck: „Niedliche Waschbären, duftende Kanadische Goldruten, edle Pazifische Austern …“ Aber der Schein trügt, hinter der ‚Niedlichkeit‘ lauert Gefahr. „Von insgesamt 37.000 Pflanzen, Tier- und Mikrobenarten weltweit, die sich in der Fremde etabliert haben, gelten mehr als 3.500 Arten als invasiv. Invasive Arten spielen dem bislang umfassendsten Bericht des Weltbiodiversitätsrats zufolge eine Schlüsselrolle beim Artensterben. Sie stellen eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, so der Bericht“ (Link: Invasive Arten 2).
Alarmismus oder reale Gefahr? Beides. Unsere ganz und gar nicht binäre Antwort mag die Alarmschlagenden befremden; doch so aus der Mode gekommen kann unser Hauptargument gar nicht sein, dass es nicht immer noch sticht. Es lautet: Was an einem Ort die Wirkung A entfaltet, kann schon wenige Meilen weiter die gegenteilige Wirkung B zeigen. In dieser Konstellation ist A genau nicht einwertig. Und sein Verhältnis zu B somit nicht-binär. Wem dies zu spekulativ ist, findet die passenden Beispiele in der Globalgeschichte des Artentransfers – eines Zweigs der Natur- und Ökologiegeschichte, der, um es neudeutsch zu sagen, deutlich underrated ist (vgl. Liedl 2024, 179 ff.)***** Beispielsweise lässt ein und dieselbe genetische Flaschenhals-Situation (die Ausgangspopulation einer Art besteht aus wenigen, nahe miteinander verwandten Exemplaren) zwei gegenteilige Lösungen zu, je nachdem, wo sich das Ereignis abspielt. Auf einer Insel lässt sie die neue (Unter-)Art zur optimal angepassten Spezialistin werden, die darum aber auch recht unflexibel ist gegenüber ökologischen Veränderungen; auf dem Festland macht dasselbe Ereignis die betreffende Spezies genetisch flexibel und ökologisch resilient (vgl. McDonald 1981, 227 ff., 248 ff., 262 f.)*****
Nicht dass wir hier einen Verdacht schüren wollen gegen Zahlenangaben aus dem alarmistischen Eck – oder vielmehr doch. Das beliebte Beispiel der durch invasive Arten angerichteten ‚Schäden‘ – handelt es sich dabei um vorgebliche (aus einer Situation in eine andere, nicht vergleichbare Situation hinein-extrapolierte) oder um tatsächliche Schäden? Ein Satz wie der folgende erscheint doch reichlich lapidar: „Der Schaden, den invasive Arten verursachen, hat sich seit den 1970er-Jahren jedes Jahrzehnt vervierfacht: Der Weltbiodiversitätsrat beziffert die Kosten auf gut 420 Milliarden US-Dollar“ (Link: Invasive Arten 2). Das gilt auch für den Report der Vereinten Nationen, welcher „zeigt, dass invasive Arten […] in 60 Prozent aller beobachteten Fälle […] in der Vergangenheit ein wichtiger Faktor gewesen sein sollen, wenn Pflanzen- oder Tierarten verschwunden sind“ (ebd.); ja, „sein sollen“ – möglicherweise. Möglicherweise aber auch nicht. Hier wird die Beweiskette nicht leicht zu schließen sein. Von den meisten Aussterbe- oder Ausrottungsereignissen kennt man gerade einmal das Faktum selbst. Und dass es stets die neuen, notabene ‚invasiven‘ Arten seien, die zu einer Biodiversitätkrise führen sollen (ebd.), ist nicht wahrscheinlicher als die umgekehrte Interpretation: Dass die Erfolge neuer Arten nicht Ursache sondern Ergebnis einer Krise sind. Zumal, wie es im Bericht ebenfalls heißt, diese Krise „durch Zerstörung natürlicher Lebensräume sowie Übernutzung durch Wilderei noch verschärft wird“ (Link: Invasive Arten 2).
Hier wollen wir innehalten. Niemand leugnet die Gefahren, die sich aus abrupten Änderungen des Biodiversitätsgefüges gerade auch für den Menschen ergeben – jüngstes Beispiel das neue, europäische Verbreitungsgebiet der Asiatischen Tigermücke,**** welche – jedenfalls in ihren tropisch-subtropischen Herkunftsgebieten – Krankheiten wie Denguefieber oder West-Nil-Fieber überträgt. Aber wer hat denn diese Änderungen des Biodiversitätsgefüges in erster Instanz herbeigeführt? Die Mücke wohl kaum – Umweltveränderungen, die tropisch-subtropischen Lebewesen ganze neue Biotope eröffnen, übersteigen die Kräfte selbst eines Dämons von Insekt. „Invasive Pflanzenarten wie die Ambrosia aus den USA, die sich mittlerweile in Europa ausgebreitet haben, produzieren nicht nur sehr viele und hochallergene Samen, sondern blühen spät und verlängern damit die Pollen-Saison für Allergiker bis in den Herbst hinein“ (Link: Invasive Arten 2) – aber gewiss doch, nur … es war nicht die Pflanze, die alles aus dem Weg geräumt und den Boden so degradiert hat, dass außer ihr selbst kaum noch etwas darauf gedeihen kann, geschweige denn die schon vorher verschwundenen ‚Autochthonen‘. Nicht die Pflanze, sondern …?
Kriegsmetaphern, Formeln und Formen von ‚Bekämpfung‘. Die von Ökologen, ja Naturschützern zuletzt immer häufiger und lauter gestellte Frage: „Wie lassen sich invasive Arten bekämpfen?“ könnte aus psychologischer Sicht auch auf Verdrängung deuten. Wenn der Krug in Scherben auf dem Boden liegt, tagt das Scherbengericht. Aber wer hat den Krug zerbrochen? „Aus Sicht der Autorinnen und Autoren des Reports sind die Gegenmaßnahmen, die bisher ergriffen werden, grundsätzlich ungenügend. Fast die Hälfte aller Länder unternimmt gar nichts gegen biologische Invasionen“ (Link: Invasive Arten 2). Gar nichts gegen die Invasionen? Sollte es nicht heißen ‚Gar nichts gegen die Ursachen der Invasionen?‘– – – Die hier zitierten Wissenschaftler „glauben aber, dass es möglich ist, bei der Bekämpfung invasiver, gebietsfremder Arten Fortschritte zu erzielen“ (ebd.). Aufmüpfige Frage, die Zweite: Wäre es nicht ihre vordringliche Aufgabe als Biologen, Umweltexperten und so weiter, sich Gedanken prinzipieller Natur zu machen? Statt den ungeschoren bleibenden tatsächlichen Verursachern der Misere nützliche Handlangerdienste zu leisten? Fragen eines denkenden Arbeiters, frei nach Bertold Brecht …
„Aber auch Ausrottung, Eindämmung und Kontrolle sind in bestimmten Situationen wirksam“ (ebd.). Sowie Machtspiele und Verbotspolitik: „Bei Arten, die als besonders invasiv gelten, müsse über Besitz- und Vermarktungsverbote nachgedacht werden, um der Verbreitung zuvorzukommen, [… und] wenn Ausrottung nicht mehr möglich ist, sind Management-Maßnahmen gefragt. Dann geht es darum, die Verbreitung zu kontrollieren. Das gelingt nicht immer […]. Jährlich wird ein großer Anteil an Waschbären**** […] geschossen, trotzdem bleibt der Bestand relativ stabil“ (Link: Invasive Arten 2). Genug zitiert. Durch Wiederholung des Alten lernt man nichts Neues.
Hören wir zum Schluss ein paar Stimmen der Vernunft und der Gelassenheit. „Heute kennt man über 37.000 Pflanzen-, Tier- und Mikrobenarten, die sich in der Fremde etabliert haben. Von ihnen sind laut dem Report mehr als 3.500 invasiv, das heißt, sie haben negative Auswirkungen auf Ökosysteme, auf die menschliche Gesundheit und die Nahrungsmittelversorgung. Die meisten Neuzugänge bereiten also keine Probleme, sondern finden im Laufe der Zeit ihre ökologische Nische und werden zum Bestandteil der einheimischen Vegetation“ (NABU – Naturschutzbund, Website, vgl. Link: Invasive Arten 2). Und noch deutlicher: „Ökosysteme, die nicht mehr intakt sind, machen es Neophyten – also gebietsfremden Pflanzen – allerdings leichter, sich anzusiedeln. Weitgehend intakte Biotope können sich hingegen vergleichsweise gut selbst regenerieren und beherbergen meistens weniger Neophyten“ (NABU, Website). Das klingt doch schon gleich ganz anders.
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Mensch:
** Kybernetik 2
Natur:
*** Invasive Arten 1
*** Invasive Arten 2
**** Tiere:
***** Literatur:
Komlosy 2023 = Andrea Komlosy: Freiheit von Wissenschaft und Sprache: Über das eisige Unverständnis zwischen den Lagern. Telepolis, Beitrag vom 12. November 2023.
Liedl 2024 = Gottfried Liedl: Der Mensch ist ein Beutegreifer. Unzeitgemäßes zur Ökologie. Ökologiegeschichte Online, Band 1. Wien 2024.
McDonald 1981 = Jerry N. McDonald: North American Bison. Their Classification and Evolution. Berkely – Los Angeles – London 1981.
Man wird mir vielleicht raten wollen, mit dem Schwelgen in Erinnerungen aufzuhören. Es sei naiv, so zu tun, als wären Zeiten des Aufbruchs und der guten Absichten – Zeiten utopischer Strömungen, die sich ‚Verbesserung‘ (möglicher Weise sogar der Welt) an die Fahnen hefteten – nicht schon immer auch zynische Zeiten gewesen. Hermann Hesse in Amerika?* Ein deutscher Spätromantiker und Wandervogel als Steppenwolf? Wiederentdeckt von einer Jugend mit ungewaschenen Füßen und langen Haaren, die irdische Paradiese für machbar hält? Nun – sentimental mag sie gewesen sein, die Aufbruchstimmung der schnellen Jahre einer jugendkultigen Umweltbewegung; zynisch war sie nicht. Also gut – noch nicht.
Wissen auf Rädern – The Whole Earth Truck Store. Der amerikanische Sachbuchautor Andrew Kirk (Counterculture Green) betont den praktisch-reformistischen Ursprung des Whole Earth Catalog. Er erinnert an den (man ist versucht zu sagen ‚amerikatypischen‘) Umstand, dass dem emblematischen Buch das emblematische Automobil vorausgegangen ist.
„Whole Earth Truck Store“ hieß das mobile Labor, ein Lastwagen der Marke Dodge, Baujahr 1963, mit der sich im ‚Revolutionsjahr‘ 1968 der damals 29-jährige Steward Brand und seine Frau Lois auf einen „Kommunal-Roadtrip“ begaben, „in der Absicht, zu den verschiedenen Bildungsmessen im Land zu reisen. Der Truck war nicht nur ein Geschäft, sondern auch eine alternative Leihbibliothek und ein mobiler Mikrobildungsdienst“ (Wikipediaeintrag).**** Selbst eine Art Hippie, verkaufte Brand seiner Peer Group praktische Utopie – seine Angebote nannte er tools, „Werkzeuge“ –, und sein Hauptangebot, sein „meistverkauftes Werkzeug war […] der von ihm kommentierte Katalog voll mit Werkzeugen, die nicht in seinen LKW passten“ (Kevin Kelly, Herausgeber späterer Ausgaben des Whole Earth Catalog: Wikipedia, ebd.).**** Wie man sieht, fällt nichts fertig vom Himmel, auch nicht ein genialer Katalog.
Der „Truck Store“ ließ sich schließlich in Menlo Park, Kalifornien, nieder. Dort entstanden „immer größere Versionen des Werkzeugkatalogs“ (Kevin Kelly). Und eines schönen Tages war sie dann selbst da, die Ausgabe # 1 des Whole Earth Catalog. An dieser Stelle halten wir inne, um den Blick auf das zu richten, was Truck Stores und Kataloge der geschilderten Art überhaupt erst möglich gemacht hat: die optimistische Geschichte einer Umweltbewegung in Kalifornien, die zu Steward Brands Zeiten schon ein dreiviertel Jahrhundert alt war. Begonnen hatte sie (wenn man denn unbedingt des symbolträchtigen Anfangs bedarf) mit der Gründung eines Vereins namens Sierra Club.
Der Sierra Club … Naturschutz als Gesellschaftsvertrag. Der Sierra Club ist die älteste und größte Naturschutzorganisation der Vereinigten Staaten. Er wurde am 28. Mai 1892 in San Francisco vom Naturschützer John Muir sowie einigen Professoren der University of California, Berkeley, und der Stanford University gegründet. Nach eigenen Angaben hat der Club heute etwa 2,4 Millionen Mitglieder in den USA und weitere 10.000 Mitglieder in Kanada.
„Zweck des Sierra Clubs sind Erkundung, Genuss und Schutz der wilden Orte der Erde; er möchte den verantwortlichen Umgang mit dem Ökosystem der Erde und den Ressourcen üben und fördern; er möchte die Menschheit dazu erziehen und dafür gewinnen, die Qualität der natürlichen und menschgemachten Umwelt zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen; und alle rechtmäßigen Mittel zur Realisierung dieser Ziele zu nutzen.“ Aus der Präambel des Gründungsdokuments.
In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens machte sich der Verein vor allem für die Schaffung von Nationalparks in den USA stark. Verdienstvoll war auch sein Kampf für den Schutz der Mammutbäume und die Verhinderung des Baus des Echo Park Dam im Dinosaur National Monument in Utah, und das zu einer Zeit (um 1950), als Umweltthemen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielten und technische Großprojekte überall begrüßt wurden. Seit den 1960er Jahren setzt sich der Club auch für die Einführung von Umweltstandards ein; Gesetze wie der United States Clean Air Act, der Toxic Substances Control Act oder der Surface Mining Control and Reclamation Act von 1977 verdanken ihre Existenz zu einem guten Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Sierra Club.
In Anlehnung an den berühmten Gesellschaftsvertrag der Aufklärung (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique) könnte man das Wirken des Sierra Club (und seiner Nachfolger im Geiste) als einen ‚anderen‘ Gesellschaftsvertrag, einen der Spätaufklärung und der Postmoderne bezeichnen, worin die Gesellschafter nicht nur einer einzigen Art (nämlich Homo sapiens) angehören.*** Einen solchen artüberschreitenden contrat social beförderten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch einzelne herausragende Persönlichkeiten der Intellektuellen- und Wissenschaftler-Szene; auch dies eine Bedingung der Möglichkeit, dass educational truck stores durch die Lande tingeln … Wir sind und bleiben beim Thema.
The good American: Wissenschaft. Everything is connected to everything else. Der US-amerikanische Biologe und Ökologe Barry Commoner, Autor mehrerer einflussreicher Sachbücher über Umweltschutz,** gilt als einer der führenden frühen Vertreter der modernen (nord)amerikanischen Umweltbewegung. So steht es im Netz.**** Als Professor für Biologie (Washington University, St. Louis, ab 1947), als Professor für Geo- und Umweltwissenschaften (ab 1981, Queens College, City University of New York) blieb Commoner schwerpunktmäßig Pflanzenphysiologe, aber mit untrüglichem Gespür für die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Gesellschaft. Im von ihm selbst gegründeten Center for the Biology of Natural Systems gab es die ersten umfassenden Forschungen zu Ökosystemen.
The good American: Aufklärung. Barry Commoner (auch das steht im Netz und ist somit nicht nichts sondern common sense) gilt als einer der Begründer der modernen amerikanischen Umweltbewegung, also jener zweiten Welle, jenes Relaunch um 1950, der sich durch eine revidierte Schwerpunktsetzung auszeichnete. Neue Gesichtspunkte waren etwa die Atomwaffentests: Commoner gründete 1959 das Greater St. Louis Citizens’ Committee for Nuclear Information, dessen Untersuchungen für die Atomlobby verheerend waren und wohl in John F. Kennedys neue Strategie mit eingeflossen sind (1963 Unterzeichnung des Moskauer Atomstoppabkommens). „Commoners Fähigkeit, Wissenschaft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie daran teilhaben zu lassen, trug wesentlich zum politischen Erfolg der Untersuchung bei.“ ****
Als Umweltwissenschaftler führte er ganzheitliche Sichtweisen in die Theoriebildung ein, was zu ganzheitlichen Verfahren führte, die er in der Forschung anwenden konnte. Dieser Holismus war ein absolutes Novum für die auf empiristisch-reduktionistische Methoden vertrauende Naturwissenschaft seiner Zeit.
Seine viel zitierten (weil auch witzigen) ökologischen Gesetze, erstmals veröffentlicht im Buch The Closing Circle von 1971, zwei Jahre später erschien die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Wachstumswahn und Umweltkrise“,** lauten: Erstens, „Alles steht mit allem in Verbindung“ (Everything is connected to everything else); zweitens, „Alles muss irgendwo bleiben“ (Everything must go somewhere, also: Glaubt nicht, irgend etwas unter den Teppich kehren zu können); drittens, „Die Natur weiß es besser“ (Nature knows best); viertens, „So etwas wie Gratismahlzeiten gibt es nicht“ (There is no such thing as a free lunch).
Barry Commoner war Gründer der Umweltpartei Citizens Party. Bei der Präsidentschaftswahl 1980 trat er als Kandidat für diese Partei an. Er erhielt knapp 0,3 % der abgegebenen Stimmen. Nun ja. Viel ist anders. Aber … Everything is connected to everything else. Da nach diesem Satz auch die Wenigen mit den Vielen verbunden sind, wäre das … ein Hoffnungsschimmer?
Everything is connected to everything else. An diesen Satz knüpfte der Whole Earth Catalog an. Besonders in pragmatischer Hinsicht. Der Katalog von 1968 gliederte sich in sieben große Abschnitte: Ganze Systeme verstehen; Behausung und Landnutzung; Industrie und Handwerk; Kommunikation; Gemeinschaft; Nomaden; Lernen. In jedem Abschnitt wurden die besten Werkzeuge und Bücher zusammen mit Bildern, Rezensionen, Anwendungen, Preisen und Lieferanten zusammengestellt und aufgelistet. Holistisch war auch die „Werkzeug“-Definition. Es gab informative Hilfsmittel wie Bücher, Karten, Fachzeitschriften, Kurse. Es gab Gartengeräte, Tischler- und Maurerwerkzeuge, Schweißgeräte, Kettensägen, Glasfasermaterialien, Zelte, Wanderschuhe und Töpferscheiben. Es gab sogar frühe Synthesizer und Computer.
Im aufgeschlagenen Zustand offenbarte der Katalog seinen hybriden Charakter: Links Textbuch, Lehrbuch, Enzyklopädie – rechts Marktplatz der Dinge und Waren. So konnte man beispielsweise auf der linken Seite Texte und Illustrationen aus Joseph Needhams Science and Civilization in China abgedruckt finden, mit einem astronomischen Glockenturm oder einer ausführlich kommentierten Kettenpumpen-Windmühle. Auf der rechten Seite präsentierte sich dann die Ware selbst – ein Fachbuch der modernen Technologie für Anfänger, inklusive Rezension. An anderer Stelle bespricht die Rückseite Bücher über Buchhaltung und Nebenjobs, während auf der Vorderseite ein Artikel steht, in dem Menschen die Geschichte einer von ihnen gegründeten Kreditgenossenschaft erzählen. Auf einem weiteren Seitenpaar werden verschiedene Kajaks, Schlauchboote und Hausboote dargestellt und besprochen.
Als Kind ihrer Zeit trat die Publikation alles andere als schüchtern auf. Mehr ist mehr oder Nicht kleckern, klotzen: „Die übergroßen Seiten hatten ein Format von 28 x 36 cm (11 x 14 Zoll). Spätere Ausgaben waren mehr als einen Zoll dick. […] Der sogenannte ‚Last Whole Earth Catalogue‘ (Juni 1971) gewann den ersten U.S. National Book Award in der Kategorie ‚Contemporary Affairs‘. Es war das erste Mal, dass ein Katalog eine solche Auszeichnung erhielt“ (Netzeintrag).****
Die Veröffentlichung des Katalogs fiel mit dem Höhepunkt einer alternativen Strömung, Geisteshaltung, Denkungsart zusammen, die man als eine Fusion von Experimentalismus mit Do-it-yourself-Allüren beschreiben könnte, und mit der die typische Gegenkultur – nicht nur die amerikanische – seit jeher verbunden ist. Angesprochen wurden also die Schwarmintelligenz des Movements, aber auch der einzelne Kreative, der alternativ lebende Outdoor-Mensch in seiner Landkommune. Wenig verwunderlich, dass der Whole Earth Catalog zum Vademecum einiger Kreativer wurde, die ein Ding entwickelten, das sich Drop City nannte.
