„Botanische Weltenbummler“ – was soll das sein? Sind das kosmopolitische Botaniker? Oder Pflanzen, die um die halbe Welt gereist sind, um an ihren Standort zu gelangen? Wenn man Berichten aus früherer Zeit (als es noch Abenteuer gab) Glauben schenken darf, offensichtlich beides:
„Im Zeitalter wunderbarer Entdeckungen [… haben wir] die Geheimnisse der Natur enthüllt und erforscht; eine neue Physiologie ward eingeführt. Es ist ein Zeitalter täglicher Fortschritte in allen Wissenschaften, vor allem in der Pflanzengeschichte. Zu diesem Zweck haben nicht nur Privatleute, sondern auch Fürsten und Großgrundbesitzer viel Energie darauf verwandt, neue Blumen für ihre Parks und Lustgärten zu finden, und zu diesem Zweck Pflanzenjäger ins fernste Indien entsandt: Diese haben Gebirge und Täler durchstreift, Wälder und Ebenen, jeden Winkel der Erde durchforscht und alles, was verborgen war, ans Licht und vor Augen gebracht.“
So der englische Pflanzenforscher John Ray im Jahr 1690 (zitiert bei Pavord 2010, Seite 419).* And rightly so. Wenn wir uns heute die Botanischen Gärten der Städte und Metropolen mit ihrer Pflanzenvielfalt ansehen; wenn wir die Bewegungen auf den Getreide- und Rohstoffbörsen der Welt studieren; bei jedem Gang durch den Supermarkt; im Restaurant, beim sprichwörtlichen Italiener, Chinesen, Inder … Wir werden den Ergebnissen obgenannter Reisen besagter ‚Pflanzenjäger‘ begegnen, und sei es auch nur als Ingredienzien eines köstlichen Risotto oder schmackhaften Chilli. Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon im letzten Dorf des hintersten Winkels eben dieser Welt vorbeigeschaut hätte. Ganz zu schweigen von jenen, die gekommen sind, um zu bleiben.
Weltsystem. Dass das ganze irgendwie mit Globalgeschichte zu tun hat, ist eine naheliegende Vermutung. Die denn auch gleich einen weiteren Begriff ins Spiel bringt: Weltsystem. Dieses ist ein „vom amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein vorgelegtes Konzept, […] welches die traditionellen, früher wirtschaftlich und politisch unabhängigen Gesellschaften immer mehr integriert. […] Das Weltsystem […] expandierte im Zuge der Industrialisierung und des Kolonialismus […] in andere Kontinente“ (Lexikon der Geographie, Eintrag ‚Weltsystem‘).**
Das aber ist erst die halbe Wahrheit. Denn jenes Weltsystem als Voraussetzung für Austausch und Transfer – ob, wie von Wallerstein postuliert, einseitig-übervorteilend oder doch eher gleichgestellt-symmetrisch, sei vorerst dahingestellt – gab es, wenn die Quellen nicht lügen und die historischen Anzeichen nicht trügen, schon früher. Um genau zu sein, rund 300 Jahre vor jenen Ereignissen, die als Industrialisierung und Kolonialisierung bezeichnet werden. Manche sehen in diesem Prozess sogar die ‚Europäisierung (der Welt)‘.
Es begann im Mittelalter. Anders lagen die Dinge im Fall des ‚ersten‘, des vormodernen Weltsystems. Bereits im 13. Jahrhundert existierte ein großer transkontinentaler Bereich, wirtschaftspolitisch zusammengehalten von zwei – nennen wir sie ruhig weltumspannenden – Handelsrouten: Ein System von Landverbindungen im Norden, ein weiteres, maritimes System im Süden. Zusammen bildeten sie einen geschlossenen Kreislauf „von Flandern nach Fernost“, einen geschlossenen Geld-Waren-Kreislauf, der zahlreiche europäische, asiatische und afrikanische Untersysteme dauerhaft miteinander verband.