Drop City, Mutter aller Landkommunen. Das digitale Gedächtnis hat in bündiger Form folgende Fakten, als der Überlieferung wert, in die Cloud gestellt: „Drop City war eine Künstler-Community der Gegenkultur, gegründet 1960 in der Nähe der Stadt Trinidad im Süden Colorados. Bekannt geworden als ‚erste ländliche Hippie-Kommune‘, wurde der Ort im Jahre 1979 wieder aufgegeben und verlassen.“ ****
Namen sind, entgegen landläufiger Meinung, keineswegs Schall und Rauch. Drop City liefert den vierfachen Beweis in Gestalt seiner Gründerväter und -mütter sowie deren Namen: Gene Bernofsky („Curly Benson“), JoAnn Bernofsky („Drop Lady“), Richard Kallweit („Larry Lard“) und Clark Richert („Clard Svenson“), allesamt Kunststudenten und Filmemacher der Universitäten Kansas und Colorado. Für das Projekt eines ‚lebenden‘, dynamischen Gesamtkunstwerks – besagte Drop Art (die von manchen auch shit, ‚Kot‘ genannt und in Happenings, ‚Ereignissen‘ à la John Cage, Robert Rauschenberg, Allan Kaprow oder Buckminster Fuller präsentiert wurde) – hatte man ein 7 Acres (28.000 m2) großes Stück Land gekauft. Dorthin pilgerte bald eine ansehnliche Schar interessierter Fans. Inspiriert von den architektonischen Ideen Buckminster Fullers und Steve Baers bauten die Bewohner aus geometrischen Platten, die sie aus Autodächern herausschnitten, sehr typische kuppelförmige Behausungen:

Wohnhaus in Drop City © Archive / Drop city
Der Höhepunkt des Ruhms von Drop City war das Joy Festival im Juni 1967, das Hunderte von Hippies anzog, von denen einige blieben. Zu den zahlreichen innovativen Unternehmungen, die aus Drop City hervorgingen, gehören – um nur drei zu nennen – ein frühes Solarenergieunternehmen, die Künstlergruppe Criss-Cross, die in den 1970er Jahren in New York und Colorado aktiv war, und in den frühen 1980er Jahren „die wichtige Entdeckung einer kubischen Fusion sich durchdringender fraktaler Tetraeder“ durch den Objektkünstler Richard Kallweit („Working with mathematical patterns“).****
Von Drop City selbst ist außer einigen Trümmern und Gebäuderesten nichts geblieben. 1979 war der Ort aufgegeben worden; die Mitglieder der gemeinnützigen Organisation, in deren Obhut das Projekt damals stand, hatten beschlossen, das Gelände an den Rancher von nebenan zu verkaufen. Die letzte der ikonischen Kuppeln wurde erst Ende der 1990er Jahre vom Besitzer einer LKW-Reparaturwerkstatt, die sich heute auf einem Teil des Geländes breitmacht, abgerissen. Sic transit gloria mundi.
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* Hermann Hesse in Amerika: „In den bewegten sechziger Jahren wurde das Werk [Der Steppenwolf] zum Kultbuch einer Generation, einem Buch, das junge Leser begeisterte […]. Die Wirkung hält seitdem unvermindert an, so dass Hesse auch mehr als 60 Jahre später aufgrund seiner ethisch-spirituellen Sichtweisen enorm populär ist. […] In den USA wurde der Steppenwolf in den 1960er Jahren als unmoralisch mehrfach aus Bibliotheken entfernt. In Colorado wurde dem Roman vorgeworfen, er propagiere Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen. Infolge dieser Umstände wurde eine neue umfangreiche Hesse-Rezeption während der 60er und 70er Jahre in Amerika und Deutschland ausgelöst“ (Wikipedia – oder Wie man es auch sagen kann).
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** Barry Commoner, Schriften (Auswahl):
- Science and Survival. Viking Press, New York 1966.
- The Closing Circle. Nature, Man, and Technology. New York 1971.
- Wachstumswahn und Umweltkrise. Einführung von Klaus Mehnert. Bertelsmann 1973, ISBN 3-570-04596-X.
- Energieeinsatz und Wirtschaftskrise. 1977, ISBN 3-499-14193-0 (englisch: The Poverty of Power: Energy and the Economic Crisis. New York 1976).
- Radikale Energiewirtschaft : konkrete Kursänderung in der Energiepolitik. 1980, ISBN 3-922594-04-2 (englisch: The Politics of Energy. New York 1979).
- Making Peace With the Planet. Pantheon Books, New York 1990, ISBN 0-394-56598-3.
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*** Kritische Nachbemerkung zum Sierra Club. Wie zum klassischen Gesellschaftsvertrag die Guillotine der Französischen Revolution mitgedacht gehört, so auch zur postmodernen Umweltbewegung ihre spezifische Versuchung, ihr typischer Sündenfall: Käuflichkeit. Im Jahr 2008 hat den Sierra Club der Fluch des Pragmatismus ereilt. In einem Abkommen mit dem Chemiekonzern Clorox (2004 von der Public Interest Research Group als einer aus dem „gefährlichen Dutzend“ von Chemiekonzernen bezeichnet) verpflichtete sich der Club, eine Reihe von Clorox-Produkten zu bewerben. Der Vertrag brachte dem Club Einkünfte in Höhe von 1,3 Millionen US-Dollar … Zwischen 2007 und 2010 nahm dann die Erdgas-Industrie den Platz der Chemieindustrie ein und spendete 25 Millionen US-Dollar. Größter ‚Unterstützer‘ war Chesapeake Energy, der seinen Rohstoff unter anderem mit dem besonders umweltschädlichen Fracking aus der Erde holt. Der für diese Verträge verantwortliche Vorsitzende des Sierra Club trat im November 2011 zurück.
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**** Links: Der Steppenwolf; The Whole Earth Catalog; Sierra Club; Barry Commoner; Drop City; Richard Kallweit; Mathematical Patterns
All the leaves are brown (all the leaves are brown) / and the sky is gray (and the sky is gray) / I've been for a walk (I've been for a walk) / On a winter's day (on a winter's day) / I'd be safe and warm (I'd be safe and warm) / If I was in L.A. (if I was in L.A.) / California dreamin' (California dreamin') / On such a winter's day (The Mamas and the Papas, 1965)
Als ich mich als grüner Junge, unreif und naiv, mit einer mir heute mythisch vorkommenden Verve aufs Abenteuer der Neuen Welt einließ (in der sympathischen, nämlich kanadischen Variante) und studierend, Überland-Transporte begleitend, Seniorenheimen als Mädchen für alles dienend, Bauarbeitern zur Hand gehend und im Dienst der lokalen Naturschutzbehörde auf einsamen Hochständen den Horizont nach Rauchsäulen absuchend das weite Land meiner Sehnsüchte und Träume erkundete, fiel mir eines Tages das seltsamste Buch in die Hände, das mir bis dahin untergekommen war – und heute kann ich sagen, dass es tatsächlich das seltsamste Buch ist, das einem wie mir unterkommen konnte.
Der schöne Name des Wälzers: The Whole Earth Catalog. Großformatig und asketisch, mit seinem rauen Papier und groben Druck irgendwie archaisch, auf jeden Fall aus der Zeit gefallen wirkend, war es ganz im Gegenteil das Zeitdokument schlechthin. Die folgenden Zeilen sind diesem Dokument, seinen Meisterdenkern und Followern gewidmet.
„Stay hungry. Stay foolish“: The Whole Earth Catalog. Am 1. September 1968 erschien die erste Nummer gleich mit einem optischen Paukenschlag („optischer Paukenschlag“, eine zugegebener Maßen schräge Metapher, doch einem zugegebener Maßen schrägen Produkt wohl angemessen): Die erste Nummer des Whole Earth Catalog zeigte auf ihrem Cover das aus dem Weltall aufgenommene Farbbild der Erde, ein digitales Bildmosaik, das 1967 als eines der ersten realen Abbilder des Blauen Planeten vom Satelliten ATS-3 aufgenommen worden war.

The Whole Earth Catalog # 1 (1968) © Wikipedia
Wie wir lesen, „war der Whole Earth Catalog (WEC) ein Magazin der amerikanischen Gegenkultur und ein Produktkatalog, der zwischen 1968 und 1972 mehrmals im Jahr und danach gelegentlich bis 1998 von Stewart Brand herausgegeben wurde. Das Magazin enthielt Essays und Artikel, konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf Produktrezensionen. Der redaktionelle Schwerpunkt lag auf den Themen Selbstversorgung, Ökologie, alternative Bildung, ‚Do it yourself‘ (DIY) und Ganzheitlichkeit und stand unter dem Motto ‚Zugang zu Werkzeugen‘.“ * Lange nach Erscheinen der letzten Nummer verglich ein gewisser Steve Jobs in seiner Eröffnungsrede an der Stanford University im Juni 2005 den Whole Earth Catalog mit der Internetsuchmaschine Google: Als ich jung war, gab es eine erstaunliche Publikation namens „The Whole Earth Catalog“, die eine der Bibeln meiner Generation war … Es war so etwas wie Google in Taschenbuchform, 35 Jahre bevor Google auf den Markt kam. Es war idealistisch und voller toller Werkzeuge und toller Ideen. – Soviel zum Thema Geschichtsmächtigeit gewisser Dinge und Erscheinungen. Am Schluss seiner Stanford-Rede zitiert Jobs die Abschiedsbotschaft auf der Rückseite der letzten Ausgabe des Katalogs von 1974 („Whole Earth Epilog“): Stay hungry. Stay foolish. Was war da passiert? Welche geheimnisvolle Verbindung von Zukunftsgläubigkeit, Kritik am Technizismus und Technologiebejahung, von Pragmatik und Utopie hatte sich da auf grobem Papier zu Wort gemeldet? Oder sollte man besser sagen gezeigt? Wieder einmal geht es – pure and simply – um Geschichte.
Ursprung und Ideale einer Bewegung. 1965 erfand der US-amerikanische Dichter Allen Ginsberg ein Wort, das die kulturelle, politische, soziale, psychische und philosophische Befindlichkeit einer ganzen Generation, einer weltweiten Bewegung prägen sollte – einen jener seltenen Schlachtrufe in der an Schlachtrufen so reichen Menschheitsgeschichte, die gerade nicht zum Kampf aufrufen (oder doch?). Allen Ginsbergs Schlagwort Flower-Power bündelte die Ideen eines humaneren und friedlicheren Lebens des modernen Individuums zur zeitlosen Vorstellung einer Versöhnung von Mensch und Mensch, Mensch und Natur. Ginsbergs „Blumenmacht“ wurde zum Synonym der Hippiebewegung.
„If you’re going to San Francisco …“ ** Die von San Francisco ausgehende Hippiebewegung „stellte die ihrer Meinung nach sinnentleerten Wohlstandsideale der Mittelschicht in Frage und propagierte eine von Zwängen und bürgerlichen Tabus befreite Lebensvorstellung. Im Vergleich zur 68er-Bewegung […] dominierten dabei stärker gemeinschaftliche (Selbstverwirklichung) als gesellschaftspolitische Konzepte, teilweise überschnitten sich die Ideale der Bewegungen.“ *
‚Hip‘, angesagt war für das flower child der 1960er und frühen 1970er Jahre die Gegenkultur einer Jugendbewegung, die sich naturverbunden und konsumkritisch auf den Weg gemacht hatte in eine friedlichere und humane Welt, und zwar, wie sie meinte, befreit und frei von den zeitgenössischen Lebens- und Moralvorstellungen. Da schloss sich ein Kreis: Denn diese Ideale wurden in neuartigen Gemeinschaften umgesetzt. Man kann das Eskapismus nennen. Zumal sich die Dinge sehr oft in ländlichen Gemeinschaften, rural communities abspielten, wo sich besagte Ideale, wie es schien, leichter umsetzen ließen. Eine eigenartig elitäre Stadtflucht war das, diametral entgegengesetzt dem säkularen Trend der Massen. ***
Ist die Geschichte dialektisch? Manche sagen ja. Den Niedergang der Hippiebewegung besiegelte ihre Kommerzialisierung in Mode und Popkultur. Apolitisch im Sinne des tagespolitischen Engagements, wie sich die Mehrheit ihrer Adepten verstand, war man gegen die Verführungen des eigenen Mythos wehrlos. „[Es] handelt sich […] um ein Übergangsphänomen von den rationalistischen Fortschrittserzählungen der Moderne (darunter auch 68er-Bewegung und Sozialismus) hin zur Neomystik der Postmoderne“ (Link: Hippiebewegung).* Von historischer Logik geprägt sind denn auch die ‚Fortsetzungserzählungen‘ des Hippietums. Die Punks (etwa seit 1977), aber auch deren Antagonisten, die hedonistisch-erfolgsorientierten Yuppies (eine neue Generation fröhlicher Kapitalisten seit den 1980ern) ziehen eine scharfe Grenze zum Innerlichkeitsdenken, zur aufgesetzten Sanftheit der Blumenkinder. Aber auch zu deren Naturliebe. Die empfanden sie als verlogen. Was durchaus nicht folgenlos blieb für die weitere Entwicklung der Umweltbewegung.
Erben der Blumenkinder? Historiker, Historikerinnen zeigen eine ausgeprägte Abneigung gegen zu kurz gezogene genealogische Linien. Den Zeithorizont so tief wie möglich anzusetzen, ist ihnen oberstes Gebot und Ausdruck intellektueller Redlichkeit. Ein Phänomen wie die Umweltbewegung datiert der Historiker Joachim Radkau denn auch nicht etwa in die hoch- und spätfordistische Ära des US-Kapitalismus – die Blütezeit der Blumenkinder, Indienfahrer und Landkommunarden –, sondern verfolgt es weit in die Vergangenheit, beispielsweise bis in die Zeit um 1800, als in Europa eine große Debatte rund um verwüstete, ausgeplünderte Wälder – Stichwort Holznot – den Diskurs der tonangebenden Denker und Macher befeuerte. „Die Ängste vor der Holznot, einer Versorgungskrise beim Rohstoff Holz, kamen parallel zum ‚Naturkult‘ der Wald-Romantik zu Zeiten der Aufklärung auf. In der Folge wurden der deutschsprachige Raum zum Vorreiter der Aufforstung und Japan zum Pionier einer nachhaltigen Forstwirtschaft“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).* Von den USA war in dieser Hinsicht noch lange nichts zu hören. Erste Korrektur.
Die zweite Korrektur betrifft das ideologische Moment. Eine philosophische, soziale und politische Bewegung wie die ökologische fällt nicht vom Himmel und hat ihre Wurzeln in einer Vielzahl einander nicht selten diametral entgegenstehender Erzählungen und Überzeugungen. Einzige aber wichtige Schnittstelle ist der Wille zur Neugestaltung der Verhältnisse zwischen Mensch und Natur. Phänomenologisch (also vom gegenwärtigen Zustand aus betrachtet) reicht die Spannweite dieses Willens zur Neugestaltung von weit Rechts bis weit Links, „von Unternehmen bis zu Graswurzelbewegungen […]. Aufgrund ihrer großen Mitgliederzahl, ihrer unterschiedlichen und starken Überzeugungen und ihres gelegentlich spekulativen Charakters ist sich die Umweltbewegung in ihren Zielen nicht immer einig. Die Bewegung umfasst auch einige andere Bewegungen mit einem spezifischeren Fokus, wie z. B. die Klimabewegung. Im weitesten Sinne umfasst die Bewegung Privatpersonen, Fachleute, religiöse Anhänger, Politiker, Wissenschaftler, gemeinnützige Organisationen und einzelne Befürworter“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).* Wenn es erst einmal auf Wikipedia steht, haben es die Spatzen längst von allen Dächern gepfiffen.
Die lange Genealogie des Umweltschutzes. Nach Radkau leidet die Umweltbewegung an Geschichtsblindheit. An ausgeprägtem Desinteresse für die historisch-kulturellen Wurzeln des Phänomens, als deren einzig wahre Vertreter die jeweiligen Akteure gesehen werden möchten. So ist ein großer Teil der heutigen europäischen Umweltszene der Ansicht, sich auf die amerikanische Naturschutzbewegung des 19. Jahrhunderts zurückführen zu sollen, obwohl die genuin europäischen Wurzeln ökologischer Sensibilität, vermittelt über die Jagd- und Forstwirtschaft, bis weit in die Frühe Neuzeit, ja bis ins Mittelalter hinabreichen. Soviel zum Thema falsche Bescheidenheit.
Was die Zeitgeschichte betrifft, so ist auch der moderne Relaunch des Natur- und Umweltschutzes, seine Internationalisierung und Einbettung in Weltpolitik ein europäisches Ereignis. „Das Europäische Naturschutzjahr 1970, die erste europaweite Umweltkampagne mit über 200.000 Aktionen, gilt als Geburtsjahr der modernen Umweltbewegung. 1971 [wurde …] ein internationaler Zusammenschluss von Umweltschutzorganisationen gegründet, die Friends of the Earth: 2011 mit über zwei Millionen Mitgliedern und Unterstützern in 76 Ländern vertreten.“ *
Und auch dieser ‚Relaunch‘, diese Wiederaufnahme steht nicht isoliert da, sondern zieht ihre Geschichtsmächtigkeit aus einer langen und verästelten Vorgeschichte, von der jener ‚mitteleuropäische Weg‘ (grosso modo die Traditionen im deutschsprachigen Raum) selbst wieder nur ein einzelner Aspekt ist.****
Langer Abschied von den Blumenkindern (In deutschen Landen). Aus dem Vergessen, Vergessenwollen ihrer romantisch-nationalistischen Anfänge heraus suchte die Umweltbewegung in Deutschland eine neue Startposition. Dafür bot sich – als einer der vielen Seitenzweige der Studentenrevolte – die Politische Ökonomie an. Gleich der arbeitenden Menschheit sei auch die Natur durch die industrielle Wirtschaftsweise bedroht. Stoßrichtungen waren Atomwirtschaft und Chemiepolitik, Waldsterben und Tropenwaldvernichtung sowie die Gefährdung der Erdatmosphäre (Stichwort Ozonloch; CO2 war in den 1980er Jahren noch nicht auf dem Radar). Für die DDR-Umweltbewegung bestand das Politische in Sozialismuskritik. Umweltprobleme nannte die politische Klasse „Überbleibsel des Kapitalismus“ und machte Ökologie zum Tabuthema.
Die wichtigsten kulturellen Formen dieser Bewegung bezogen ihre Legitimation jetzt nicht mehr aus der sozial, ethisch, religiös-philosophisch oder naturalistisch unterfütterten Empathie für Natur als die große Andere sondern aus dem Pathos, das eine neue Leitwissenschaft zu erlauben schien – die Ökologie (auch als Politische Ökologie). „Indem das Wort ‚Ökologie‘ […] Eingang in die tägliche Umgangssprache fand, veränderte sich seine Bedeutung. Die zunächst neutrale ökologische Wissenschaft wurde positiv besetzt, sodass ‚ökologisch‘ gleichbedeutend wurde mit ‚umweltverträglich, sauber, rücksichtsvoll, biologisch abbaubar, unbedenklich‘ etc.“*
Doch verschlungen sind die Wege der Historie. Die, wie der Netzeintrag sie nennt, „subkulturellen Formen“, schlugen sich „in einem ‚alternativen Lebensstil‘ nieder […, der] sich in den ausgehenden 1970er-Jahren zunehmend ausdifferenzierte. Besonders deutlich war die Abgrenzung zur zeitgleichen Discoszene und zu den Poppern. Die Ökoszene entwickelte eine charakteristische Ästhetik, die sich aus der Hippie-Ästhetik entwickelte …“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).*
Da sind wir wieder. Und nein. Ich habe auf das zentrale Anliegen dieser Untersuchung nicht vergessen: Einem der seltsamsten Bücher meiner Jugendzeit ‚kanadischen Angedenkens‘ ein Plätzchen frei zu machen in der Geschichte des Umweltschutzes, wie sie sich mir heute darstellt. Makro- und Mikrogeschichte sind verzahnt, ein Buch ist verzahnt mit einer Bewegung und diese mit Ambitionen und Affekten – und alles von weit hergekommen auf ziemlich verschlungenen Wegen, die dem Anschein nach oder auch tatsächlich mit einer sogenannten Nationalgeschichte (hier: the American way) verbunden sind, was man aber nur im Nachhinein so wohlfeil sagen und behaupten kann.
Thoreau, Emerson, Muir. Drei Väter der amerikanischen Umweltbewegung. Keine Ökologiegeschichte der USA kommt an den Schutzheiligen jenes weiten Feldes mit den undeutlichen Grenzen vorbei, das der amerikanische Mythos als wilderness bezeichnet. Ohne sie wäre das Heroische und Transzendentale an besagter Wildnis wohl nie entdeckt worden; ohne sie hätte es besagte Wildnis schwerlich zum Core value, zum innersten Kern amerikanischer Robustheit, Ursprünglichkeit und Identität gebracht. Denn entgegen einem anderen Mythos waren es gerade nicht die Eroberer des Westens, die dem politisch-kulturellen Begriff ‚Großartigkeit‘ – und logischer Weise kann das nur die Großartigkeit eines Raumes, Großartigkeit von Landschaft und Natur sein – seine naturrechtliche Würde, Unangreifbarkeit und identitätsstiftende Wirkung gaben, sondern Männer der Feder, des Wortes und der Kontemplation von der Ostküste.
Am 4. Juli 1845, dem Amerikanischen Unabhängigkeitstag, bezog Thoreau seine selbstgebaute Blockhütte, Walden Hut, auf seines Freundes Emerson abgelegenem Grundstück in der Nähe von Concord, Massachusetts. In seinem Werk Walden. Or Life in the Woods beschrieb er sein einfaches Leben am See und dessen Natur und setzte diese Erfahrung in Kontrast zu den großen gesellschaftspolitischen Themen.
Aus einer Schilderung seines Freundes Ralph Waldo Emerson: „Er führte ein Leben voller Entsagungen wie nur wenige Menschen. Er hatte keinen Beruf erlernt und lebte allein. Von einem schönen Haus, Kleidung, Sitten und Gesprächen kultivierter Menschen hielt er nichts. Er traf sich lieber mit einem ‚guten Indianer‘. [… Auch] zu jungen Menschen fühlte er sich hingezogen. Ebenso zu Bauern, die sein praktisches Wissen schätzten. […] Sein Wissen über die Geheimnisse der Natur und ihre Zusammenhänge war umfassend. […] Er liebte die Natur so sehr, war so glücklich in ihrer Einsamkeit, dass er Städte mit Argwohn betrachtete und [… als Orte ansah, wo Luxus und dessen Verlockungen] den Menschen und seine Umwelt zugrunde richten“ (Link: Henry David Thoreau).* Nachsatz: Thoreau war wie sein Freund Emerson geschworener Feind der Sklaverei.
Die Rezeption seiner Werke erfolgte langsam, aber mit Nachdruck. „Naturschützer und Ökologen waren begeistert von seinen Tiraden gegen materialistisches Profitdenken. Verfechter politischer Emanzipation, von Mahatma Gandhi bis zu den linken Studenten von 1968, erklärten ihn zum Vorbild. Heute ist Thoreau zu einer Art US-amerikanischer Konsensfigur geworden, die zwar meist in linken Kreisen, aber durchaus auch von als eher konservativ geltenden Denkern gern zitiert wird“ (Link: Henry David Thoreau).*
Auch Ralph Waldo Emerson hat Zeit seines Lebens die Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung und geistigen Selbstbestimmung der amerikanischen Kultur und Lebensart betont. Auf einer Europareise hatte er den deutschen Idealismus entdeckt und sich mit indischer Philosophie vertraut gemacht, wovon sein späteres Werk deutlich geprägt ist. Schon in seinem ersten Buch, Nature (veröffentlicht 1836), kommt das Kernthema seines religiösen Naturalismus zum Ausdruck: Menschen sollten auf einfache Art und Weise im Einklang mit der Natur leben. Natur aber nicht als solche oder an und für sich genommen, sondern strikt menschbezogen, genauer: aufs Individuum bezogen. Natur als Quelle der Selbstbestimmung – der amerikanische Freiheitsbegriff. „Build, therefore, your own world“ lautet der Schlusssatz jenes Buchs, mit dem er die Bühne der Öffentlichkeit betrat (Emerson, Nature).
„If you’re going to San Francisco …“ Der Dritte und Jüngste im Bunde, John Muir, ist der am meisten Praxisbezogene. Ein großer Reisender und Aktivist, Kenner, Bewunderer und Propagandist des Amerikanischen Westens, betätigte er sich, wie es im Netzeintrag heißt, „als Naturalist, Entdecker, Schriftsteller, Erfinder, Ingenieur und Geologe“ (Link: John Muir).* Als wertschätzender Kenner der heroischen amerikanischen Landschaften wurde er „vom Naturforscher mehr und mehr zum Naturschützer […] und nahm dabei viele der Ideen der heutigen Öko- und Tierrechtsbewegung vorweg. Er war Mitbegründer des Sierra Clubs, der ältesten und größten Naturschutzorganisation in den Vereinigten Staaten“ (ebd.).
Vielleicht versteht man den offensichtlichen, ganz umweglosen Einfluss John Muirs auf die nachgeborenen Generationen der Hippies bis hin zu Amerikas Umweltbewegungen besser – die Faszination, die er auf diese Bewegungen noch heute ausübt –, wenn man sich eine Schilderung seines Lebens im Yosemite-Tal zu Gemüte führt und die Emphase beachtet, die in der anonymen digitalen Rede des Netzeintrags unüberhörbar mitschwingt:
„Am 2. März 1868 erreichte John Muir San Francisco. Er war mit dem Dampfschiff von New York angereist. Er war jetzt 30 Jahre alt und wollte unbedingt ins Yosemite-Gebiet. Im Gegensatz zum typischen Reisenden von damals, der die Fähre von San Francisco nach Stockton, dann eine Postkutsche nach Coulterville bestieg und von hier ein Pferd nahm, machte Muir den Weg zu Fuß. Er nahm die Fähre nach Oakland und wanderte durch das Santa Clara Tal, über den Pachero Pass, durchquerte das San Joaquin Tal nach Snelling, aufwärts zu den Ausläufern des Gebirges durch Coulterville, Mariposa County, und erreichte das Yosemite Tal um den 22. Mai 1868. Er war überwältigt von der Schönheit der Natur, den Bergen und Seen. Hier würde er die nächsten zehn Jahre verbringen und jedes Gebiet erkunden“ (Netzeintrag John Muir).*
Auch über seine eminente, identitätsstiftende Langzeitwirkung auf den naturalistischen Geist der amerikanischen Gesellschaft informiert uns der digitale Anonymus. „Mit seinen Schriften wurde er zu einem der Pioniere der Naturphilosophie und der philosophischen Begründung des Naturschutzes. 1871 prägte er den Begriff interpretation, ‚Übersetzung‘ für den Umgang des Menschen mit der Natur. Das Konzept der Natur- und Kulturinterpretation, das der Informations- und Bildungsarbeit aller Nationalparks in den USA zugrunde liegt, erinnert noch heute daran.“ Was zu beweisen war.
Nachbemerkung: 1892 gründeten John Muir und Mitstreiter den Sierra Club, eine der ersten Naturschutzorganisationen modernen Zuschnitts und bis heute eine der größten und einflussreichsten Umweltorganisationen Nordamerikas. Mit Nachdruck setzte er sich dafür ein, Wälder und andere öffentliche Flächen des amerikanischen Westens ganz aus der Nutzung zu nehmen, wobei er auch vor Kontroversen mit der Forstwirtschaft, etwa mit dem Gründer des United States Forest Service, Gifford Pinchot, nicht zurückschreckte. Der Debatte entstammen wichtige ökologische Fachbegriffe wie ‚Conservation‘ für nachhaltige Nutzung und ‚Preservation‘ für den Nutzungsverzicht. Der Vater der Nationalparks, Wildnisprophet und Bürger des Universums (Beinamen, die ihm die amerikanische Öffentlichkeit verlieh) verbrachte seinen Lebensabend hochgeehrt in Los Angeles, wo er am 24. Dezember 1914 starb. Seit 1989 begeht der Bundesstaat Kalifornien jährlich am 21. April den John Muir Day, an dem besonders an Schulen seiner Werke und seines Wirkens gedacht wird.
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* Links: The Whole Earth Catalog; Hippiebewegung; Geschichte der Umweltbewegung; Henry David Thoreau; Ralph Waldo Emerson; John Muir
Anmerkungen:
** If you’re going to San Francisco … Das von John Phillips geschriebene und von Scott McKenzie gesungene Lied (veröffentlicht im Mai 1967) wird als die inoffizielle Hymne der Gegenkulturbewegung der 1960er Jahre, einschließlich der Hippie-, Anti-Vietnamkriegs- und Flower-Power-Bewegungen bezeichnet. Das Lied gilt neben „All You Need Is Love“ (The Beatles) als prägendes Lied des Summer of Love.
*** Soziologisch betrachtet, bestanden die Hippies im Wesentlichen aus westeuropäischen und nordamerikanischen Mittelstandskindern, überwiegend unter 30 Jahren, aus Auswanderern und Aussteigern, Lebenskünstlern und Bohémiens, Studenten, Arbeitsverweigerern, Fahnenflüchtigen und Drogenkonsumenten. Bands wie Grateful Dead, The Beatles, The Rolling Stones, The Who, Santana, Musiker wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Melanie und Jim Morrison, Künstler wie Robert Crumb, Schauspieler wie Peter Fonda und Arlo Guthrie sowie Aktivisten wie Ken Kesey und Allen Ginsberg zeigen unterschiedliche Facetten der pluralen, heterogenen Hippie-Bewegung. Oftmals stellten Hippies eine Bohème dar, wie in den Vierteln Haight-Ashbury in San Francisco und Greenwich Village in New York, wo sie als Subkultur Orte des Undergrounds schufen. (Zitat: Wikipedia)
**** Moderne Umweltschutz- und Naturschutzgeschichte im deutschsprachigen Raum (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
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Wir sind die Krone der Schöpfung
Na, dann is‘ ja gut
Nach uns die Sintflut, nach uns die Sintflut
Seid auf der Hut
Wir sind die Krone der Schöpfung (Die Prinzen)
Gorilla & Co. haben einfach das Pech, in einer Welt zu leben, die ihnen nicht gehört. Als mehr oder weniger geduldeten Untermietern der Menschheit überreicht ihnen jetzt der Gerichtsvollzieher den Räumungsbescheid: „Der Wohnungsbesitzer hat Eigenbedarf angemeldet.“
Als Pendant dazu gab‘s eine Lesung. Eine immerhin mit dem Wissenschaftsbuchpreis ausgezeichnete Autorin* stellte in einer renommierten Wiener Buchhandlung ihr neuestes Buch** vor und berichtete über Ergebnisse auf dem Gebiet der Elefantenforschung. Um es kurz zu machen – das Interesse an Loxodonta africana und Elephas maximus, beide Gattungen in großer Gefahr, von unserem Planeten auf immer zu verschwinden, hielt sich in Grenzen … Mehr noch: in der sehr überschaubaren Schar der Anwesenden war die Vortragende mit ihren 47 Jahren die eindeutig Jüngste im Raum, den Altersschnitt der Runde würde man mit 70 Jahren sicher nicht überschätzt haben.
Kein Schwein interessiert sich für Elefanten. Es mag ja sein, dass für ‚die Menschheit‘ und in der so oft bemühten ‚(Kultur-) Geschichte der Menschheit‘ der Elefant ein emblematisches Tier ist. Für jene sehr konkrete Masse, gebildet aus mehr als acht Milliarden Individuen, die heute den Planeten bevölkern, ist er es ganz sicher nicht. Den meisten Erdenbürgern der Spezies Homo sapiens sind die anderen Arten – mit Ausnahme ihrer Eignung, von Homo sapiens verspeist oder sonstwie genutzt werden zu können – volkstümlich gesprochen wurscht (schnuppe, schnurz, piepegal, wayne … you name it). Die Aussage, dass der Elefant „bester Freund, Partner, Forschungssubjekt, Arbeitsgerät, Geldquelle oder Feind […] für einen Menschen sein [kann]“ (Stöger 2023, Seite 16), ist nur unter der Einschränkung wahr, dass es sich bei besagtem 'Menschen' um das Individuum einer Teilmenge handelt, die so klein ist, dass man sie mit der Lupe suchen muss. Nähe zur Natur, Verständnis für Natur oder gar Naturschutz waren stets und sind heute mehr denn je ein Minderheitenprogramm (BLOG # 20: Kaum Chancen für Mutter Erde).
Was Natur den Vielen bedeutet. Wenn der wackere Nachfahre Adams, die typische Evatochter egal wo immer auf diesem Planeten Natur interessant, nett, toll, wichtig oder sympathisch findet, liegt der Skeptiker, die stringent Denkende sicher nicht falsch mit der Vermutung, dass es sich bei solch positiver Einstellung zur Natur um ein höchst interessegeleitetes Verhalten handle. ‚Natur‘ ist dort, wo sie nicht Objekt unlustbehafteter Tätigkeit, vulgo Arbeit ist – also im Idealfall –, Sportgerät oder Kulisse: wandernd, Berge erklimmend beziehungsweise von den Gipfeln derselben per Mountainbike, Snowboard oder Ski zu Tale eilend, ist der aktive, um nicht zu sagen hyperaktive Mensch ganz bei sich; auch dem Einfamilienhausbesitzer sind Wald und Wiese nur Kulisse. Und dann ist da noch jenes kleine Segment der Hominiden, welche die Natur in Besitz genommen haben: als Quelle eines meist nicht unerheblichen, wiewohl prekären Reichtums. Und die Anderen, die Wenigen? Sie mögen sich auf den Kopf stellen, an Brückengeländer ketten oder auf die Straße kleben: die Herzen der Vielen gewinnen sie nicht.
Gedanken zum Tod der Umweltschutzbewegung. Man kann es auch übertreiben. An einem bestimmten Punkt führt der Appell, gut zu sein, zum Überdruss am Guten. Dreimal täglich Wienerschnitzel, siebenmal die Woche, ist wahrscheinlich eine äußerst probate Methode, Fleischfresser zu Veganern zu machen. Romantischer Überschwang in der Wertschätzung egal welcher Sache führt bei den Wertschätzenden selbst in der Regel zu Messianismus und bei den Missionierten zum Nein, danke-Syndrom. „Die Natur wird’s schon richten. Lass‘ sie nur machen … und mich in Ruhe.“ Vielleicht ist es ja nicht nur logisch sondern auch vernünftig, dass die Vielen dem Trägheitsmoment huldigen und so das Schwungrad des Eiferers bremsen. Dass die Chronik, die das Erinnerungswürdige für die Vielen aufbewahrt, in Bezug auf Missionare und Eiferer eher zum Schweigen tendiert, ist so betrachtet kein Wunder. Obwohl sicherlich kein unumstößliches Naturgesetz, ist auf dem Felde der Geschichte der Widerwille der Chronisten, dem Extremismus ein Gedächtnis zu geben, nützlich, sozial bekömmlich und daher in Ordnung.
Nachsatz: Weniger sozial Bekömmliches (Stichwort: Gier) ist unlängst von der Umweltsprecherin einer österreichischen Partei im Parlament angesprochen worden. Rohstoffverbrauch & Bodenverbrauch, in der Alpenrepublik ohnehin schon weit über EU-Durchschnitt liegend, will einfach nicht geringer werden. „Weil es um ein riesiges Wirtschaftsgut geht, an dem alle auch immer gut verdient haben.“ Der Clou liegt im Wörtchen ‚Alle‘. Der Begriff bedeutet hier die Gesamtheit einer Minderheit, die glaubwürdig und überzeugend (Stichwort: Reichtum) den Vielen zeigt und sagt, wo‘s lang geht.
Worüber die Chronik dennoch nicht schweigen sollte. „Jetzt erst recht.“ Manchmal trifft das Gift auf Gegengift. Zwar nur in kleinen Dosen, aber immerhin. Exkurs über drei Maßnahmen gegen die Trägheit des Herzens.
Maßnahme eins betrifft die Schwerkraft der Zeit: Man trachtet danach, Verschwindendes am Verschwinden zu hindern („aufgehaltenes Schwinden“). „Auf dem afrikanischen Kontinent sind erstmals seit einem Jahrzehnt mehr Nashörner als im Vorjahr festgestellt worden. Wie die Weltnaturschutzunion (IUCN) bekannt gab, lebten Ende 2022 fast 23.300 Nashörner in Afrika – und damit 5,2 Prozent mehr als noch 2021. Demnach stieg sowohl die Zahl der Breitmaulnashörner als auch die der Spitzmaulnashörner wieder an. Michael Knight, Wildtierforscher und Leiter der IUCN-Expertengruppe für Nashörner in Afrika, sprach von einer ‚guten Nachricht‘, dank der die Organisation ‚zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder aufatmen‘ könne“ (Richard Klug, ARD Johannesburg).***
„Wieder aufatmen“ könnte nach dieser Lesart auch der Amazonas-Regenwald, sofern Maßnahme Nummer zwei hält, was sie zu versprechen scheint: „Es gibt Dinge, die wir loslassen müssen, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Brasilien eine Agrarmacht ist, weil es große für die Landwirtschaft geeignete Gebiete besitze und der Wald in Ackerland umgewandelt werden könne. Diese Idee muss aufgegeben werden. Null Entwaldung impliziert wirtschaftliche Aktivität nur in Gebieten, die legal genutzt werden können. Wir können nicht weiter nur vom Rohstoffboom leben – auch diese Idee muss aufgegeben werden“ (Marina Silva, brasilianische Umweltministerin in einem Interview mit Bloomberg Green: Bloomberg Green, Newsletter vom 15. September 2023).
Die Umwandlung politischer Theorie in umweltpolitische Praxis zeigt die dritte hier vorzustellende Maßnahme; im Mittelpunkt steht wieder der Amazonas-Regenwald mit dessen autochthonen Bewohnern als ‚Wächtern des Waldes‘: „Der Einsatz hochtechnologischer Überwachungsinstrumente [Drohnen] in einem der tiefsten Winkel des Amazonas-Regenwaldes [Ecuadors] zeigt, wie fortschrittliche Technik genutzt werden kann, um Abholzung und andere illegale Aktivitäten, welche die Ökosysteme schädigen, zu verhindern. Zugleich ist das ein Beitrag zum Schutz traditioneller Lebensweisen. […] In Ecuador besitzen indigene Gemeinschaften Landrechte an großen Teilen des Amazonasgebiets, das die östliche Hälfte des Landes ausmacht“ (Drohnen für den Amazonas: Bloomberg Green, Newsletter vom 22. September 2023).
Wohl wahr, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
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* Angela Stöger ist eine österreichische Ethologin, Kognitionsbiologin, Expertin für Bioakustik und Lautkommunikation mit dem Schwerpunkt Elefantenforschung. Sie arbeitet am Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Mammal Communication Lab der Universität Wien.
** Stöger 2023 = Angela Stöger: Elefanten. Ihre Weisheit, ihre Sprache und ihr soziales Miteinander. In Zusammenarbeit mit Patricia McAllister-Käfer. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2023
*** Richard Klug, ARD Johannesburg, Tagesschau, 22.09.2023, 20:00 Uhr: Über das aufgehaltene Verschwinden der Nashörner
Das war ja zu erwarten gewesen. Wegen „Bagatellisierung des Artensterbens“ – so ein aufgebrachter Naturfreund, dem meine harsche Kritik am Begriff Noxious Wildlife, ‚Schädling‘, zu weit ging – wurde ich ordentlich gebasht. And rightly so. „Wie – du gibst ihm recht?“ – „Ja. Beziehungsweise: nein. Also irgendwie.“
Natürlich haben die Argumente derjenigen, die das Gefahrenpotenzial betonen, wie es unkontrolliert verbreiteten nicht-einheimischen Arten innewohnt, einiges für sich. Die Ausrottungsgeschichte zeigt aber, dass es in erster und letzter Instanz nicht die ‚schädlichen‘ Arten als solche waren und sind, welche ein vorgefundenes ökologisches Gleichgewicht stören oder gar zerstören, sondern die Menschen, die den Neuankömmlingen den Einstieg ins Ökosystem erst ermöglicht haben.
Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wie groß, wie definitiv ist der angerichtete Schaden? Zweitens: Lässt er sich wiedergutmachen – und um welchen Preis?
„Geschichte lebt.“ Von der bloß scheinbaren Stabilität der Ökosysteme. In meiner Schulzeit gab man uns ein Buch zu lesen, das trug den Titel „Geschichte lebt“. Darin wurde die Hypothese aufgestellt, dass Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken. Nicht jedem Ereignis wohnt die Kraft der Fernwirkung inne, nur Schlüsselereignisse verfügen über sie. Nach solchen ‚besonderen Voraussetzungen‘ gilt es also zu suchen im Rahmen ökologiehistorischer Fragestellung – getreu der Maxime: „Vor den Schlussfolgerungen das Verstehen, vor dem Verstehen die Analyse.“
Das gilt auch für die Ausrottungsgeschichte. Wann, wo und unter welchen besonderen Umständen wirken sich Umwelt-verändernde Akte des Homo sapiens auf das Netzwerk des Lebens aus – und wie einschneidend, wie nachhaltig, wie umfassend, wie folgenschwer sind sie? Zweitens der Versuch, zu verstehen: Nicht überall sind die Auswirkungen ein und desselben Eingriffs gleich einschneidend, nachhaltig, umfassend, folgenschwer. Daher drittens der Akt des Schlussfolgerns: Wenn es keine einheitlichen Regeln zu geben scheint, nach denen sich das Drama der Umweltveränderung überall und zu allen Zeiten identisch zeigt – und zu diesem Schluss kommen Historiker, Historikerinnen unweigerlich, sobald sie sich beobachtend durch Zeit und Raum bewegen –, kommt auch in der Ausrottungsgeschichte nur selten vor, was Marcel Mauss (1872–1950) ein Fait social total genannt hat, ein in sich abgeschlossenes Ereignis mit eindeutiger, vorhersagbarer und feststehender Wirkung hinsichtlich des Ganzen und all seiner Teile (Marcel Mauss: Die Gabe / Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaiques – Link).
Es kommt nicht nur darauf an, was, sondern auch wo es geschieht. Von der ökologischen Divergenz. Impact ist nicht gleich Impact. Seit dem kreativen, Ökologie-affinen Ansatz des Amerikanisten Alfred W. Crosby (1931–2018)* hat sich der Blick geweitet. Bis dahin unbezweifelte Annahmen erscheinen in neuem Licht. Vor allem die sogenannte Entdeckungsgeschichte, die man besser Eroberungsgeschichte nennt und von der die Ausrottungsgeschichte ein wichtiger Zweig ist, hat sich gegen die Verlockungen und Versuchungen des Determinismus („wie es kam, so musste es kommen“) ein Stück weit immunisiert.
Crosby konnte zeigen, dass sich ein und derselbe faktenhistorische Vorgang – zum Beispiel die Eroberung eines Territoriums – in der Alten Welt ganz anders vollzieht als in der Neuen Welt nach deren ‚Entdeckung‘ durch die Europäer: nämlich unter ökologischen und epidemiologischen Aspekten genau konträr. In diesem, wie Crosby ihn nennt, Columbian Exchange (Austausch von Menschen, Tieren und Pflanzen „ab der Zeit des Columbus“, sprich seit dem ominösen Datum 1492) scheint sich die Europäische Expansion von den Eroberungen und Rückeroberungen, wie sie in der Alten Welt, also auf dem Eurasiatisch-Afrikanischen ‚Superkontinent‘ seit vielen Jahrtausenden üblich waren und immer noch sind, verblüffend deutlich zu unterscheiden. Die Ökologie der Alten Welt erscheint durch das Auf und Ab der Menschheitsgeschichte ungleich weniger stark in Mitleidenschaft gezogen, als dies in den wenigen hundert Jahren europäischer Besiedlung Nord- und Südamerikas der Fall war, wo der ursprüngliche Floren- und Faunenbestand vielfach so stark überformt, verändert oder zerstört wurde, dass eine Rekonstruktion der Situation vor Columbus fast nicht mehr möglich ist (Crosby: Columbian Exchange, Seite 211 f.; Link).*
Je isolierter ein Ökosystem ist, desto geringer seine Resilienz. Auf dieser Annahme hat Crosby seine Akklimatisationstheorie errichtet, indem er zu zeigen versuchte (mit teilweise hoher, teilweise weniger hoher Plausibilität), dass die Ökosysteme Nord- und Südamerikas aufgrund ihrer Jahrtausende währenden Abgeschiedenheit vom Rest der Welt dem Input neuer Spezies erliegen mussten; die ‚Neuen‘, aus ihrer viel ‚weltoffeneren‘ Entwicklungsgeschichte heraus biologisch anpassungsfähiger, resilienter und weniger stressanfällig (sprich weniger anfällig für Krankheiten und Seuchen), ‚outperformten‘ die Einheimischen.