Die vormodernen Subsysteme: 1 = Europa (Handelsstädte, Feudalstaaten, Italien: Seestädte); 2 = Mongolen; 3 = Fernost; 4 = Vorder- und Hinterindien, Inselindien; 5 = Islamische Staatenwelt; 6 = Sudan- und Sahelstaaten; 7 = Nubien, Äthiopien; 8 = Reich von Monomotapa
Demnach verbindet bereits im 13. Jahrhundert ein System aus regionalen und überregionalen Handelskreisläufen, die einander überlappen, Wirtschaftsräume über Tausende Kilometer hinweg. Gemeinsam stiften diese ‚circuits‘, wie die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Janet Abu-Lughod sie nennt,* einen größeren Zusammenhang, der sich wirtschaftlich-kulturell, aber auch politisch artikuliert und die damals bekannte Welt in einem bis dahin unbekannten Ausmaß geeint erscheinen lässt. Von Flandern, Südengland, dem Rheinland und den Märkten der Champagne im Westen bis ins ferne China reicht diese Welt, verbunden durch regelmäßige, beständige und intensive Handelsbeziehungen. Diesen mittelalterlichen transkontinentalen Austausch mag man – oder mag man nicht – eine erste, eine vormoderne Globalisierung nennen.
Pflanzen (und Tiere) von Ost nach West. Nochmals unser Risotto: Dass wir dieses typisch italienische Gericht in jeder besseren Trattoria zu uns nehmen können (wie übrigens auch die famose Paella beim Spanier um die Ecke), verdanken wir – erraten: dem mittelalterlichen Weltsystem. Durch Vermittlung islamischer Agrarexperten in den Westen gebracht wurden der Reis und die Baumwolle, die Zitruspflanzen und die Dattelpalme (heute in Südspanien und auf Kreta zu bewundern), nebst verschiedenen Gemüsesorten, Gewürz- und Heilkräutern. Sogar die Banane wurde den mediterran-europäischen Klimaverhältnissen angepasst. Importiert und akklimatisiert wurden auch ertragreiche Hirsearten und das Zuckerrohr. Ebenfalls im Mittelalter gelangten durch Vermittlung islamischer Spezialisten die als Futterpflanze unschlagbare Luzerne (Medicago sativa L.) sowie der Alexandrinerklee nach Europa. Die spanische Bezeichnung der Luzerne, Alfalfa, erinnert sprachlich an die arabische Herkunft dieser wichtigen Nutzpflanze, über die in der Fachliteratur zu lesen ist, dass sie die wichtigste Futterpflanze in trocken-heißen Gebieten sei.
© G.Liedl
Auch wenn es nicht ganz hierher gehört – das Thema Tierleben sei zumindest angerissen. So kannte man in Europa vor der islamischen Ära den Wasserbüffel nicht. Der Lieferant der unvergleichlichen echten Mozzarella, die aus Büffelmilch gemacht wird, ist heute in Süditalien und auf Sizilien heimisch, aber auch auf dem Balkan und in Ungarn, wohin ihn am Beginn der Neuzeit die Osmanen brachten. Die europäische Pferdezucht verdankt ihre edelsten Rassen ebenfalls diesem mittelalterlichen Ost-West-Transfer. Und das Merinoschaf, das beste Wollschaf der Welt würde ohne seine ersten Züchter aus dem Hohen Atlas auch nicht existieren. Genauso wenig wie die feine Wolle der Angoraziege Anatoliens ohne den Ost-West-Transfer durch islamisierte Turkstämme der heutigen Textilindustrie zur Verfügung stünde.
Modern Times. Was im Mittelalter begann, setzte sich in der Neuzeit fort – auf wesentlich höherem Niveau und mit ungleich nachhaltigeren Folgen; um nicht zu sagen: Mit ungleich eindrücklicherem Erfolg. Ökonomische Interessen stehen dabei im Vordergrund, sind aber nicht die einzige Antriebskraft für expansives Verhalten; Wissen und Wissenserwerb spielen eine nicht weniger bedeutende Rolle. Die nun anbrechende Zeit der Aufklärer, Physiokraten, Naturwissenschaftler und Philosophen spiegelt ideologisch wider, was sich ökonomisch und politisch auf den Weltmeeren ereignet. Den neuen Kurs, den europäische Schiffe in immer größerer Zahl über immer besser erforschte Meere nehmen, um immer größere Mengen an erlesener Fracht aus exotischen Gegenden in ihre Heimathäfen zu bringen, kann man mit den neuen Diskursen vergleichen, die in besagten Heimathäfen geführt werden: Diskurse, in denen die Biologie in Gärten und Menagerien voller interessanter, weitgereister Gestalten, Objekten eines unermüdlichen Pflanzen- und Tiertransfers, erörtert wird.