Historiker wie Richard H. Grove verknüpften Crosby’s biologistische Sicht mit der älteren Imperialismus-Theorie und machten – durchaus im Einklang mit Erkenntnissen der ökologischen Forschung – das ‚Inseltheorem‘ zu einem brauchbaren Werkzeug der Geschichtswissenschaft.* Grove konnte zeigen, dass die ersten europäischen Kolonien, insofern sie Stützpunkt- oder Inselkolonien waren, als Orte massiver ökologischer Degradation zugleich Brennpunkte eines hocheffizienten Artentransfers darstellten und ergo dessen als echte Hotspots der Ausrottungsgeschichte anzusehen sind. Genau da beginnt es problematisch zu werden – nicht für die Historiographie sondern für die angewandten Umweltwissenschaften.
Die Insel als umweltpolitisches Paradigma. Die Schicksale von Pflanzen und Tieren, die auf Inseln vorkommen, so stellt die Wissenschaft fest und zuletzt auch wieder der Naturfilmer, Volksbildner und Umweltexperte David Attenborough* (ich beziehe mich gern auf ihn, weil ich ihn schätze, ja verehre), zeigen verblüffende Ähnlichkeiten untereinander. Sehr oft handelt es sich um Arten oder Unterarten, die endemisch sind, also nur lokal vorkommen. Zu ihren nächsten Verwandten auf dem Festland weisen sie auffallende genetische Unterschiede auf – die Palette reicht von verminderter Immunstärke bis zum Verlust lebens- und arterhaltender Fertigkeiten (etwa der Flugfähigkeit bei Vögeln) und Instinkte wie Feindvermeidung, Tarnung etc. Das bekannteste Beispiel ist der berühmte Dodo von Mauritius, eine plumpe Taube, die weder fliegen konnte, noch über ein ausgeprägtes Flucht- oder Tarnverhalten verfügte … und prompt ausgerottet wurde. Ebenfalls keine Seltenheit bei Inselpopulationen sind auffällige Zwerg- oder Riesenformen (größere Tiere verzwergen, kleine Tiere entwickeln sich zu Giganten).
Fluch oder Segen – der genetische Flaschenhals. All das – und die Abwesenheit von Fressfeinden beziehungsweise Nahrungskonkurrenten – hat dazu geführt, dass sich als Ergebnis solch evolutionärer Engführung hochspezialisierte, phänotypisch extreme, zahlenmäßig eher kleine und lokal begrenzte Inselpopulationen von Arten herausgebildet haben, die anderswo unspezialisierte Formen und zahlenmäßig starke Populationen entwickelt hätten oder auch haben. Dabei sind genetische Flaschenhälse per se nichts Nachteiliges für eine sich dabei umformende oder neu herausbildende Spezies. Das zeigt etwa das Schicksal von Bison bison L., der sich genau auf diese Weise aus recht spezialisierten, bezüglich Umweltbedingungen ziemlich anspruchsvollen Stammformen zu einem der anpassungsfähigsten und kopfstärksten Vertreter der nordamerikanischen Großtierfauna entwickelt hat.
Nicht so die typischen Inselformen. Die wenigen Individuen der Ausgangspopulation – der sogenannte genetische Flaschenhals – sind hinsichtlich der Ausbreitungsmöglichkeit ihrer Nachkommen ohne große Perspektive (eine Insel setzt jeder Massenvermehrung sehr rasch sehr klare Grenzen). Damit aber können die inzuchtbedingten genetischen Nachteile nicht ausgeglichen werden, auch nicht in Jahrhunderten ungestörter Entwicklung – Paradoxon einer Überangepasstheit, so typisch für Bewohner kleiner und kleinster ökologischer Nischen.
„Wir könnten nun wenigstens annehmen, dass Inseltiere [und Pflanzen, G.L.] so gut an ihre jeweilige Umgebung angepasst sind und deren Ressourcen so optimal ausnutzen, dass kein Eindringling es vermag, ihren Platz einzunehmen. Dem ist aber nicht so. Stattdessen wirkt es, als hätten die Insulaner im Schutz ihrer abgelegenen Inseln und fernab des Trubels großer, vielfältiger Gesellschaften die Streitkunst verlernt. Sie können ihre Position gegenüber der neuen Konkurrenz nicht behaupten. Und es scheint, als wären viele Inselbewohner dem Untergang geweiht, sobald die Schutzbarriere ihrer Heimat erst einmal durchbrochen ist“ (Attenborough: Der lebendige Planet, Seite 275).*
Neuseeland & Co. als umweltpolitisches Vorbild? Ökologiehistorisch betrachtet, entspricht der insularen Nische eine einzigartige Typologie evolutionärer Prozesse – mit unverwechselbaren Mustern beim Übergang von Zeiten ökologischen Gleichgewichts (Klimax) zu Phasen des Umbruchs und der Neuordnung. Im Unterschied zum Rest der Welt geht die Evolution auf Inseln oder, allgemein gesprochen, überall dort, wo das Ökosystem Merkmale von Inseln aufweist, einen Sonderweg. Auch in isolierten ökologischen Nischen (einzelne Hochtäler, Überreste ehemaliger Naturlandschaften oder Biome mit besonders schutzwürdigen Populationen bedrohter Arten) kann es zwischen alter und neuer Ordnung, Klimax und Umbruch keine Kompromisse geben, weil schon die Evolution als solche dort keine sanften Übergänge vorsieht. Mit anderen Worten: Inseln und inselähnliche Lebensräume sind prädestiniert für ‚harte‘ Veränderungen nach Art des Columbian Exchange.
Der Name ‚Neuseeland‘ steht hier für die unzähligen großen und kleinen Inselbiome des Blauen Planeten – von den Antillen in der Karibik bis zu Polynesien und den Galápagosinseln im Pazifischen Ozean; auf St. Helena und auf Madagaskar, auf Mauritius oder den Seychellen, von Neuguinea bis Tasmanien oder Neuseeland herrschen überall die typischen, oben skizzierten Bedingungen …
Diese Inselbedingungen – lassen sie sich auf andere, ‚kontinentale‘ Verhältnisse übertragen? Oder zumindest in diese hinein übersetzen? Wohl eher nicht. Und wenn doch, handelt es sich mit Sicherheit um ‚inselähnliche‘ Situationen nach Art der ebenfalls weiter oben beschriebenen ökologischen Nischen oder Reste ehemals ausgedehnterer Lebensräume. Was bedeutet das für den Umweltschutz im globalen Maßstab?
Umweltveränderung als ökologischer Großversuch. Auf Neuseeland und den anderen Inseln, deren paradigmatische Bedeutung für den modernen Umweltgedanken man nicht in Frage stellen muss (wohl aber bisweilen die Übersetzung dieser Bedeutung in die Praxis), spielen sich sowohl Evolution als auch moderne Umweltveränderung und Naturzerstörung gewissermaßen im Zeitraffertempo ab. So hat die Evolution auf Neuseeland eine Artenzusammensetzung entstehen lassen, wo 85 Prozent der etwa 2.300 einheimischen Pflanzen endemisch sind, also ursprünglich nur auf diesen beiden Inseln beziehungsweise deren Nebeninseln vorkamen. Mittlerweile wachsen viele dieser ‚Solitäre‘ über die ganze Welt verstreut in Arboreten und Botanischen Gärten … aber das ist schon eine andere Geschichte, eine, die mit der europäischen Expansion zu tun hat und von der schon öfter die Rede war.**
Vielleicht noch deutlicher als die florale Welt zeigt sich Neuseelands Fauna*** als Erbe eines insularen Sonderwegs. Zu nennen wären mehrere Pinguinarten; der flugunfähige Schnepfenstrauß, besser bekannt unter seinem einheimischen Namen Kiwi – das Wappentier der Insel ist mit gleich fünf Arten vertreten –; aus der Familie der Papageien drei Arten: der flugunfähige Eulenpapagei (Kakapo), der für seine Schlauheit und Intelligenz berühmte Kea und der Waldpapagei (Kaka); weitere, weniger bekannte endemische Arten sind Saumschnabelente, Neuseelandente, Schwarzer Stelzenläufer, Takahe und Wekaralle, die Maori-Fruchttaube, der Maorifalke; aus der Klasse der Säugetiere der vom Aussterben bedrohte Maui-Delfin … und viele andere mehr.
Auch für den anderen, den negativen Aspekt von ‚Insularität‘ (wenn man denn das Phänomen eines ökologisch-historischen Sonderwegs so nennen mag) bietet sich Neuseeland als prominentes Untersuchungsfeld an: Mit einer seit dem Beginn des zweiten Jahrtausends europäischer Zeitrechnung, als die ersten Maori-Boote landeten, kontinuierlich ansteigenden Zahl von ausgerotteten oder ausgestorbenen Spezies erweist sich die Doppelinsel als perfektes Beispiel für den Zusammenhang von menschlicher Siedlungspolitik und radikaler Umweltzerstörung. Ob Chatham-Rabe, Maorikrähe, Haastadler, Südinsel-Riesengans oder der phantastische straußenartige Moa, deren größte (Unter)Art eine Schulterhöhe von (mehr als) zwei Metern erreichte – sie alle waren den neu angekommenen Zweibeinern wehrlos ausgeliefert; vor allem auch deren vierbeinigen Begleitern wie Hund und Schwein; und als sich auch noch die Europäer einstellten, kamen Schafe, Rinder, Rot- und Damhirsche, Gämsen und Thare, Katzen, Wiesel, Ratten und ein ganzer Zoo weiterer Exoten hinzu, die teilweise verwilderten und sich unter den einheimischen Spezies breit machten. Mit ihrem ‚insularen Charakter‘ waren die Autochthonen den Einwanderern hilflos ausgeliefert. „So löste wahrscheinlich auch bei den Moas das Auftauchen von menschlichen Jägern weder Flucht noch Gegenwehr aus.“ Die Experten Worthy und Holdaway meinen dazu nicht unironisch, man dürfe vermuten, „dass die Moa-Jagd eher einem ‚Einkauf im Supermarkt‘ als einer Jagd gleichgekommen sein dürfte“ (Netzeintrag „Moas“, siehe Link).
Den britischen Siedlern im 19. Jahrhundert war die autochthone Flora und Fauna mehr oder weniger gleichgültig; gemäß dem Zeitgeist, der einer ‚Europäisierung der Welt‘ das Wort redete, war ihnen wichtiger, möglichst viel Heimat in die Kolonien mitzubringen. Ziel war nicht nur die authentische Rekonstruktion einer ‚europäischen Natur‘. Es galt auch die globale Präsenz Europas, den Anspruch eines einzelnen Kontinents, über den Rest der Welt zu herrschen, symbolisch auszudrücken – indem man überall, wo man hinkam, durch möglichst spektakuläre, umfassende und tiefgreifende Umgestaltungen der Naturlandschaft eine künstliche Natur, eine Natur aus zweiter Hand erschuf. Diesem Zweck diente ein hemmungsloser Transfer von Tieren und Pflanzen rund um den Globus, vor allem aber von Tieren:****

Globale Tiertransfers in der Neuzeit © G.Liedl
Fundamentalökologie beruhigt das Gewissen. Die ‚Insellogik‘ enthält, wie Bild zeigt, das Phantasma einer nach Belieben planbaren und frei zu gestaltenden Natur; denn die Inselnatur – das konnte hoffentlich plausibel gemacht werden – ist eine fragile, eine prekäre Angelegenheit. Plakativ gesprochen ist die scheinbar so perfekt ausbalancierte Ökologie der Inseln ein Zustand auf Abruf.
Bleiben wir auf der exemplarischen Doppelinsel Neuseeland. Im 19. Jahrhundert verschifften Acclimatisation Societies englisches Rot- und Damwild, amerikanische Wapitis, indische Himalaya-Thare, Pfaue, Truthühner, Schwäne, Hasen, Marder, Wiesel, Eichhörnchen … und natürlich heimische Singvögel über den Ozean in die Kolonien, vor allem in die ‚weißen‘ Siedlungskolonien. Als Pointe kann angefügt werden, dass 1907 Kaiser Franz Joseph I. eine Gruppe Gämsen offerierte – das Geschenk wurde dankend angenommen, Gämsen bevölkern seitdem nicht nur die Europäischen sondern auch die Neuseeländischen Alpen.
Euphorie schlägt bekanntlich gern in Depressionen um. Aus dem ökologischen Selbstermächtigungstraum des 19. Jahrhunderts gibt es im 20. Jahrhundert ein böses Erwachen. „Als etwa um 1930 das Rotwild in Neuseeland […] zu zahlreich wurde, erklärte man es zum Schädling und hob jegliche Schutzmaßnahmen auf. Im darauffolgenden Jahr begannen dann die ‚Kontrollmaßnahmen‘ der Regierung, und Tausende Hirsche wurden Jahr für Jahr abgeschlachtet. Dabei war man aber nur am Verkauf der Häute interessiert, das Wildbret, wahrscheinlich an die 3.000, 4.000 Tonnen, ließ man im Busch verrotten. Weitere 75.000 Hirsche überließ man kommerziellen Fleischjägern, die allein im Jahre 1967 rund 2.600 Tonnen Wildfleisch nach Europa exportierten. Die Bestandsreduktion wurde aber nicht allein mit Schusswaffen durchgeführt, ein paar Jahre lang versuchte man es auch mit vergifteten Karotten, die man von Flugzeugen abwarf. Eigentlich war diese Methode gegen Gämsen und Thare gedacht, doch fielen ihr auch unzählige Hirsche zum Opfer“ (Whitehead: Encyclopedia of Deer, Seite 53).*
Was im Inselstaat lange vor der Jahrhundertmitte als gigantischer Freilandversuch in Gang gesetzt worden war – ein unbarmherziger Vernichtungskrieg (noch dazu mit untauglichen Mitteln) gegen einen gar nicht kleinen Teil der lokalen Fauna –, erreichte, als neueste Erkenntnis der Umweltwissenschaften etikettiert, im letzten Drittel des Jahrhunderts Europa, genauer gesagt das deutschsprachige Mitteleuropa, wo der Boden durch eine romantisch getönten Heimat-Ideologie sozusagen immer schon aufbereitet war. Denn auch der Heimatbegriff gehorcht ja der Insel-Logik (wie der Philosoph sagen würde). Etwa ab 1980 wendete sich der Naturschutz von konkreten tages- und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, vom Kampf gegen Umweltschädiger aus Landwirtschaft, Industrie und Politik ab und einer ideologisch getönten Grundsatzdebatte zu – ob und wie die heimatliche Natur von fremden, ergo dessen schädlichen Einflüssen gereinigt werden könne.
Umweltschutz – grundsätzlich oder pragmatisch? Schon die frühesten Beispiele für eine ‚überfremdete‘ Natur sind eingebettet in das Theorem der Faunen- und Florenfälschung, womit man einer auch im Nationalsozialismus gängigen Wortwahl folgt. Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus), Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) und Waschbär (Procyon lotor) – alle drei Arten stammen aus Nordamerika – wurden stellvertretend für eine ganze Entwicklung, eine Veränderung, einen Trend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt: Sie standen und stehen für die Störung einer perfekten, weil stabilen natürlichen Ordnung. Schon mit ihrer bloßen Existenz widersprechen sie dem Idealbild dessen, was Land und Leuten erst ihre wahre Identität verleiht: der unverrückbaren natürlichen Ordnung, wo alles seinen angestammten Platz hat, was im Gegenzug jede Veränderung durch irgendwie neu Hinzukommendes ausschließt. Natur steht im Gegensatz zur künstlich-volatilen Welt der Ökonomie (Wirtschaft und Politik, Industrie, Wissenschaft, Welthandel usw.), man kann sich auf sie verlassen. Dauerhaft und stetig, repräsentiert sie den Boden, die Erde, Luft und Wasser, majestätische Berge, Landschaften im Jahreskreis – mit einem Wort: Heimat. Projektion nennt das der Psychologe.
Grundsätze mögen wichtig sein. Der Weisheit letzter Schluss sind sie nicht. Die Wirklichkeit – und wir bleiben bei den gewählten drei Beispielen – sieht nämlich so aus, dass schon im 19. Jahrhundert Flüsse und Bäche durch ihre hemmungslose Nutzung im Geist der Industriellen Revolution derart ruiniert waren, dass die einheimische Fauna – im Fall der mitteleuropäischen Gewässer waren dies Flusskrebs (Astacus astacus L.) und Bachforelle (Salmo trutta fario) – daraus verschwanden. Die ‚landfremden‘ Nachfolger, Signalkrebs und Regenbogenforelle, zeichneten sich durch eine höhere Toleranz gegenüber schlechter Wasserqualität und Verschmutzung aus. Die Krise, in der sich die Gewässer Mitteleuropas befanden, war in positiver Umkehrung der Beweis der Resilienz, über die jene neuen Arten verfügten. Ökologisch gesprochen haben Regenbogenforelle und Signalkrebs niemanden verdrängt, sondern nur in Besitz genommen, was an aufgegebenen Lebensräumen und Nischen zur Verfügung stand.
Schon wahr, werte Ökologinnen und Ökologen: Heute, wo die Gewässergüte teilweise wiederhergestellt ist, mag es so scheinen, als wären Regenbogenforelle und Signalkrebs ‚schuld‘ am Verschwinden von Bachforelle und Flusskrebs. Richtigerweise sollte man sagen: die beiden haben ihre Chance genutzt und geben jetzt, wo sich die heiklen Europäer wieder hineinreklamieren möchten in ihre ökologischen Nischen, diese nicht freiwillig auf. Und sie verteidigen ihre Position mit den geeigneten biologischen Waffen: so ist der amerikanische Signalkrebs Träger der Krebspest, gegen die er selbst immun ist, nicht aber der europäische Flusskrebs, und die mit Klimawandel & Co. besser zurechtkommende Regenbogenforelle hat höhere Vermehrungsraten als ihre europäische Konkurrentin.
Ähnliche Dispositive wird man auch bei vielen anderen Alien Species entdecken; so konnte sich unser drittes Beispiel, der Waschbär, in den von konkurrierenden Beutegreifern weitgehend frei gemachten Revieren niederlassen (die Zeit seines Aufstiegs fällt mit der Hochblüte der ‚Raubzeug‘-Bekämpfung zusammen, als etwa dem Fuchs großflächig mit allen Mitteln, selbst durch Vergasen seiner Baue zu Leibe gerückt wurde, und der Fischotter ausgerottet war).
Dabei wäre die pragmatische Lösung dieses bloß vermeintlichen Dilemmas einfach, wie sie ja auch auf der Hand liegt. Man unterstelle möglichst viele der als problematisch empfundenen Neuankömmlinge (deren Ankunft in freier Wildbahn ja meist ohnedies schon viele Jahrzehnte, manchmal sogar über ein Jahrhundert zurückliegt) der Jagdgesetzgebung, dem Fischereirecht oder anderen vergleichbaren Regelungen – sie unterlägen damit automatisch dem Grundsatz lokal abgestimmter Kontrolle bei nachhaltiger Nutzung ihres ökologischen und wirtschaftlichen Potenzials: Krebse und Forellen sind, wie man hört, stark nachgefragte Delikatessen; und der Waschbärpelz (ich weiß, hier betrete ich vermintes Terrain ...) zierte früher die Schultern so mancher schönen Dame. Im Gegensatz zu einer Insel sind die Landschaften Mitteleuropas keine isolierten Ökosysteme; sind die dort lebenden Pflanzen und Tiere an den ständigen Wandel, das Kommen und Gehen alter und neuer Weggefährten gewöhnt, seit Tausenden von Jahren. Wäre es anders, sie wären längst nicht mehr da.
Und was ist mit dem ökologischen Gleichgewicht? Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, den Verfechtern einer von ‚Störfaktoren‘ und Fremdeinflüssen gesäuberten Natur ihre Sorge um besagte Natur abzunehmen. Wer im Zusammenhang mit lebenden Wesen Kriegsmetaphern gebraucht, von notwendiger ‚Bekämpfung‘, gar ‚Vernichtung‘ spricht, kann nicht als Naturfreund gelten. Nicht in meiner Welt.
„Aber das sind doch Experten, die sich auf Erkenntnisse von Menschen stützen, die sich in Sachen Naturwissenschaft auskennen.“ – Nach diesem Argument ist auch der Vivisecteur ein Freund der Tiere und der Natur: in Sachen Naturwissenschaft ist er zweifellos ein Auskenner. Zugegeben, das klingt reichlich simpel und einigermaßen naiv. Sorry, Girls & Boys: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ (Martin Luther).
Sir David Attenborough hat einmal gesagt (man könnte auch Konrad Lorenz zitieren, der sich ähnlich geäußert hat): „Aus meiner Sicht ist die Natur die größte Quelle der Begeisterung, die größte Quelle der Schönheit und die größte Quelle der Erkenntnis. Sie ist die wichtigste Quelle von vielem, was das Leben lebenswert macht.“
In dieser Natur gibt es keine ‚guten‘ und ‚bösen‘ Lebewesen. Nur Lebewesen.
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* Literatur:
David Attenborough: Der lebendige Planet. Wie alles mit allem vernetzt ist [Living Planet. The Web of Life on Earth]. Franckh – Kosmos Verlag: Stuttgart 2022
Simon Franz Canaval: Globalisierung der Naturnutzung am Beispiel einer Jagdwildart (Dama dama). Diplomarbeit, Universität Wien: Wien 2014
Simon Franz Canaval: The Story of the Fallow Deer: An Exotic Aspect of British Globalisation. In: Environment and Nature in New Zealand (ENNZ), Vol. 9 | 2 (2014)
Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport, Connecticut 1972; deutsche Ausgabe:
Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 – 1900. Darmstadt 1991 (Cambridge 1986)
Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997
Sophia Perdikaris / Allison Bain / Sandrine Grouard / Karis Baker / Edith
Gonzalez / A. Rus Hoelzel / Holly Miller / Reaksha Persaud / Naomi Sykes: From Icon of Empire to National Emblem: New Evidence for the Fallow Deer of Barbuda. The Journal of Human Palaeoecology Volume 23: 1, 2018, Seite 47–55
G. Kenneth Whitehead: The Whitehead Encyclopedia of Deer. Shrewsbury 1993
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** Zur europäischen Expansion: BLOG # 17; BLOG # 18; BLOG # 23; BLOG # 27
*** Endemische Tiere Neuseelands – Link
**** Zu einem Beispiel des Bedeutungswandels im ökologischen Akkulturationsprozess – Damwild auf der Antilleninsel Barbuda: Perdikaris et al. 2018, Seite 47 ff.; Canaval 2014
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Was wirklich schädlich ist. Ein Zitat als Postscriptum. „Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Deshalb müssen wir offenlegen, wer daran interessiert ist, dass alles so weiterläuft wie bisher. Keiner wird mit seiner Bambuszahnbürste und seinem Jutebeutel diese Welt retten können. Was wir brauchen, ist gute Politik“ (Eckart von Hirschhausen, Arzt und Kabarettist; zitiert nach KURIER freizeit, vom Samstag, 12. August 2023, Seite 26).
Darf ich ergänzen? Was wir brauchen, ist gute Politik. Spätromantik mit autoritärer Schlagseite eher nicht.
Schon vor Jahrzehnten hat der Biologe Josef H. Reichholf den Schwachpunkt des modernen Umweltschutzes und der ökologischen Denkungsart dechiffriert und überzeugend dargelegt, dass hierfür die Entstehungsgeschichte dieser Bewegung und der ihr zugrunde liegenden Theorie verantwortlich ist. Denn ja, diese Wissenschaft ist auch eine Ideologie.
Der Begriff Ökologie geht auf den Mediziner und Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) zurück. Als Volksbildner und vehementer Propagandist des Darwinismus hatte er das Wort in die Bildungssprache eingeführt, von wo es dann in die Umgangssprache gelangte. Doch Haeckel unterlief dabei ein Fehler. Mit der im Grunde romantischen Annahme eines stabilen ‚Naturhaushalts‘, für den der Begriff Ökologie bei ihm stand, verschleierte und verwässerte er das revolutionär Neue an Darwins Lehre: die Dynamik und Unabgeschlossenheit natürlicher Vorgänge. Dieses Haeckel’sche Missverständnis klebt bis heute am Wort, Begriff und Konzept der Ökologie als Umweltwissenschaft.
„Als Ernst Haeckel den Blick auf das Naturganze lenkte und erstmals vom ‚Naturhaushalt‘ sprach, konnte man sich darunter noch nicht viel vorstellen. Haushalt klang so ordentlich und geregelt […]. Lebewesen und Umwelt in vollendeter Harmonie – das […] findet auch heute noch viele Anhänger“ (Reichholf o.J. [1988], Seite 14).*
Während sich die ursprüngliche Forschungslandschaft entwickelte und veränderte, tat das die Ideologie nicht. Die Wissenschaft selbst vertritt heute ein pragmatisches, ergebnisoffenes Welt- und Naturbild. Parallel dazu entfaltet sich ein hybrider öffentlicher Diskurs, der sich zwar ständig auf die Ökologie als Wissenschaft beruft, ideologisch aber an einer Weltanschauung festhält, von der sich die Forschung selbst längst verabschiedet hat.
Was ist Fundamentalökologie? Versuch einer Annäherung. Nochmals der nüchterne Befund des Forschers, welcher feststellt, dass Eingriffe in den Naturhaushalt „keine neue Erfindung des Menschen [sind], sondern […] ein Urprinzip des Lebens“ bilden. Und dann ein Satz von großer Tragweite: „Die Natur stellt die Bühne dar, auf der das Spiel des Lebens abläuft. Die Spieler werden beständig ausgetauscht und erneuert“ (Reichholf o.J. [1988], ebd).
Diese Feststellung ist ein Schlag ins Gesicht jedes besorgten Hüters des natürlichen Gleichgewichts; „beständig ausgetauschte und erneuerte Spieler“ auf der Bühne des Lebens sind nämlich genau nicht, was Fundamentalökologie von ihrer Umwelt erwartet.
Nicht immer waren Umweltbewegungen so fixiert auf das – um etwas Heiterkeit in die unheitere Angelegenheit zu bringen – ökologische Reinheitsgebot. Noch in den 1960-er, 1970-er Jahren, als sich die Konturen eines Natur-, Tier-, Landschafts- und Umweltschutzes schärften (Anti-Atomkraft-Bewegung; Neuinterpretation von ‚Fortschritt‘ – der Club of Rome; Auftauchen neuer Umweltschutzorganisationen wie zum Beispiel Greenpeace…), war man pragmatisch eingestellt. Im Fokus der Kritik stand auch damals schon das aus dem Ruder gelaufene Tun des Menschen; doch obwohl diese Kritik emotional unterfüttert scheinen mochte, war sie im Grunde rational: angepeilt wurde das Machbare, im Vordergrund standen reformistisch-praktische und auf technische Innovation vertrauende Konzepte. Das grosso modo erfolgreiche Projekt einer umweltverträglicheren Schwerindustrie (Stichwort ‚Saurer Regen‘, Waldsterben, Abgasreinigung) mag man auf die Habenseite stellen. Weniger glücklich entwickelten sich die, wie man sie nennen könnte, postmodernen Narrative rund um Tropenwald, Klimapolitik, Artenschutz.
Es war dies auch die Geburtsstunde der Tierethik: Traditioneller Tierschutz radikalisierte sich in Anti-Jagd-Bewegungen, Pelztier-Befreiungsaktionen, Kampagnen gegen Tierfabriken, Zirkusse, Zoos … Bewegungen, die sich rasch politisierten und ganze Wissenschaftszweige in die Pflicht nahmen. Die Vermutung, dass es hier eine Sollbruchstelle gibt, hat einiges für sich. Einerseits begann sich die Umweltbewegung ethisch-moralisch aufzuladen. Andererseits stand sie unter dem Eindruck übermächtig scheinender Blöcke ‚alter Mächte‘ – einer den Klimawandel leugnenden Rohstoffindustrie samt passender Energiewirtschaft, einer expansiven, globalisierten, Investment-getriebenen, biotechnisch geboosteten und freihandelspolitisch abgesicherten Agroindustrie – Teile der Umweltbewegung regredierten und verfielen in eine romantische Schockstarre. Ein wesentlicher Impetus – der aufklärerisch-rationale nämlich – kam ihnen dabei abhanden. Ersetzt wurde er durch das alte romantische Bild einer Heimkehr, eines Glücks, das in der Vergangenheit liegt; einer heilen Welt, einer ursprünglichen Natur, die es wieder herzustellen galt.
Romantic Dreamworld. Im Fokus dieser Regression steht nicht mehr der Mensch; auch nicht der Mensch-in-der-Natur; oder eine Mensch-Natur-Interaktion. Das wäre noch viel zu viel Aufklärung, Optimismus, Fortschrittsglaube. Die pessimistisch-nihilistische Romantik des 19. Jahrhunderts – The Dark Side of the Romantic Dreamworld (Shortt 2018, Seite 5 ff.)* – hat sich erfolgreich in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gerettet. Neu daran ist freilich, dass sich ihr unduldsamer „Ökokritizismus“ (Shortt) einen Anschein von Darwinismus gibt. Nur dumm, dass sie dabei die Evolution mit dem Ordnungsprinzip einer ‚Natur im Gleichgewicht‘ verwechselt.
Statt böser Mensch: böse invasive Arten. Gesetzt den Fall, die (Wieder)Herstellung eines solchen ‚Gleichgewichts‘ wird trotzdem versucht – welches Kriterium könnte einen gravierenden Eingriff, wie es die Bekämpfung, vielleicht sogar Ausrottung einer ‚ortsfremden‘ Spezies oder die Änderung einer ganzen Artengemeinschaft ist, rechtfertigen? Über die Sinnhaftigkeit dieses Eingriffs in ein gegebenes Ökosystem kann wohl nur dessen biologische Bilanz Auskunft geben: Ist der natürliche Reichtum (aber kann man das Phänomen einer ausgeglichenen Bilanz überhaupt so nennen?) am Ende größer oder kleiner? Nicht immer, aber doch sehr oft lässt sich biologischer Reichtum an der Artenvielfalt messen; zumindest spiegelt diese auf quantifizierbare Weise auch das andere wichtige Kriterium wider, die Standorteignung einer bestimmten Floren- und Faunengemeinschaft … also wie gut diese an die Voraussetzungen ihrer Umgebung angepasst ist. Hat sich die Stabilität des Ganzen durch den Eingriff verändert? Zum Besseren? Zum Schlechteren? Allein auf Basis des Gegensatzes einheimisch – fremd (autochthon – invasiv) kann biologischer Reichtum jedenfalls nicht quantifiziert werden. Als biologisch-ökologisches Erklärungsmodell ist dieser Antagonismus offensichtlich nicht viel wert.
Im Lichte der Evolution … Des Menschen größtes Vergehen gegen das Leben ist die Ausrottung anderer Lebensformen. Das Verdikt passt auch auf die Puristen des Naturschutzes, die sich vor allem dafür interessieren, „wie Natur sein sollte“. Diese können niemals mit Sicherheit angeben, welchen Teil genau sie den „Genom-Netzwerken“ (Wagner 2015, Seite 248 ff.)* entnommen haben werden, wenn sie vermeintlich Unpassendes – beispielsweise sogenannte Neozoen, die sie dann Noxious Wildlife, ‚Schädlinge‘ nennen – aus der Natur entfernen.
Könnte Mutter Natur sprechen (und fände sie es nicht langweilig, sich in akademischer Diktion auszudrücken), würde sie möglicher Weise so argumentieren: „Auf das gesamte Netzwerk bezogen sind es vielleicht gerade die als störend empfundenen Varianten und Kombinationen, die in einer Krise, die man nicht vorausgesehen hatte, für die Stabilisierung ökologischer Zusammenhänge gesorgt haben würden.“ Das klingt plausibel.
Krisen und Resilienz. Beweise für die Richtigkeit obiger Feststellung liefert die Geschichte unserer Wälder. Ein bewaldetes Europa gibt es erst seit dem Ende der letzten Eiszeit (wobei fraglich ist, ob wir uns nicht bloß in einer Zwischeneiszeit, einem warmzeitlichen Intervall befinden). In den letzten 10.000 Jahren, also seit dem Abschmelzen der großen Eispanzer, ging die Wiederbewaldung des Kontinents ihren durchaus inhomogenen und von zahlreichen Krisen geprägten Weg. Dabei ließ sie ein wellenförmiges Muster aus Verdichtung und Ausdünnung erkennen; der den Kontinent bedeckende Pflanzenteppich entstand nicht in einer einzigen, geradlinigen ‚Aufwärtsbewegung‘ sondern schubweise, mit bisweilen ziemlich paradoxen Wendungen und Verwerfungen.
Eine Geschichte wechselhafter Konjunkturen also … Das Sprunghafte und Unvorhersehbare einer Flora und Fauna im Umbruch (noch dazu als Folge einer gigantischen Klimaänderung; und wenn man hier von ‚Wiederbewaldung‘ spricht, ist das nur eine grobe, allzu grobe Vereinfachung) – diese konjunkturelle Unvorhersehbarkeit in der ökologischen Neugestaltung eines ganzen Kontinents … darf mit seiner, erdgeschichtlich gesehen, äußerst kurzen Dauer von lediglich 10.000 Jahren als Evolution im Zeitraffer verstanden werden. Für Neuromantiker mit Faible für ‚stabile Naturhaushalte‘ – für die Fundamentalökologie – mag die Vorstellung einer Natur, die sich so gar nicht entscheiden kann, wohin die Reise geht, und die vor allem nicht zu wissen scheint, wann sie am Ziel ist, ein Ärgernis sein. Im Narrativ der Ökologiegeschichte ist sie aber höchst real, denn sie bildet dessen gut dokumentierten Inhalt.
Verlorener Reichtum. Die folgende Feststellung könnte nachdenklich stimmen. „Vor den Eiszeiten herrschte fast überall auf der Nordhalbkugel ein wärmeres Klima als heute. Die Wälder Nordeuropas und Nordamerikas bargen eine nahezu tropische Fülle von Baumarten. Neben den Bäumen, die heute noch in diesen Wäldern wachsen, gediehen Walnuss, Hickory, Bergahorn, mehrere Palmenarten, Zeder und Ginkgo. […] Diese Bäume hatten [in Europa] keine Chance, in den Warmzeiten mit Gletscherrückgang, die im Pleistozän häufig mit Kaltzeiten abwechselten, [nach ihrem Eiszeit-bedingten Verschwinden] an den Ursprungsort zurückzuwandern. Nördlich der Berge wurden sie ausgelöscht“ (Johnson 1983, Seite 304).*
Im Gegensatz zu Nordamerika, wo alle großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen und den Rückzugsweg nach Süden nicht verstellen, haben sich in Europa mit seinen ost-westlich verlaufenden Bergketten beim Vorrücken des Eises für die Pflanzen auf ihrer ‚Flucht‘ nach Süden unüberwindliche Hindernisse aufgetürmt. Von sich aus wäre Europas Waldlandschaft arm (und ist es ja auch heute noch, jedenfalls im Vergleich mit dem Fernen Osten oder Nordamerika) – ein kläglicher Rest einstiger Fülle und Pracht.
Der Mensch greift ein. Weil Europas Geographie mit ihren hohen Querriegeln, den Pyrenäen, Alpen, Karpaten und dem Balkangebirge die Wiederkehr der verschwundenen floralen Üppigkeit verhinderte; weil also Europas Geographie ‚von sich aus‘ so florenfeindlich ist, musste der Mensch kommen, um der Natur aufzuhelfen und dem Wald seine Artenvielfalt zurückzugeben. Sagt der Mythos, wie ihn eine zukünftige Menschheit erzählen könnte. Aber war es denn tatsächlich so?
Die ursprünglich monotone nacheiszeitliche Bewaldung wurde vom Menschen stark verändert, nämlich aufgelockert und mit neuen Baumarten abwechslungsreicher gemacht. Manchmal mit voller Absicht, wenn etwa Obstbäume gepflanzt wurden, meist aber als unbeabsichtigte Nebenwirkung der sukzessiven Rodungszyklen. Als das Klima nördlich der Alpen rasch wärmer wurde – in der, wie man sie nennen kann, Römischen Warmzeit ab der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends –, hatte auch eine südliche Flora (Weizen, Wein, Walnuss, Esskastanie und viele andere…) ihre Chance. Im Schlepptau römischer Kolonisten eroberte sie die ökologischen Nischen in einer agrarisch schon stark überformten Waldlandschaft. Diesen Trend wird das klimamilde Hochmittelalter noch verstärken, indem es die Wälder weiter lichtet und – im wahrsten Sinn des Wortes – aufmischt.
Aufklärung, Forstwirtschaft und die Erfindung der Nachhaltigkeit. Forstwirtschaft ist von Anfang an einem rationalen Kalkül verpflichtet. In vielen Waldgebieten Mitteleuropas, besonders solchen mit einer ausgeprägten Bergbautradition, wurde die Begrenztheit der Kapazitäten schon im späten Mittelalter erkannt. Von da zum Nachhaltigkeitsbegriff ist es im Zusammenhang mit den Waldungen der Bergwerke und Salinen nur ein kleiner Schritt.
„Gott hat die Wäldt für den Salzquell erschaffen, auf dass sie ewig wie er continuieren mögen. Also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist“ (aus einer Forstordnung von 1661).
Als Fachbegriff taucht Nachhaltigkeit erstmals beim Begründer der deutschen Forstwissenschaft, dem Oberberghauptmann in Kursachsen, Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), in seiner Sylvicultura Oeconomica auf. Sein Leitspruch war, „dass es eine continuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung“ geben möge.
Georg Ludwig Hartig, ein anderer Doyen der deutschen Forstwissenschaft, definiert in seiner Anweisung zur Holzzucht für Förster Nachhaltigkeit so:
„Unter allen Bemühungen des Forstwirts ist wohl keine wichtiger und verdienstlicher, als die Nachzucht des Holzes, oder die Erziehung junger Wälder, weil dadurch die jährliche Holzabgabe wieder ersetzt, und dem Wald eine ewige Dauer verschafft werden muss“.
Genau diesen Ton hatte schon die Encyclopédie française angeschlagen, als sie den Ausdruck „forêt“ als ein Ensemble fachgerecht angepflanzter, für die nachhaltige Nutzung vorgesehener und durch staatliche Behörden streng geschützter Bäume definierte (Encyclopédie 1966, Band 7, Seite 129).*
Die offenen Wälder der Neuzeit. Die Neuzeit bringt also System und Rationalität in die Wälder. Aufklärer und Physiokraten verbinden ungeniert das Schöne mit dem Nützlichen, das Exotische mit dem Einheimischen. So wird zum Beispiel unter der Prämisse, dass er sich für die Seidenraupenzucht in klimatisch weniger begünstigten Gebieten prächtig eigne, der chinesische Götterbaum, Ailanthus altissima, und unter dem Aspekt ihrer Schönheit die mediterrane Blumen- oder Manna-Esche, Fraxinus ornus, in den Donauauen östlich von Wien ausgepflanzt, wo sich diese Bäume, mittlerweile verwildert, zu einem festen (wenn auch nicht allseits geliebten) Bestandteil der ostalpin-pannonischen Flora gemausert haben. Die ebenfalls aus Nützlichkeitserwägungen (Holz und Blütenhonig) seit dem 18. und vermehrt im 19. Jahrhundert in Europa angesiedelte Falsche Akazie, die nordamerikanische Robinie, Robinia pseudoacacia, bildet nur den besonders eindrucksvollen, weil sehr erfolgreichen vorläufigen Endpunkt einer langen Reihe botanischer Zuwächse in der Geschichte des europäischen Waldes.
In den Versuchspflanzungen forstlich versierter Neuerer wie Friedrich August Ludwig von Burgsdorf (1747–1803) oder Friedrich Adam Julius von Wangenheim (1749–1800) fanden sich zeitweise fast 700 Arten, vor allem aus Nordamerika. Während Botaniker wie Johann Gottlieb Gleditsch (1714–1786) Neueinführungen grundsätzlich skeptisch betrachteten, haben sich die Pflanzen selbst vom Verdikt des besorgten Fachmannes nicht beeindrucken lassen. Die Douglasie etwa, 1827 erstmals nach Europa eingeführt, hat mit ihren hervorragenden Holzeigenschaften derart gepunktet, dass sie heute aus der Forstwirtschaft nicht mehr wegzudenken ist. Japanische Lärche, Helmlocktanne und viele andere mehr legten und legen ähnliche Erfolgskarrieren hin (Küster 1995, Seite 314).*
Der Wald produziert Ressourcen. Der Wald ist aber auch ‚Natur‘. Nur dass die naturgesetzlichen Bedingungen jetzt dem Gesetz der Bodenrente unterworfen sind; sie erscheinen von diesem ökonomischen Gesetz geradezu abgeleitet beziehungsweise ableitbar. Damit stehen Aussehen und Gestalt eines solcherart definierten ‚Forstes‘ nicht mehr von vornherein fest; das gottgegebene Apriori eines Zusammenspiels mineralischer, botanischer und faunistischer Elemente, die gemeinsam mit den Menschen ein Ganzes ergeben, ist hinfällig. Diese Dynamik (und man bedenke, wann diese Dynamisierung des Naturbegriffs enstand – ein gutes Jahrhundert vor Darwin) erlaubt dem forstlich Versierten nicht so sehr alles, was gefällt (das war das Prärogativ der Könige, die ihre Forsten für sich selbst reklamierten); dem modernen Waldverwalter ist vor allem das erlaubt (erlaubt? Geboten!), was Nutzen bringt. Wälder werden zum Experimentierfeld einer globalisierten und globalisierenden Nutzanwendungsphilosophie und Wissenschaft; wie der Mensch, ihr Herr und Meister, verwandeln sich auch die Bäume in ökologische Kosmopoliten (BLOG # 18).
Ökologiegeschichte und Evolution – vom Wert der Krisen. Hochwald ist ein ökologischer Endzustand, eine Klimax. Mitteleuropas Urwälder, wenn es sie denn gäbe, wären ziemlich einförmig: dichte Bestände, gebildet aus wenigen Baumarten.
Dass Europas Wälder heute wieder relativ artenreich sind, verdanken sie der Klimaschaukel und der von ihr profitierenden, an ihr leidenden Menschheit. Also nicht dem ökologischen Optimum sondern der ökologischen Krise. In den für den mitteleuropäischen Wald ungünstigen Klimaphasen sind jene ‚Leerstellen‘, jene Löcher und Nischen in die nacheiszeitliche Waldlandschaft geschnitten und gerissen worden, in welchen sich dann, wenn die Klimaschaukel wieder bessere Zeiten brachte, neue Pflanzen- und Baumarten – klarer Weise fast immer südlichen oder südöstlichen Ursprungs – einnisten konnten. Der Wald als solcher wurde dadurch nicht ärmer.
In aufsteigender Reihe erinnern in den Wäldern Mitteleuropas Buche und Tanne an die Wald- und Holzkrisen des Neolithikums, der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit; Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche erinnern an die Rodungen der Römerzeit; Rosskastanie, Flieder, Manna-Esche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel sind das Ergebnis forstwirtschaftlicher Bemühungen seit der frühen Neuzeit – mit anderen Worten, eine Antwort auf die massiven Waldzerstörungen des Mittelalters.
Die florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit ist bis heute nicht abgeschlossen. Denn noch ist die ehemalige Artenvielfalt nicht wiederhergestellt. So besehen erfüllen florale ‚Neuankömmlinge‘ der historischen Zeit und der Mensch, der sie heran schafft, nur einen prähistorischen Auftrag.
Wenn man von Krisen spricht, ob Agrarkrise der Vergangenheit oder Globalisierungskrise der Gegenwart, vergisst man gerne, dass Verarmung und Mangel eine Kehrseite haben – die Chance auf Neubeginn und größere Fülle. Zum Stellenwert von Natur aus zweiter Hand wäre also zu bemerken, dass es um Steigerung geht, um ein Plus. Dass der Mensch durch eigenmächtiges Aussortieren und Entfernen von ‚Nichtzugehörigem' Natur verbessern, gar retten könne, ist im ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen. Und dieses gibt es immerhin schon seit 10.000 Jahren.