Vormodernes und modernes Weltsystem. Einen entscheidenden Unterschied zwischen vormodernem und modernem Weltsystem gibt es jedoch; nämlich die Tatsache, dass im vormodernen System die einzelnen Teile und Player sozusagen auf Augenhöhe mit einander verkehrten, wohingegen das moderne System eine schiefe Ebene bildet, an deren oberer Kante die Player (West-) Europas stehen; sie bilden gemeinsam, aber auch untereinander rivalisierend, das Zentrum, um hier den Ausdruck zu verwenden, den auch Wallerstein benützt.**
Das schlägt sich sogar in der Art und Weise nieder, wie die Systeme ihre Tier- und Pflanzentransfers durchführten. Dabei fällt als Hauptunterschied die Verbreitungsrichtung auf: Im Mittelalter gab es eine klar erkennbare Ost- Westachse; diese bildet die prinzipielle Gleichwertigkeit von Sender (Ost) und Empfänger (West) während der Blüte des vormodernen Weltsystems ab. Aus dem Westen kommt das im Osten hochbegehrte Edelmetall, meist Silber; aus dem Osten das jeweilige Äquivalent in Gestalt der nachgefragten Waren, in unserem Falle neuartige, hochproduktive Pflanzen samt dazu gehöriger elaborierter Agrartechnik.
Dass in der Neuzeit dann die Verteilung der transferierten Pflanzen (Mais, Tomate, Kartoffel; Zuckerrohr, Baumwolle, Kaffee; Soja, die Ölpalme, der Kautschukbaum) und Tiere (Pferd, Rind, Schwein, Schaf; Jagdwild wie Rot- und Damhirsch ... um nur die wichtigsten zu nennen) in alle Richtungen geht – ein Prozess, der bis heute anhält –, lässt sich verblüffend einfach mit der ebenfalls sämtliche Erdteile umfassenden, vom ‚Zentrum‘ Europa aus gesteuerten Kolonisierung der Welt, ihrer Unterwerfung unter ein einziges dominantes Kalkül erklären. Industrialisierung – der agro-industrielle Komplex – hat mit der europäischen Expansion das gemeinsam, dass er von einem Quasi-Punkt ausgehend, in sozusagen konzentrischen Kreisen das größere Ganze durchdringt, bis – zumindest in der Theorie – sämtliche Punkte dieses Ganzen erreicht sind und überall eine einheitliche Qualität hergestellt ist.
Wie war das doch gleich mit den kosmopolitischen Reisenden und ihren Produkten? Zwar soll man sich nicht selbst zitieren … dennoch: Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon mal im letzten Dorf des hintersten Tals vorbeigeschaut hätte.
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* Literatur:
Janet L. Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350. New York-Oxford 1989;
Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997;
Anna Pavord: Wie die Pflanzen zu ihren Namen kamen. Eine Kulturgeschichte der Botanik. Berlin 2010;
Pirmin Suter: Pflanzen, Botschafter der Globalisierung. In: Gottfried Liedl | Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 11–32
Empfehlenswerte (noch) unveröffentlichte Beiträge zum Thema ‚Pflanzentransfer‘:
Sarah Abdul Kader: Die Dattelpalme und ihre Globalisierung: Zwischen Symbolik und Verbreitung. BA-Proseminararbeit, Sommersemester 2020 | Universität Wien: Wien 2020 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Anton Büchel: Das Erbe Al-Andalus' auf der Iberischen Halbinsel mit besonderer Berücksichtigung von Zitrus- und Palmenkultivierung. Geschichtswissenschaftliche Arbeitstechniken und Archivkunde, Sommersemester 2013 | Universität Wien: Wien 2013 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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David Kaufmann: Quellen der Irrigationssysteme in al-Andalus. Islamische und prä-islamische Perspektiven. BA-Proseminararbeit, Wintersemester 2021 | Universität Wien: Wien 2022 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Tobias Mairhofer: Herrschaft, Ökonomie, Botanik: Ein Modell für die Nutzung von Botanik als Impulsgeber in der Landwirtschaft im Emirat Granada. Abschlussarbeit, Seminar „Frühmoderne im Islam. Die Landwirtschaft in der islamischen Welt. 8. - 16. Jh.“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Sommersemester 2018). Wien 2018 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Caroline Schnur: Avocado – der heißumkämpfte „Smaragd“ Mexikos. Ökologische und soziale Folgen einer Agrarproduktion im Zwiespalt zwischen exhaustiver Landnutzung und blutigem Drogenkrieg. Abschlussarbeit, Proseminar „Europäische Expansion | Ökologie | Globalisierung“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Andjelo Smoljo: Die Entwicklung von Globalisierung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Abschlussarbeit, Seminar „Umwelt- und Agrargeschichte aus globalhistorischer Sicht“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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** Lexikon der Geographie: Weltsystem