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* Literatur:
Encyclopédie 1966 = Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Publ. par D. Diderot et Jean le Rond d’Alembert. Reprint: Stuttgart – Bad Cannstadt 1966
Johnson 1983 = Hugh Johnson (Hg.): Das große Buch der Wälder und Bäume. Stuttgart – Zürich – Wien 1983
Küster 1995 = Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. München 1995
Küster 2003 = Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003
Reichholf o.J. [1988] = Josef H. Reichholf: Leben und Überleben. Ökologische Zusammenhänge. Herausgegeben von Gunter Steinbach. Illustriert von Fritz Wendler. Mosaik Verlag: München o.J. [1988]
Reichholf 2012 = Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt am Main 2012
Reichholf 2016 = Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur. München 2016
Shortt 2018 = Aoife Shortt: „What can a poem prove?“ The Romanticism, the Enlightenment and the Natural World. Proseminararbeit Sommersemester 2018 / Universität Wien: Wien 2018 [Unveröff. Typoscript]
Wagner 2015 = Andreas Wagner: Arrival of the Fittest. Wie das Neue in die Welt kommt. Über das größte Rätsel der Evolution. Frankfurt am Main 2015 (New York 2014)
Ich erinnere mich noch gut der ersten Begegnung mit Psittacula krameri … Es war vor vielen Jahren irgendwo an der Costa del Sol zwischen Málaga und Torremolinos. Die Beste aller Ehefrauen war in jenem phänomenalen Geschäft für Keramikwaren verschwunden, das es jetzt nicht mehr gibt, damals aber für gefühlt 80 Prozent unserer Küchen-, Haus- und Gartenausstattung sorgte. Ich blieb draußen und betrachtete das Meer hinter den hohen Palmen (nein, hier hätte mir die Erinnerung fast einen Streich gespielt – es war eine Gruppe mächtiger Eukalypten, und ja, dahinter rauschte das Meer). Und plötzlich dieses seltsame, vorher noch nie vernommene Geräusch – ein ehrlich gesagt nicht wirklich melodisches Konzert, das den verblüfften Zuhörer dennoch nicht missmutig sondern, im Gegenteil, fröhlich stimmte. Denn es stammte von einem Schwarm knallgrüner, äußerst munterer Vögel, denen man die exotische, will sagen tropische Herkunft unschwer ansah. Psittacula krameri, der Halsbandsittich, trat hier geräuschvoll in mein Leben – und hat seit jenem ersten Rendezvous an der Südküste Spaniens nichts von seiner Faszination eingebüßt. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit diesem Neubürger Europas ließ mich seitdem nicht mehr los und mündete unter anderem in die Co-Autorschaft an einem Aufsatz über Europas Paradiesvögel. Das ist schon wieder eine andere Geschichte; und keine Sorge, eine zoologische Abhandlung über Sittiche und Papageien ist hier nicht vorgesehen – wer allenfalls wirklich mehr über Psittacula & Co. sowie die globalisierten Karrieren dieser und anderer bunter Vögel wissen möchte, sei auf das Netz beziehungsweise besagten Aufsatz verwiesen (Smetacek/Liedl 2017, Seite 140 ff.).*
Einmal aufmerksam geworden, bin ich dem ‚Europäer unter den Edelsittichen‘ überall begegnet – in Paris, in Köln, in Düsseldorf, in Rom … und natürlich immer wieder in meiner zweiten Heimat. In Málagas prachtvollem, zentral gelegenen Botanischen Garten entdeckte ich auch seine ganz spezielle Symbiose mit der ebenfalls von weit her, nämlich von jenseits des Atlantik stammenden Washingtonia (Washingtonia filifera) – die lautstarken grünen Gesellen nisteten zu Dutzenden in den großen, herabhängenden Bündeln abgestorbener Palmenblätter, die diesen spektakulären Bäumen ihr charakteristisches Aussehen verleihen.

Halsbandsittiche und Washingtonia an der Costa del Sol © G.Liedl

Halsbandsittich-Pärchen © Shadman Samee, Nachweis
Auch einen nicht minder lautstarken, nicht weniger fröhlich stimmenden Kollegen von Psittacula krameri habe ich seitdem in meiner spanischen zweiten Heimat entdeckt: Myiopsitta monachus, den ursprünglich aus Südamerika (Argentinien, Uruguay, Paraguay) stammenden Mönchssittich. Beide Spezies sind seit einigen Jahren in die Schlagzeilen geraten. Und leider nicht zu ihrem Besten.**

Mönchssittich © Luis Argerich; originally posted to Flickr as Birds from Temaiken, Nachweis
Ein neuerdings rauer Wind im öffentlichen Diskurs. „So füllt sich Spanien mit Sittichen“ (El País, 5.6.2018). – „Die Zahl dieser Vögel ist in den letzten drei Jahren um 33 Prozent gestiegen“ (SUBRAYADO, 8.10.2019). – „Papageien von Madrid zum Tode verurteilt; Stadtverwaltung lässt Mönchssittiche abschießen; Tierschützer wehren sich“ (La Vanguardia, 26.11.2021). – „Warum die Sittiche in Spanien ein Problem sind“ (malditaciencia, 23.12.2021).
Die Auswahl an Schlagzeilen aus einer fast unüberschaubaren Fülle ähnlicher Meldungen, die man allein in Spanien zum Thema Invasive Arten von den Medien serviert bekommt, spiegelt – ich nehme die Pointe vorweg – einen bemerkenswerten Umschwung, einen Paradigmenwechsel innerhalb der ‚offiziellen‘ Umweltbewegung. Hinter EU-Richtlinie und nationaler Gesetzgebung zur Kontrolle und Bekämpfung sogenannter invasiver Arten steht der neue Geist eines – ich finde keine bessere Bezeichnung – Ökofundamentalismus.
„Streut ihnen Sand in die Augen!“ Was man einem gestrengen Oberförster des 19. Jahrhunderts unterstellen durfte: die unbarmherzige Ausmerzung ‚böser‘ Elemente in der Natur … zum Nutzen der ‚guten‘, der erwünschten, der ‚nützlichen‘ Pflanzen und Tiere (aber nichts gegen gestrenge Oberförster, die zu ihrer Zeit und mit den damaligen intellektuellen und praktischen Mitteln ein Optimum an Wald- und Umweltschutz erzielten), fliegt einer sich aufgeklärt und sensibilisiert dünkenden Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert um die Ohren. Überall, von den Lehrstühlen für Ökologie bis zum kleinsten Verein für Umweltschutz ist der romantische Heimatbegriff, der Heimatbegriff der Romantik (das ‚Eigene‘ gegen alles bedrohlich Fremde zu verteidigen, die heimatliche Scholle vom Unkraut – der bösen Saat, der Saat des Bösen – zu ‚säubern‘) kein No go mehr.
Sieg der Agrar-Lobbys. Wessen Agenda der Ökofundamentalismus in Wahrheit (und hoffentlich nicht wissentlich) betreibt, wird deutlich, wenn man sich ansieht, welche Umweltprobleme die Umweltpolitik europaweit und auf nationaler Ebene nicht reguliert; welche Praktiken in Wald und Feld, in Ställen, landwirtschaftlichen Verarbeitungsbetrieben und Lebensmittelfabriken – mit anderen Worten: in den Kernbereichen der Volkswohlfahrt – legistisch unberührt bleiben. Wozu sich bekanntlich erst unlängst ein ‚schönes‘ europäisches Lehrstück ereignet hat (zur Farce von Straßburg siehe oben, BLOG # 26, vom 22. Juni 2023, ‚Das Imperium schlägt zurück‘). Leicht ist es, Listen von unwerten Lebewesen (Noxious Wildlife) zu erstellen; unendlich schwer bis unmöglich hingegen, dasselbe mit notorischen Umweltfrevlern, Institutionen, Konzernen, Betrieben zu tun.
Zweierlei Maß … doch ganz so dumm ist ‚die Öffentlichkeit‘ nicht. Zurück zu den Sittichen. Mich persönlich machten besonders jene Aktionen der Stadtverwaltung von Málaga betroffen, bei denen man sich offenbar Madrid zum Vorbild nimmt. Málagas Umwelt-Verantwortliche sehen es neuerdings als ökologisch sinn- und wertvoll an, unter den zu einer geschäftig-lauten mediterranen Hafenstadt perfekt passenden, auch von den Malagueñas und Malagueños selbst in keiner Weise als störend empfundenen gefiederten Neubürgern zu wüten und mit ihren Rollkommandos selbst ernannter ‚Schädlings‘-Vernichter in diversen Botanischen Gärten und Parks einzufallen.
„Abstoßend und dämlich.“ Nun ja. Der sich da äußern zu müssen meint, ist freilich selbst irgendwie zugewandert; somit könnte man sein Verdikt mit guten, weil logischen Gründen unter der Rubrik ‚unmaßgebliche Meinung eines wenig demütigen Exemplars der invasiven Sorte‘ ablegen und entsorgen.
Doch ist der Zugewanderte nicht allein. Auch Autochthonen gehen die hysterischen Alarmrufe, mit denen die Kakophonie der wahren Umweltgefährder übertönt werden soll, gehörig auf die Nerven.
„Der Stadtrat von Madrid scheint eine Führungsrolle im Krieg gegen die argentinischen Papageien übernommen zu haben und arbeitet seit einigen Monaten an einem der radikalsten Kontrollpläne. Das Wort ‚Krieg‘ ist in diesem Fall nicht ganz metaphorisch zu verstehen, denn wie von der Tierschutzpartei Pacma angeprangert, schießt das von der Stadtverwaltung von Madrid mit der Bekämpfung der Papageien beauftragte Unternehmen diese Vögel einfach ab …“ (La Vanguardia, 26.11.2021).
„Die Tierschutzpartei hat die Entscheidung des Madrider Stadtrats scharf kritisiert, und ihre Beschwerden […] lösten eine Welle von Reaktionen aus. […] Pacma verurteilte die Schüsse und verlangte Erklärungen vom Bürgermeister von Madrid, José Luis Martínez-Almeida, und dem Delegierten für Umwelt und Mobilität der Hauptstadt, Borja Carabante, dessen Abteilung bestätigt hat, dass diese Maßnahmen im kommunalen Plan enthalten sind ...“ (ebd.).
Wie schnell es gehen kann. Für Ausrottungsbefürworter ist es von Papageien zu größeren Tieren kein weiter Weg. Auch dem populationsdynamisch ganz unauffälligen, weil regelmäßig bejagten Bestand von Mähnenschafen (Ammotragus lervia: Mähnenspringer, engl. Barbary sheep, span. Arruí) im Südosten Spaniens geht es an den Kragen. Früher als faunistische Kostbarkeit angesehen und entsprechend pfleglich behandelt (immerhin ist – war? – der Bestand von Murcia die einzige wildlebende Population dieser Spezies auf europäischem Boden), steht Ammotragus lervia mit auf der Liste auszurottender, weil ‚landfremder‘ Spezies (Real Decreto 630/2013, vom 2. August 2013).

Mähnenspringer © Kevin Floyd, Nachweis 1; Nachweis 2
Rechtfertigung: „Ammotragus lervia ist ja in seinem nordafrikanischen Lebensraum nicht bedroht.“
Antwort: Die ebenfalls in Nordafrika heimische Säbelantlope soll dort noch bis zur Jahrtausendwende in einigen tausend Exemplaren gelebt haben – heute ist sie aus der freien Wildbahn verschwunden, nämlich ausgerottet.
Nachsatz: Wie zum Beweis des oben Gesagten stuft die IUCN (International Union for Conservation of Nature) Ammotragus lervia neuerdings als „gefährdet“ ein.
Aber die zuständigen Umweltbehörden (nie war das Bild vom Bock-als-Gärtner passender, obwohl ... auch wieder nicht, weil in diesem Fall die Böcke die Opfer sind) haben im Naturreservat Sierra Espuña (vor fünf Jahrzehnten eigens zum Schutz des Mähnenspringers geschaffen) ganze Arbeit geleistet – die einzige europäische Population einer offiziell immerhin als gefährdet eingestuften Art ist praktisch verschwunden. Ausgerottet von (und ich bin überzeugt, dass dies harte Wort hier nicht leichtfertig oder ungerechtfertigt steht) fanatischen 'Ökologen', sprich Fundamentalökologen.***
Ein Fall für den Staatsanwalt? In der Sierra Espuña wurden innerhalb zweier Jahre über 600 Arruí getötet – unwaidmännisch getötet, unter Missachtung der simpelsten (jagdethischen) Grundsätze. Das sind über 90 Prozent des ursprünglichen Bestandes. Nicht von Jägern, wohlgemerkt, wurde das Massaker verübt ... sondern von (hier zögert man unwillkürlich bei der Wortwahl) ‚Naturschutzbeauftragten‘ der Behörden (nebstbei gesagt, gegen den Willen der lokalen Bevölkerung). Von Rücksicht auf das Tierwohl oder eine respektvolle Behandlung der Umwelt keine Spur: Getötete Tiere wurden einfach in der Landschaft liegen gelassen, Schonung führender Muttertiere gab es offenbar keine, wenn man die Bilder aus den Medien (verwaiste Kitze, die neben dem Kadaver des Alttiers ausharren) nicht zu Fälschungen erklären will. Geprüfte Jäger verlören im Normalfall mindestens ihre Lizenz ob solch unethischen Verhaltens – übrigens auch gemäß spanischer (Jagd-)Gesetzgebung.
Nicht dass man mich falsch versteht ... Gegen eine gezielte, punktuelle, mit Hausverstand und Augenmaß betriebene Kontrolle von allenfalls das ‚natürliche Gleichgewicht‘ bedrohenden Tier- oder Pflanzenpopulationen (wie immer man das dann, aus der Nähe betrachtet, interpretiert) ist überhaupt nichts einzuwenden. Da muss man das Rad nicht neu erfinden, hunderte bestens funktonierende Jagd- und Naturschutzverordnungen weltweit haben bewiesen, dass das klappt. Aber dem Ökofundamentalismus geht es offenbar um etwas Anderes. ‚Schädlich‘ ist stets absolut schädlich; das Ziel ist immer die Tabula rasa eines wieder hergestellten Urzustandes. Wieder hergestellt? Wieder vorgestellt. „Die Welt als Wille und Vorstellung“, um Schopenhauer zu zitieren. Den großen Tierfreund und Menschenfeind.
Übrigens … Auch wenn ihn die Begleiterinnen und Begleiter meiner ‚Selbstgespräche mit Lesern‘ bis zum Abwinken kennen; oder manche Besucher meiner Aufsätze und Bücher (jawohl, es soll dergleichen Personen geben) den Standardsatz schon nicht mehr hören können – hier ist er wieder: „Im übrigen bin ich der Meinung, dass zwischen Schützern und Zerstörern der Natur Krieg herrscht. Ein Krieg, der den Schützern von den Zerstörern aufgezwungen wurde. Und dem sie sich nicht entziehen können.“
Kann der Naturschutz den Krieg gegen Diebstahl und Raub, Ausbeutung, Brandschatzung, Plünderung und Vernichtung, den Kampf gegen die Zerstörung des Lebendigen und Schönen gewinnen? Wohl kaum. Dazu müsste er zuerst die Faktoren Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Berechnung und Gier ausschalten, eine Herkulesaufgabe, an der schon Herkules gescheitert ist. Muss er den Krieg dennoch führen? Unbedingt. Nichts ist weniger wahr als die Behauptung, erst müsse die Armut beseitigt, die soziale Frage gelöst sein, Liebe zur Natur und Wertschätzung ihrer Güter folgten dann von selbst. Wo doch, global gesehen, der steigende Wohlstand die Nachfrage nach den Gütern und Schätzen der Natur erst richtig anheizt und angeheizt hat – je seltener diese Güter und Schätze sind, desto mehr.
Strategie und Taktik. Deshalb bin ich der Meinung, dass sich der Naturfreund, die Naturfreundin pragmatisch fragen müssen, wo denn, wenn schon Krieg geführt werden muss, die Chancen auf temporären Erfolg – ich spreche nicht von ‚Sieg‘ – am größten sind. Strategisch gesehen, sind die eigentlichen Kriegsherren, die Auftraggeber und Profiteure der Plünderung von Naturschätzen, Vernichtung von Wäldern, Zerstörung von Pflanzen, Massaker an Tieren … nicht zu besiegen. Sie verbergen sich gut getarnt hinter Firmenkonstrukten, Netzwerken und Institutionen und entziehen sich dem direkten Zugriff. Möglicherweise führen sie den Naturschutz im Munde und machen exakt jene Gesetze, die sie dann ungeniert brechen. Es geht schließlich um Investitionen in ein Milliardengeschäft – und Öffentlichkeitsarbeit ist ein unverzichtbarer Teil der Geschäftspraktiken.
Um den Turm zu erobern, musst du die Bauern schlagen. Naturschutz-Strategie muss auf dem Schlachtfeld ansetzen und dort ihre Taktik der gezielten Nadelstiche entfalten. Wer sind die Schwächsten (aber gerade deshalb auch Brutalsten) im globalen Spiel der Naturzerstörung? Die kleinen Handlanger, die eigentlichen Beschaffer der begehrten Ware. Wer fällt und verbrennt die Tropenbäume? Wer killt das begehrte Wild, um an die kostbare Trophäe zu gelangen – das sprichwörtliche ‚weiße Gold‘ der Elefanten oder den prestigeträchtigen Kopfschmuck des Nashorns? Wer sind die bewaffneten Wilderer, wer die gewieften Schmuggler, die Hehler, die Transporteure, Zwischenlagerer und Zwischenhändler? Diese Fragen gilt es zu stellen und richtig – taktisch richtig – zu beantworten. Der Turm wankt, wenn man seine Fundamente untergräbt. Wenn er ordentlich, das heißt systematisch unterminiert wurde, fällt er in sich zusammen.
Zerstören oder korrumpieren? Die Frage der Manpower. Den klassischen Wilddieb, den romantischen Freischütz und alpinen Volkshelden hat es vielleicht so nie gegeben. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass es sich dabei um einen erfolgreichen – relativ, von einer prekären sozialen Nulllinie aus gemessen erfolgreichen –, mehr oder weniger skrupellosen Entrepreneur im Fleischbeschaffungsprozess, im Schmuggler-Business und Handel mit verbotener Ware (samt entsprechendem Risikoaufschlag) gehandelt hat. Literarisch-folkloristische Verklärung hin oder her – der Fall des alpinen Wilddiebs ist insofern lehrreich, als der Kampf gegen ihn ebenso typisch wie erfolgreich verlief.
Natürlich waren es keine ‚Naturschützer‘ im heutigen Sinn, keine WWF- oder Greenpeace-Leute, sondern Gendarmen, Wildhüter und Revierförster, die sich der volkstümlichen, also populären Jagd widersetzt haben. Fast schon genial daran war die dahinter stehende Logik: indem sie die Wilderei vom Standpunkt einer ‚ordentlichen‘ Behandlung der Natur aus betrachteten, konnten sie sie als illegale Plünderung der Natur definieren, und so haben diese Förster und Wildhüter das eigentliche Tun des Wildschützen als das entlarvt, was es in ökologisch-ökonomischer Hinsicht ist – kein Heroismus, sondern … siehe oben.
Daraus können Lehren gezogen werden für einen möglicherweise erfolgreichen Umgang mit der Manpower des internationalen Natur-Plünderungs-und-Verwertungs-Geschäfts. Also für eine möglichst effiziente Unterminierung der Basis besagten ‚Geschäfts‘. Zweierlei Maßnahmen führten in den mitteleuropäischen Revieren zur Zurückdrängung der Wilderei (die auf ihrem Höhepunkt, weit davon entfernt, das zu sein, was Literatur und Folklore später aus ihr machten, eine soziale, politische, schlussendlich auch kriminalistische Angelegenheit war, aus denen alle Beteiligten nur mit enormen – and in the end beziehungsweise in Wahrheit überflüssigen – Verlusten an Gütern und Leben herauskamen). Zweierlei Maßnahmen. Einerseits ‚erledigte‘ man das Problem durch die physische Eliminierung der unbelehrbarsten Elemente desselben, also der Wildschützen, also mit Waffengewalt. Andererseits ‚korrumpierte‘ man das System der Wilderei, indem man den fähigsten Wilddieben zu verlockenden ökonomischen Bedingungen den Übertritt ins legale Lager ermöglichte. Und in der Tat waren die tüchtigsten Gendarmen, die effizientesten Revierförster … ehemalige Freischützen.
Die Basis ‚umdrehen‘. Den Rückhalt haben Wilderer, Schmuggler von Naturschätzen, illegale Beschaffer von Tropenholz, Bushmeat, Elfenbein und Nashorn heute wie damals in der Solidarität lokaler Gemeinschaften, die objektiv oder subjektiv so ‚arm‘ sind, dass jede Aussicht auf einen noch so geringen Gewinn – auf einen Basislohn sozusagen – selbst größere Risken als annehmbar erscheinen lässt. Hier kann man einerseits direkt vorgehen, indem man das Risiko erhöht – das Beispiel des Revierförsters, der dem Wilddieb mit geladener Waffe begegnet.
Man kann aber auch das Armutsgefälle als solches verringern – einerseits in der lokalen Gemeinschaft selbst, wodurch die Solidarität mit dem illegal vorgehenden Gemeindemitglied (von dessen steigendem individuellen Wohlstand die Gemeinschaft in der Regel kaum bis gar nicht profitiert) geringer wird. Andererseits genügt es wahrscheinlich, den Wilderern ein finanzielles Angebot zu machen, das den vom bisherigen Auftraggeber gezahlten Sold um einiges übersteigt – schon hat man einen fähigen Ranger und Naturschutzagenten mehr, notabene wenn dieser auch noch gut mit Waffen umzugehen versteht. Wie man hört, gibt es bereits ermutigende Beispiele solcher zum Naturschutz-Paulus Bekehrter. Was einer Wagner-Truppe im Bösen gelingt – immer wieder neue Rekruten an Land zu ziehen, die für einen Sold, der so hoch nun auch wieder nicht ist, plündernd und mordend ihre Haut zu Markte tragen –, sollte doch auch im Guten möglich sein. Mutatis mutandis, versteht sich: Morde und Vergewaltigungen im Naturreservat machen sich schließlich eher nicht so gut.
(Im dritten und letzten Teil soll versucht werden, am Leitfaden der Ökologiegeschichte des Waldes Sinn und Unsinn der Fundamentalökologie zu erörtern)
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* Smetacek/Liedl 2017 = Melanie Smetacek / Gottfried Liedl: Born to be urban – Europas Paradiesvögel. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 140–181
** Links zu Mönchssittich, Halsbandsittich und zur Neozoen-Frage:
Link 1; Link 2; Link 3; Link 4; Link 5; Link 6; Link 7; Link 8 (Mönchssittich); Link 9 (Halsbandsittich); Link 10 (neue Spezies); Link 11 (exotische Vögel); Link 12 (Papageien in Málaga)
*** Zur Ausrottung des spanischen Vorkommens von Ammotragus lervia: Revista Jara y Sedal (6. Juli 2022)
Bitterer 'Gag' samt unfreiwilliger Komik gefällig? Die für die Ausrottung zuständige Organisation selbsternannter 'Hüter der natürlichen Ordnung' nennt ihr Projekt Plan de Ordenación de los Recursos Naturales del Parque – abgekürzt PORN. Na also.
In meiner Jugend (das war in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, und leider wird man nicht jünger) erlebte so mancher Zeitgenosse (mit oder ohne Jagdprüfung), wie es ist, sich dem Gefühl eines zart keimenden umweltpolitischen Frühlingserwachens hinzugeben.
Was redet er da – Jagdprüfung?
Jahrhunderte lang hatte die Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ auch für die Natur gegolten. Für den Weidmann waren die ‚guten‘ Tiere das sogenannte Friedwild (Rehe, Hirsche, Gämsen und anderes Getier in Wald und Fels, dem die Sorge und Fairness des Jägers notabene Hegers zu gelten hatte – obwohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Landwirte solche Weidgerechtigkeit nie wirklich akzeptierten; für sie galt und gilt das einfache Konkurrenzprinzip: außer ihnen selbst hat kein Lebewesen irgendeinen Anspruch auf die Früchte des Ackers). Und dann gab es die Bösen – die Jäger hatten sie ‚Raubwild‘ oder gar ‚Raubzeug‘ getauft … die wurden verfolgt. Das waren die Luchse, die Bären, die Wölfe … die Reihe ging hinunter bis zu den Füchsen, Mardern und Wieseln; in den Lüften galt die negative Aufmerksamkeit jener Jäger und Heger den sogenannten ‚Raubvögeln‘, den Adlern und Habichten; und dem gefiederten ‚Raubzeug‘, den Krähen und Elstern. In der Bekämpfung derselben – die alten Jagdgesetze nahmen sich da kein Blatt vor den Mund – waren vom Tellereisen bis zum Gift alle Mittel erlaubt. Was sage ich … Bekämpfung? Ausrottung hieß die Losung, wenn am Jägerstammtisch die Rede auf die ‚Bösen‘, die ‚Schädlichen‘ kam. Bonadeas Gatte, der „nicht nur Richter, sondern auch Jäger war“, sagt im Mann ohne Eigenschaften, „dass es einzig das Richtige sei, das Raubzeug allerorten ohne viel Sentimentalität auszurotten“ (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, I, Seite 261).
Eine ökologische Wende. Aber in den öffentlichen Diskurs – und Ehre, wem Ehre gebührt: die Jagdgesetzgebung war da ganz vorne mit dabei (jedenfalls im deutschsprachigen Raum) – kam Bewegung. Statt des Antagonismus der einzelnen Teile („nützlich-schädlich“) sah man ein Zusammenspiel im Ganzen, statt einzelne privilegierte Arten zu schützen, sollte eine Umwelt – sollten Habitate („mit allem, was dazugehört“) – erhalten, gefördert, ja wieder hergestellt werden. Leuchtturmprojekte wie die Wiederansiedlung des Wanderfalken, des Uhus, des Lämmergeiers und des Seeadlers, des Fischotters, der Wildkatze und des Luchses bereiteten die Öffentlichkeit mental, juristisch und praktisch auf die Rückkehr der großen Beutegreifer vor: des Wolfs und des Bären. Ja. Beutegreifer nannte man jetzt die einst als Räuber, Raubtiere und Raubzeug denunzierten Fleischfresser. Das 19. Jahrhundert mit seinem ‚Gut und Böse‘ in der Natur schien endlich überwunden.
Zu früh gefreut. Es gibt sie wieder, die Schädlichen, die Bösen. Sie heißen jetzt nur ein wenig anders: Neobiota, Neozoen und Neophyten, Alien Species … Ihre ‚Schädlichkeit‘ (yes, sir … der alte Begriff feiert in der europäischen Gesetzgebung als Noxious Wildlife fröhliche Urständ) entspringt wie seinerzeit einem Nützlichkeitskalkül; nur dass sich der Mensch, dem das ‚böse‘ Naturwesen einen Schaden zufügt (zum Beispiel der Wolf dem Schäfer, der Luchs dem Jäger) jetzt schlau hinter der Natur selber versteckt: hinter der einheimischen Natur, wohlgemerkt. Also gibt es noch eine andere, eine nicht-einheimische, eine ausländische Natur. Arten dieser ‚fremden‘, dieser feindlichen Natur müssen möglichst kostengünstig … ausgerottet werden („to eradicate such species in a cost-effective manner“: EU-Durchführungsverordnung der Kommission 2016/1141 vom 13. Juli 2016).* Oder wie es in der spanischen Version so schön, so unverblümt heißt: „Estas plantas deben ser eliminadas de raíz – diese Pflanzen müssen mit der Wurzel ausgerissen werden.“
Damit hat sich das Gut-Böse-Schema sogar ausgeweitet. ‚Gut‘ sind die Einen, die Naturschützer (wahlweise: Ökologen), ‚schlecht‘ oder böse (denn es setzt Strafen für jene, die sich an die neue Sprachregelung und Gesetzeslage nicht halten) die Anderen – jene Rücksichtslosen, welche ‚fremde‘, sprich ‚böse‘ weil ‚ausländische‘ Lebewesen dulden, fördern oder gar einführen, sprich ‚einschleppen‘ (gemäß einer bestimmten Diktion mit politischem Zungenschlag) – vielleicht in Anlehnung an die ‚Schlepper‘, die fremde Menschen heranschaffen?
„Aber es geht doch um die Artenvielfalt.“ In den Erläuterungen zur EU-Richtlinie werden unter invasive alien species jene Arten verstanden, durch deren Existenz „die biologische Vielfalt bedroht oder negativ beeinflusst“ wird. Biologische Vielfalt wessen – eines bestimmten (begrenzten) Gebiets; eines größeren (nationalen) Territoriums; eines ganzen Kontinents? Auf welchen Zeitpunkt bezieht sich der Begriff: auf die Zeit vor dem erstmaligen Auftreten einer neuen (‚fremden‘) Art? Und was, wenn dieser Zeitpunkt schon so lange zurückliegt, dass man die genaue Artenzusammensetzung, also besagte ‚biologische Vielfalt‘ gar nicht mehr exakt rekonstruieren kann? Und muss somit nicht unter ‚biologischer Vielfalt‘ die Gesamtheit aller Arten inclusive der später oder ‚neu‘ hinzu gekommenen verstanden werden? Das jedenfalls geböte die Logik der Sprache und ihrer Syntax (‚Vielfalt‘ impliziert das Ganze eines beobachteten Ensembles). Aber wir wollen nicht beckmesserisch sein. Wo die Richtlinie ohnedies von sich aus preisgibt, dass der Begriff ‚biologische Vielfalt‘ nur vorgeschoben ist.
Es geht um die Artenvielfalt? Nein. Um Homo sapiens. Die EU-Richtlinie macht klar, dass es, wie weiland in der Rede vom ‚Nützlichen‘ und ‚Schädlichen‘, einzig um jenen Nutzen geht, der dem Menschen erwächst. Bedroht durch invasive alien species seien vor allem die sogenannten ecosystem services, belehrt uns der Gesetzestext – ein Begriff, der gemäß den Erläuterungen am Ende des Texts „die direkten und indirekten Beiträge von Ökosystemen zum menschlichen Wohlbefinden (direct and indirect contributions of ecosystems to human wellbeing)“ bedeuten soll. Na also, warum nicht gleich? Warum so schüchtern … Als ob sich die industrialisierte Landwirtschaft (nur ein Beispiel, werte Damen und Herren Agrarier) jemals groß den Kopf zerbrochen hätte über (hier darf gelacht werden) … Biodiversity.
Mit dem Schlagwort human wellbeing (besonders in der eigenen freien Übersetzung als „We feed the world“) kann sie da schon mehr anfangen.
(Wird fortgesetzt)
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* Links zur EU-Gesetzgebung (Kampf gegen Neobiota und invasive Arten): Link 1; Link 2
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Postscriptum: Was kann Wissenschaft? Am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Veterinärwissenschaftlichen Universität Wien wird eine Professur für Movement Ecology eingerichtet. Erforscht werden sollen die wachsenden Grauzonen dicht besiedelter Landschaften, in denen sich Lebensansprüche von Wildtieren mit Nutzungsansprüchen des Menschen überschneiden. Man möchte zum Beispiel klären, was es mit den Wanderungen von Wölfen oder Bären auf sich hat; ob und warum Hirsche und Rehe in ihren Waldeinständen bleiben oder wenn nicht, wie sehr sie dabei auf Verbauung und Verkehr reagieren beziehungsweise in welchem Ausmaß sie von menschgemachten Veränderungen des Lebensraums beeinflusst werden.
Abgesehen davon, dass der Bereich 'menschgemachte Umwelt' mittlerweile „eh alles“ umfasst, was einem als Tier heutzutage begegnet: Was nützen die best erforschten Tatsachen und klügsten Vorschläge seitens der Wissenschaft, wenn sie von einer obstinaten Gesellschaft samt indolenter Politik ignoriert werden?
„Warum der Wolf wandert, ist mir doch sch...egal. Ich mag ihn da nicht haben, basta!“
Da kann sich die werte Wissenschaft – wie sagt man in Österreich so schön? „Brausen“.
Als ich vor mehr als 50 Jahren als ganz schön grüner Junge zum ersten Mal in Spanien war, um mit einem kleinen Team im Auftrag des ORF einen Dokumentarfilm zur Kulturgeschichte der Iberischen Halbinsel zu drehen, war der Generalissimus Franco noch an der Macht; Mädchen wurden von ihren Vätern und Brüdern strenger gehütet als weiland der Zugang zur Unterwelt vom dreiköpfigen Cerberus; und ein Paar handgenähter Lederstiefel, die ich mir in der Madrider Innenstadt kaufte, waren so preisgünstig, dass geschäftstüchtigere Menschen als ich gleich ein halbes Dutzend davon erworben hätten. Mit den neuen Stiefeln an den Füßen ging es zum nächsten Kiosk, wo ich mich nach meiner Gewohnheit mit den wichtigsten örtlichen Journalen einzudenken gedachte. Dort las ich zum ersten Mal den Namen Félix Rodríguez de la Fuente, er stand auf dem Titelblatt einer Hochglanzbroschüre. Natürlich erwarb ich das Heft, das sich mit der afrikanischen Megafauna befasste und vom Porträt eines prächtigen Kaffernbüffels geziert war, ohne zu ahnen, dass ich damit die erste Nummer einer der erfolgreichsten Projekte seiner Art in Händen hielt, die jemals in Spanien veröffentlicht wurden (18 Millionen verkaufte Exemplare). Das Heft, das heute ein kleines Vermögen wert wäre, besitze ich leider nicht mehr – dafür aber die Gesamtausgabe der ein wenig später als Enzyklopädie in Buchform herausgebrachten Reihe (31 Bände).* Zusammen mit der ‚Schwesteredition‘ zur iberischen Fauna (Fauna Ibérica, 30 Bände)* steht damit eine bibliophile Kostbarkeit in meinem Bücherschrank, für die mittlerweile in der Szene der Naturalistas (zumindest wenn es sich um die Erstauflage handelt) ebenfalls recht ordentliche Summen geboten werden, wie ein Blick ins Netz zeigt. Es ist daher nur logisch, dass mein spanischer Schatz im andalusischen Landhäuschen einen Ehrenplatz hat – gleich neben der (freilich schon recht zerfledderten) Erstausgabe des großen Brehm.
Der spanische Alfred Brehm. Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklopädie Salvat de la Fauna (1970–1973) betrat der 1928 geborene Félix Rodríguez de la Fuente zugleich mit der spanischen die Bühne der Welt – vor allem in Lateinamerika gilt er als Begründer des modernen Naturschutzgedankens, was nicht verwundert, da er schon in seiner spanischen Heimat der unbestrittene Held der Ecologistas war.
Es gäbe weder die äußerst lebendige Szene des Senderismo – die für mediterrane Verhältnisse fast paradox anmutende Wanderbewegung (ich erinnere mich an ein Interview mit der Sängerin Montserrat Caballé, worin sich die spanische Künstlerin über deutsche Waldes- und Wanderlust mokierte und behauptete, im Spanischen existiere nicht einmal ein Wort für ‚Wandern‘) –, noch gäbe es die ausgeprägte Naturliebe, geschweige denn das verblüffende Faible der jüngeren Generationen für den Wald, so behaupte ich kühn, ohne den großen Naturfreund und Propagandisten der Tier- und Pflanzenwelt, Falkner und Wolfsexperten aus León.
Ich selbst, nachdem ich das sagenhafte Heft Nr.1 der Fauna mehr nebenbei als im vollen Bewusstsein seiner Bedeutung erstanden hatte, stieß Jahre später auf die Fernsehserie Fauna Ibérica – Der Mensch und die Erde, eine Produktion des Spanischen Schulfernsehens (Televisión Escolar), die der ORF in Lizenz ausstrahlte. Wieder war ich – wie drücke ich mich präzise aus? – baff. Da gab es im äußersten Südwesten des Kontinents zur mitteleuropäisch-romantisch-naturalistischen ‚Volksbildung‘ (von Brehm über Grzimek zu Lorenz, um es sehr flapsig, sehr schlampig, sehr pointiert zu formulieren) ein kongeniales Gegenstück. Mehr noch: diesem Mann aus León war für die spanisch-sprachige Welt gelungen, was Heinz Sielmann, Bernhard Grzimek und Co. für Mitteleuropa, was Sir David Attenborough für die angelsächsiche Hemisphäre (und somit für den Rest der Welt) geleistet hat. Auch darüber gibt das gesammelte Wissen im Netz Auskunft: „Sein Team bestand aus jungen Biologen, darunter Miguel Delibes de Castro, Javier Castroviejo, Cosme Morillo und Carlos Vallecillo. […] Delibes erinnerte sich daran, die Enzyklopädie [Enciclopedia Salvat de la Fauna] noch Jahre später unter den Fachbüchern in den meisten europäischen naturwissenschaftlichen Museen gesehen zu haben“ (vgl. Link 1; Link 2; Link 3).**
Gedanken eines Mediterranen über den Wald. Bevor ich den kleinen Text vorstelle, worin der ‚Spanische Alfred Brehm‘ einen, vielleicht sogar ‚den‘ Gordischen Knoten der Ökologiegeschichte – die Behandlung des Waldes durch den Menschen – nein, natürlich nicht zerschlägt sondern meisterhaft-minutiös in allen Windungen und Verschlingungen beschreibt, erlaube ich mir eine Vorbemerkung.
Bei der Verachtung des Waldes (und dem Hass gegen ihn) geht es sowohl um Handfestes als auch … ja, doch: Metaphysik. Der geschichtlichen Reihe, die von ‚Römischer Kultur‘ über das Christentum zum Mittelalter führt, entspricht auf symbolisch-psychologisch-kultureller Ebene eine ebenso konsequente Entwicklung im Naturverständnis. Mit einer wichtigen Einschränkung! Denn obwohl die mediterrane Kultur an der zunehmenden Naturferne des ‚zivilisierten‘ Menschen eine Mitschuld trifft (ein zentraler Aspekt im Text von Rodríguez de la Fuente), beginnt die eigentliche Orgie des Hasses erst mit dem Christentum und dessen Feldzug gegen alles Heidnisch-Naturreligiöse. Die germanische Donar-Eiche hat kein Römer gefällt sondern ein angelsächsisch-christlicher Missionar.
Im Hercynischen Wald. Beginnen lässt Rodríguez de la Fuente seinen Text über das Schicksal des Waldes mit Zeugnissen aus der Feder antiker Autoritäten – es sind deren zwei, Cäsar und Tacitus, und beide nicht ganz unverdächtig, weil alles andere als unparteiisch. Der Politiker Cäsar möchte seinen Landsleuten schmeicheln, indem er sie vor dem Hintergrund barbarischer Gegenden und Völkerschaften als die ‚Zivilisierten‘ hinstellt, denen die Herrschaft über ‚die Wilden‘ rechtmäßig zusteht. Der zivilisationskritische Tacitus wiederum warnt seine Landsleute vor den Folgen der Dekadenz und zeichnet das Bild eines zwar in düsteren Wäldern hausenden, darum aber auch abgehärteten, gesunden (vor allem moralisch gesunden) Menschenschlags, welcher der ‚zivilisierten‘ Menschheit den Spiegel vorhält.
„Im Hercynischen Wald lebten Bisons, Auerochsen, Hirsche, Wildschweine und Bären. Im undurchdringlichen Dickicht herrschten aber auch die Barbaren – also Völker, welche, weit entfernt von allen Feinheiten der Zivilisation, in den Augen der Römer keiner näheren Betrachtung wert waren. Vielleicht müsste man bis zu jener Trennlinie zurück gehen, wo sich erstmals Menschen des Neolithikums, Bürger wohlhabender Stadtstaaten und Krieger künftiger Großreiche vom urwüchsigen Bewohner der Wälder am Rande der Welt distanzierten, vom Jäger mit seiner steinzeitlich anmutenden Kultur. Dort nahm auch der Hass seinen Anfang, der Hass, den ‚der Zivilisierte‘ gegen den Wald hegt. Hass und Verachtung haben innerhalb weniger Jahrhunderte eine unvorstellbar reiche Welt zerstört“ (Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 f.).*
Die Warnung des Ökologen. Der spanische Naturalist mit seiner eigenen mediterranen Geschichte – voller Erzählungen von ökologischer Rücksichtslosigkeit und ökologischer Vernunft, angefüllt mit Weisheiten und Lehren im Gefolge von Krisen – blickt auf den Rest der Welt. Ihm, dem gewitzten Mediterranen, genügt die rationalistische Erklärung von der Nutzen-orientierten Ausbeutung der Natur nicht. Er sieht ein zutiefst psychologisches, ein tiefenpsychologisches Moment dahinter. „Ereignet hat sich das in Europa, Ähnliches geschah aber auch in Asien und später in Nordamerika. [Aber] der Hunger nach Holz für Industrie- oder Bauzwecke allein genügt nicht als Erklärung für die massiven Verwüstungen im Reich der Wälder – vor allem der Laubwälder. Im Konflikt zwischen zwei unumkehrbaren und antagonistischen Kulturen – der Altsteinzeit, die sich an die Umwelt anpasste, und der Jungsteinzeit, die sie veränderte – fiel der Wald als ‚Feind‘ den neuen Herren des Planeten zum Opfer. Und weil es unglücklicher Weise leichter ist zu zerstören als zu begreifen, hat der Mensch, mit Axt und Pflug bewaffnet, die Bäume eliminiert statt sie weise zu nutzen. Der Vormarsch der Zivilisation ging mit der grausamsten Abholzung einher, und nur Diejenigen leisteten Widerstand, die sich wie der legendäre Robin Hood aus welchen Gründen immer der herrschenden Ordnung entzogen; sie ließen sich in den Wäldern nieder, fanden in ihnen den idealen Rückzugsort und eine perfekte Basis für ihren Kampf.“
Die Pointe kommt zum Schluss – der Hinweis auf den christlich-antiheidnischen Untergrund der Waldgeschichte. Das ‚kleine schmutzige Geheimnis‘ (Friedrich Nietzsche) europäischer Denkungsart wird zwar nicht laut ausgeplaudert, doch mittels Zitats unabweisbar nahegelegt. „Wie uns Jean Dorst erklärt,“ – der Umweg über Frankreich, den Hort der Aufklärung, ist schwerlich Zufall – „war die Zerstörung der Wälder die große Obsession des Mittelalters, da ‚der Wald mit der Barbarei identifiziert wurde, die zum Wohle der Zivilisation (wie sie sich in den Nutzpflanzen und Biotopen einer humanisierten Welt präsentiert) zurückgedrängt werden musste'“ (Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1331 f.).* Humanisiert, christianisiert – egal. Die Aufklärung hat beides ununterscheidbar gemacht. Fast ununterscheidbar gemacht, wie der Skeptiker rasch ergänzt.
Von der Iberischen Halbinsel in die Welt – die ökologische Aufhebung der Leyenda negra. Mit dem Begriff Leyenda negra, ‚Schwarze Legende‘, schlägt sich die Geschichtsschreibung herum, seit es diese Legende gibt – denn die Rede vom sinistren Charakter der iberischen Nationen wurde gleichzeitig mit den spanischen und portugiesischen Eroberungen einer beziehungsweise vieler (vermeintlich) Neuer Welten in Umlauf gebracht. Die anderen europäischen Nationen waren keineswegs edlere Eroberer und ‚Entdecker‘ – sie waren bloß, was das In-die-Welt-Setzen von Schwarzen Legenden betraf, in publizistischer Hinsicht schneller und in der politisch-ideologischen Verwertung derselben geschickter. So blieb von den unzähligen Gräueln einer europäischen Expansion, von den ökonomischen und ökologischen Verwüstungen und Verwerfungen vor allem das einschlägige Tun der Iberer in Erinnerung. Ein später Sohn besagter iberischer Nationen hat den ökologischen Spieß umgedreht und die in Wahrheit weltweite Geltung des Satzes ‚Wo des Menschen Fuß hintritt, wächst kein Gras mehr‘ von der Iberischen Halbinsel aus in theoretischer und praktischer Hinsicht bewiesen. Weniger verklausuliert gesprochen: Der Spanier Félix Rodríguez de la Fuente hat aus Naturliebe quasi im Nebeneffekt auch zur Ehrenrettung seiner seit 1492 in ein welthistorisch schiefes Licht geratenen Nation beigetragen. Er widmete, heißt es im Netz, „seine Zeit […] der Rettung verschiedener Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind, insbesondere des Wolfs [… und brachte es fertig, für ihn] Respekt und Wertschätzung seitens der Gesellschaft zu schaffen, ähnlich wie er Jahre zuvor dasselbe für Greifvögel erreicht hatte […]. Weitere Tiere, die von ihm geschützt wurden, waren der iberische Bär, der Luchs, der Steinadler und der Kaiseradler. [… Gegenstand seiner Fürsorge waren auch] die Dünen von El Saler, der Park von Doñana, der Nationalpark Tablas de Daimiel, der Berg El Pardo und die Laguna de Gallocanta, einer der größten Seen Spaniens in der Autonomen Region Aragonien“ (vgl. Link 1).**

Der spanische Alfred Brehm mit einem seiner vor dem Tod durch Erschlagen geretteten Wölfe © El Español / Odile Rodríguez de la Fuente (Link)
Das Bestreben, die ökologische Sensibilisierung seiner engeren und weiteren Heimat (Spanien, West- und Mitteleuropa) im Weltmaßstab abzubilden, also das ab 1492 wenig menschen- und naturfreundlich gestartete Projekt der Iberer nachträglich wenigstens hinsichtlich der Natur zu korrigieren, hat ihn schließlich das Leben gekostet. Die letzte seiner zahlreichen Expeditionen, die alle den Zweck hatten, der Welt die Augen zu öffnen für Schönheit und Gefährdung einer einzigartigen Flora und Fauna (das mag pathetisch klingen, ist aber trotzdem nicht falsch), führte ihn nach Alaska, wo er am 14. März 1980, genau an seinem 52. Geburtstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
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* Literatur:
Félix Rodríguez de la Fuente: Fauna ibérica. El hombre y la tierra. Enciclopedia Salvat de la fauna ibérica y europea. 30 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1991–1995
Félix Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna. 31 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1993–1995
Der zitierte Text ist aus Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 ff.
Bücher von Jean Dorst (1924–2001), eine Auswahl:
Les migrations des oiseaux. Payot: Paris 1956
Les animaux voyageurs. Hachette: Paris 1964
La force du vivant. Flammarion: Paris 1979
La planète vivante [mit David Attenborough]. Delachaux et Niestlé: Neuchâtel (Lonay) – Paris 1985
La faune en péril [mit Gaëtan Du Chatenet]. Delachaux et Niestlé: Lausanne (Lonay) – Paris 1998
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Zum Weiterlesen:
Robert Pogue Harrison: Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. München – Wien 1992
Ein Buch, das ich jedem Waldläufer, jeder Waldläuferin (und solchen, die es noch werden wollen) aufrichtig empfehlen kann.
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** Links zu Félix Rodríguez de la Fuente (Biographie, Lebenswerk): Link 1; Link 2; Link 3
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Sachdienliche Nachbemerkungen zur Rettung der Welt. Oder so ähnlich. Mindestens eine ganze Generation und Hunderte Artensterben- und Klimadiskussionen später … Des spanischen Alfred Brehm Nachfahren im Geiste, so sie jung genug für die Sinnfrage sind, wie sie sich am Anfang des Erwachsenendaseins zu stellen pflegt (oder auch nicht zu stellen pflegt), machen sich Gedanken über die Berufswahl. Aus der Empörung zum Protest und von dort ins Machen und Tun zu kommen, hat nichts an Aktualität verloren und ist auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive, wenn ich so sagen darf, ganz schön brisant. Oder wie es DIE ZEIT No 29 vom 6. Juli 2023 auf Seite 29 ihrer Beilage ‚GREEN‘ durch den Mund ihres Korrespondenten Uwe Jean Heuser schmissig formuliert: „Rund zehntausend Tage arbeiten Menschen in ihrem Leben. Eine Initiative will dafür sorgen, dass sie es fürs Klima tun und nicht dagegen“.
Welche Zukunft ist gemeint? Jede Aufbegehrende, jeder Empörte macht früher oder später die Erfahrung, dass Betonwände den Utopien etwas Entscheidendes voraus haben: ihre Festigkeit. Eine gleichgültige Zivilgesellschaft, die es sich zwischen politischer Einfalt, professionellem Beharrungsvermögen und wirtschaftlichem Schlendrian bequem gemacht hat, stellt beim leisesten Lufthauch, der sie aus der Zukunft erreicht, den Kragen hoch. Fridays for Future war als Ereignis dashing, aber in der Wirkung mau.
Warnung an die Leserschaft: jetzt wird es abstrakt … sprich philosophisch. Wer sich von Philosophen nicht gerne an der Nase herumführen lässt, ist somit höflich eingeladen, die Sache zu überspringen und den Faden allenfalls einen Absatz weiter unten wieder aufzunehmen.
Die Lehre lautet: Niemals auf das Einsehen der Menge hoffen und schon gar nicht auf das Einlenken von Politik und Wirtschaft. Jene, denen diese Lehre ins Stammbuch zu schreiben wäre, lassen sich (vom Standpunkt einer bestimmten Philosophie aus) als Verfechter einer Zukunft mit mehr als nur einer Option beschreiben; die andere Seite, die ihnen als geschworene Hüter des Status quo widerspricht (und dem Einspruch nicht selten ein Quantum Backpfeifen und Nasenstüber folgen lässt), muss man dann, derselben Logik folgend, bezüglich ihrer Zukunftshaltung Verfechter einer Wirklichkeit mit nur einer einzigen Option nennen. Ende des philosophischen Einschubs.
Angesichts des stets drohenden Szenarios, sich an der Betonmauer des Satus quo die Nasen blutig zu stoßen, ist Verfechtern einer Wirklichkeit mit mehr als nur einer Option (von ihren Gegnern ‚Utopisten‘ genannt) somit zu raten, sich mit dem Status quo (und dessen Hütern) – nein, nicht anzufreunden sondern präzise und kühl zu beschäftigen und nach der berühmten Achillesferse Ausschau zu halten.
Diese Achillesferse der Konkurrenz-basierten Volkswirtschaft kennt mittlerweile sogar der einfache Provinzpolitiker, der versucht, neue Gewerbebetriebe in seinem Wirkungsbereich anzusiedeln, nach der Devise „Wollen tät‘ ich ja, aber können kann ich nicht“.
Warum das so ist, liest sich im Feuilleton eleganter und präziser formuliert, aber der Sache nach identisch: „Volkswirtschaftliche Zahlen zeigen, wie dringend das Land mehr Menschen in Handwerk und Technik braucht. […] Insgesamt fehlen [der deutschen Wirtschaft] 216.000 Arbeitnehmer vor allem in der Bautechnik, der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie der Informatik“ (DIE ZEIT, ebd.).
Achillesferse einer retrograden Status-quo-Gesellschaft … Das Beharren auf ‚alten‘ Industrien und ‚bewährten‘ Verfahren hat ein Feld von enormem volkswirtschaftlichen Potenzial brach liegen lassen. Anders gesagt, indem man sich weigert, Zukunft als nicht-lineares, ‚offenes‘ Ereignis wahrzunehmen (stattdessen liest man sie als bloße Fortschreibung der Gegenwart, was unter dem Gesichtpunkt der Wahrung von Besitzständen natürlich eine konsequente und angemessene Haltung darstellt), überlässt man sie – die nicht-lineare Zukunft – und es, das damit verbundene volkswirtschaftliche Potenzial – lieber den anderen: „Vor rund zehn Jahren hat das Land [Bundesrepublik Deutschland] 150.000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie kampflos an die chinesische Billigindustrie abgegeben – und damit den Glauben an grüne Jobs lange erschüttert“ (Energieökonomin Claudia Kemfert, zit. nach DIE ZEIT, ebd.). Eine klimafitte Volkswirtschaft aus dem Geist der Revolte sieht anders aus.
Geist der Revolte und der Glaube an grüne Jobs. Man kann die Gretchenfrage einer möglicherweise klimafitten, ergo dessen resilienteren Volkswirtschaft (um noch einmal die Konkurrenz-basierte Ökonomie zu bemühen) auch so stellen: „Will man als Monteur Gasheizungen einbauen oder Wärmepumpen? Als Softwareexpertin die Konsumwerbung im Internet optimieren oder Apps fürs Energiesparen entwickeln?“ (Uwe Jean Heuser, in DIE ZEIT, ebd.). Offenbar stellen sich diese Frage immer mehr Menschen an der Schwelle zum Ernst des Lebens vulgo Berufswahl. Denn, wie man hört, ist auf dem Arbeitsmarkt das sogenannte Climate-Quitting, also das Kündigen oder Ablehnen umweltschädlicher Jobs, der letzte Schrei. Friday for Future hat auch da wieder die Nase vorn (und, wie man sieht, die Sache mit der Betonwand – siehe oben – perfekt kapiert). Beispielsweise so: Um „selbst ins Handeln zu kommen“ (Helena Merschall von Fridays for Future in DIE ZEIT, ebd.), organisieren Experten und Expertinnen aus dem Fridays-Umfeld in Zusammenarbeit mit Fachfirmen der Kategorie ‚grüne Arbeitgeber‘einschlägige Lehrgänge mit Job-Appeal.
Oder wie es der Feuilletonist ausdrückt: „Jede Person kann an der Wende mitwirken, das ist die ermächtigende Botschaft. […] Wettbewerb und Wachstum sind also auch hier nicht fern. Mit jedem, der seine 10.000 Tage fürs Klima einsetzt, wächst die Wucht der Welle von unten.“
Gut gebrüllt, Löwe? Optimistisch gestimmt, wie ich derzeit bin, sage ich ja.
Dazu BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022 (Bison, Wisent und der Rest – wer sie wirklich gerettet hat); BLOG # 12 vom 5. Dezember 2022 (zum Wisent-Skandal)
„In Wirklichkeit mögen Bauern die Natur ja gar nicht.“ – „Ich weiß, dein Credo. Dein ‚Ceterum censeo‘. Dein ländliches Trauma.“ –
„Weniger Trauma als Erkenntnis. Ich schlage die Zeitung auf: Wandernder Bär verliert auf bayrisch-tirolerischer Alm sein Leben. Der Wolf als Volksfeind … neue Bauernkriege … Seeadler vergiftet aufgefunden … Luchs im Nationalpark gewildert … Da legt man die Zeitung am besten gleich wieder weg.“ – „Und widmet sich seiner Misanthropie?“ – „Sozusagen.“
Kulturgut Böser Wolf. Es erscheint logisch, dass Hirten keine Freunde anderer Beutegreifer sind. Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt: es scheint so. Denn von welchen Hirten sprechen wir? Denen auf dem Balkan, in Griechenland? Den italienischen? Den Hirten in Spanien? Nicht dass man dort Meister Petz und Isegrim Lobeshymnen singt … aber ausgerottet hat man sie nicht. (Man muss ja nicht gleich zum Mongolen werden, der den Wolf nicht nur nicht verfolgt sondern schätzt: als Gesundheitspolizist seiner Herden).
Der Böse Wolf ist Ausdruck einer kulturellen Befindlichkeit. Charaktertier einer Geschichte, worin der ländlichen Gesellschaft nördlich der Alpen die Zerstörung eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete der Erde – Cäsar und Tacitus sind Zeugen – als ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ gutgeschrieben wird. Als sich dann anstelle der alten, locker und nachhaltig bewirtschafteten (daher auch nur sogenannten) ‚Wildnis‘ die neuen Siedlungen, Felder, Wiesen und Weiden dicht an dicht zusammendrängen, bleibt für Hase, Wildschwein, Reh und Hirsch kein Platz (erst recht nicht für Wolf, Bär und Luchs). Richtig ist, dass die mittelalterliche Agrarrevolution zu erstaunlichem Bevölkerungswachstum führt. Richtig ist aber auch, dass dies auf Kosten des Waldes geschieht, auf Kosten einer Jahrtausende alten (das Wort ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt) Harmonie. Einer Convivencia, eines Zusammenlebens von Mensch und Natur (anscheinend kam man ja ganz gut miteinander aus). Als dann die Jäger und Köhler den Hirten und Bauern, den Rindern, Schafen und Ziegen weichen mussten, entstand die ‚zivilisatorische‘ Erzählung vom Bösen Wolf. Wo man sich auf die Füße tritt (und aus Armut selbst Grenzertragsböden unter den Pflug nimmt), gedeihen Lehrstücke des Neides und der Eifersucht. Historische Abläufe lassen sich nur schwer zurückbiegen. Traditionen schon gar nicht. Die einmal angenommene Attitüde bleibt. Selbst dann, wenn es den Grund dafür längst nicht mehr gibt.
Des Einen Leid, des Andern Freud‘. Wer sich nicht vor dem bösen Wolf fürchtet. Aufmerksam im Weltweiten Netz unterwegs, stößt man nicht nur auf Banalitäten sondern manchmal sogar auf Bezeichnendes, ja einigermaßen Überraschendes. Etwas, das man so nicht erwartet hätte, ist zum Beispiel die Broschüre der Österreichischen Bundesforste mit dem schlichten Titel Aktiv für große Beutegreifer: Bär, Luchs und Wolf.

Broschüre des WWF und der Bundesforste, 2. überarbeitete Auflage, Februar 2017 (PDF)
„Die großen Beutegreifer haben jahrhundertelang die europäische Landschaft besiedelt und sind daher Teil der europäischen Fauna. Auch in Österreich sind Bär, Luchs und Wolf als autochthone Tierarten Bestandteil heimischer Ökosysteme. Wissenschaftliche Studien belegen auf eindrucksvolle Weise, dass es in Österreich noch ausreichenden und aus ökologischer Sicht geeigneten Lebensraum für Bär, Luchs und Wolf gibt“ (Aktiv für große Beutegreifer, Einleitung, Seite 3). – So weit, so eindeutig. Zumindest aus – wie man es ausdrücken könnte – ‚wissenschaftlich-neutraler‘ Sicht. Der Tiroler oder Kärntner Herdenbesitzer würde den Sachverhalt wohl ein wenig anders formuliert haben.
Das Spannende an der Angelegenheit ist der Interessensgegensatz. Zu Wolf, Bär und Luchs haben Förster und Försterinnen eine ebenso klare Meinung wie die Leute aus der Landwirtschaft – nur anders herum: „Große Beutegreifer spielen bei dem Ziel, die biologische Vielfalt zu erhalten und die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen zu sichern, eine wichtige Rolle. […] Die Rückkehr der Wölfe [… führt zu] einer dramatischen Verminderung der Verbissschäden am Wald“ (Einleitung, Seite 5). Wer sich regelmäßig mit Forstleuten unterhält, wird auch keine andere Antwort erwartet haben – bezüglich der Beutegreiferfrage ist im Walde alles gut, was auf Wiesen und Weiden schlecht ist. Jede Hilfe gegen den (in den Augen der Waldverantwortlichen viel zu hohen) Bestand der Jungbäume äsenden und Rinde schälenden Rehe oder Hirsche ist willkommen. Und wer meint, das könne der menschliche Jäger ebenso gut, wird zumindest bei Forstleuten mit dieser Meinung nicht sehr weit kommen. Die haben ihre eigenen Erfahrungen mit überhöhten Wildbeständen und nicht erfüllten Abschussplänen.
Das große Spiel der Antagonisten. Die Seiten und Rollen sind klar verteilt, je nachdem, welchen Anspruch auf welchen Teil der Landschaft jemand macht; selbst im Wald ‚spießt es sich‘ (Jäger als unzuverlässige Helfer der Forstleute haben wir schon erwähnt, einig sind sich diese mit den Waldleuten nur bezüglich Mountainbiker und anderer Sportler: „Die gehören weg.“)
Die Eingangsfrage, nochmals gestellt: Sind Förster die besseren Bauern? Sie sind es, wenn man ins Treffen führt, dass es auch in der Frage der großen Beutegreifer um den Interessensausgleich aller Naturnutzer geht. Das vom Jäger so geschätzte Wild macht ja auch vor Feldfrüchten nicht Halt (und Wildschweine im Maisfeld stehen eher nicht auf dem Wunschzettel des Bauern, der Bäuerin). Dies bedenkend, sollten gerade die agrarischen Gewinnmaximierer für Wildschwein-verzehrende Wölfe Verständnis aufbringen.
Kein Verständnis für Bär, Wolf & Co. darf man vom – notabene alpinen – Touristiker erwarten, nicht selten in Personalunion auch als Hütten- oder sonstiger Wirt in Erscheinung tretend. „Aber das Vieh! Schafe und Kühe sind für eine klimafitte Offenlandschaft im Gebirge unverzichtbar. Deine geliebten Wölfe bedrohen unsere kostbaren Almen.“ – „Und der klimafitte Bergwald? Der dafür sorgt, dass deine für die Volkswirtschaft so unverzichtbare Schihütte nicht eines Tages unter Geröll- und Schneelawinen verschwindet? Und wenn wir schon dabei sind – welchen Beitrag für eine klimafitte Almlandschaft leisten Schipisten, Lifttrassen und Beschneiungsanlagen?“
Wir fassen das Streitgespräch seinen Grundsätzen gemäß zusammen. Wolf, Bär & Co. sind gut für den Wald, schlecht für Tiere der Almen (und ergo dessen auch nicht eben förderlich für deren menschliche ‚Beschützer‘ – Beschützer in Anführungsstrichen, wohlgemerkt; das gilt insbesondere für jene ‚Beschützer‘ der Berglandschaft, welche dieselbe so ungemein, um nicht zu sagen unverschämt idyllisch darzustellen pflegen, dass man am Wahrheitsgehalt besagter Darstellung zweifeln darf). Den Argumentenmix erweiternd und noch zuspitzend mag ein kritischer Geist anführen, dass – immer gemäß der oben angewendeten Logik – auch Mountainbiker, Schifahrer und Bergsteiger ‚schlecht‘ sein können – für Almen und Wälder.
Verwirrspiel der Stellvertreter und Vorgeschobenen. Bleibt noch die Frage zu klären, wer die eigentlichen Gewinner oder, je nach Perspektive, Verlierer sind (und ich meine jetzt nicht Luchs, Bär und Wolf …). Anders gefragt: Wer steckt hinter den Bauern? Und wer hinter den Bergbauern?
Auf die erste Frage mag die Anwort lauten: Großagrarier und Rohstoffbörsianer. Auf Frage zwei: Großtouristiker und Ortskaiser.
Na also. Nichts ist wie es scheint. Nein, nichts ist wie uns glauben gemacht wird, dass es sei. Fragen über Fragen. Übrigens: Von Kühen ist bekannt, dass sie prinzipiell nicht abgeneigt sind, Touristen – also die vielzitierten zahlenden Gäste – zu töten (und von Bären scheint dasselbe für Jogger zu gelten). Von ähnlichen Gelüsten bei Wölfen schweigt die Chronik. Jedenfalls bis dato.
Der Wolf im Schafspelz oder: Dubai im Weinviertel. Wölfe und Bären wollen wir nicht auf unseren Wiesen und Weiden sehen. Wölfe und Bären fressen unser Vieh. Und ohne unser Vieh würden die Almen verschwinden! So spricht der moderne Landwirt. Er wäre aber nicht ‚moderner Landwirt‘, könnte er nicht auch ganz anders. Dann ist das mit der Erhaltung und Bewahrung gleich viel weniger ernst gemeint.
„In Grafenwörth werden hunderte Häuser auf die Wiese gebaut – trotz Klimakrise und schwindender Böden. Der Bürgermeister – und Präsident des Gemeindebunds – freut sich. Er hat viel Geld verdient. Hunderte Häuser stehen aufgefädelt am Wasser. […] Das Rendering erinnert an Dubai, an die prahlerisch grünen Wohnanlagen mitten in der Wüste. Doch das Baufeld liegt nicht in der Wüste. Es bettet sich in satte Futterwiesen, Kornfelder, Äcker. […] Es ist ein Projekt, das in Zeiten der Klimakrise und schwindender Böden niemand für möglich gehalten hätte. [… Der Bürgermeister] hat damit viel Geld verdient.“ Die Details gleichen den Phänomenen, die man von anderen vergleichbaren Vorgängen ‚auf dem Lande‘ gut genug kennt; sie können bei Bedarf (oder wenn der Blutdruck zu niedrig ist) nachgelesen werden.*
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* Das Dubai vom Weinviertel. Wiener Zeitung, Online-Ausgabe vom 3.7.2023 (LINK)
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Man kann sich auch wehren. Postscriptum zur Erbauung sensibler Weltbürger. Das Faktum ist nicht neu, wohl aber die Reaktion darauf. 50.000 Elefanten jährlich (bei derzeit noch etwa 450.000 Exemplaren weltweit) kostet die Gier nach Stoßzähnen das Leben – besser gesagt die Gier nach ziemlich risikolos ‚erwirtschafteten‘ hohen Renditen. Damit sich das Risiko zumindest für die kriminellen Banden und korrupten Beamten, welche die begehrte Schmuggelware den ausländischen Großinvestoren verfügbar machen, signifikant erhöhe, ist seit einiger Zeit ein Team von verdeckten Ermittlern in neun afrikanischen Ländern tätig. Männer und Frauen, die ihrerseits jedes erdenkliche Risiko auf sich nehmen, um die kriminellen Netzwerke zu infiltrieren und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, arbeiten, wie es heißt, „äußerst effektiv und zerschlagen illegale Elfenbein-Syndikate, die bis zu 100.000 Elefanten auf dem Gewissen haben“.*
Möge ihnen der Elefantengott weiterhin Glück bringen und Erfolge bescheren.
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* Avaaz, Newsletter vom 4.7.2023