Man wird mir vielleicht raten wollen, mit dem Schwelgen in Erinnerungen aufzuhören. Es sei naiv, so zu tun, als wären Zeiten des Aufbruchs und der guten Absichten – Zeiten utopischer Strömungen, die sich ‚Verbesserung‘ (möglicher Weise sogar der Welt) an die Fahnen hefteten – nicht schon immer auch zynische Zeiten gewesen. Hermann Hesse in Amerika?* Ein deutscher Spätromantiker und Wandervogel als Steppenwolf? Wiederentdeckt von einer Jugend mit ungewaschenen Füßen und langen Haaren, die irdische Paradiese für machbar hält? Nun – sentimental mag sie gewesen sein, die Aufbruchstimmung der schnellen Jahre einer jugendkultigen Umweltbewegung; zynisch war sie nicht. Also gut – noch nicht.
Wissen auf Rädern – The Whole Earth Truck Store. Der amerikanische Sachbuchautor Andrew Kirk (Counterculture Green) betont den praktisch-reformistischen Ursprung des Whole Earth Catalog. Er erinnert an den (man ist versucht zu sagen ‚amerikatypischen‘) Umstand, dass dem emblematischen Buch das emblematische Automobil vorausgegangen ist.
„Whole Earth Truck Store“ hieß das mobile Labor, ein Lastwagen der Marke Dodge, Baujahr 1963, mit der sich im ‚Revolutionsjahr‘ 1968 der damals 29-jährige Steward Brand und seine Frau Lois auf einen „Kommunal-Roadtrip“ begaben, „in der Absicht, zu den verschiedenen Bildungsmessen im Land zu reisen. Der Truck war nicht nur ein Geschäft, sondern auch eine alternative Leihbibliothek und ein mobiler Mikrobildungsdienst“ (Wikipediaeintrag).**** Selbst eine Art Hippie, verkaufte Brand seiner Peer Group praktische Utopie – seine Angebote nannte er tools, „Werkzeuge“ –, und sein Hauptangebot, sein „meistverkauftes Werkzeug war […] der von ihm kommentierte Katalog voll mit Werkzeugen, die nicht in seinen LKW passten“ (Kevin Kelly, Herausgeber späterer Ausgaben des Whole Earth Catalog: Wikipedia, ebd.).**** Wie man sieht, fällt nichts fertig vom Himmel, auch nicht ein genialer Katalog.
Der „Truck Store“ ließ sich schließlich in Menlo Park, Kalifornien, nieder. Dort entstanden „immer größere Versionen des Werkzeugkatalogs“ (Kevin Kelly). Und eines schönen Tages war sie dann selbst da, die Ausgabe # 1 des Whole Earth Catalog. An dieser Stelle halten wir inne, um den Blick auf das zu richten, was Truck Stores und Kataloge der geschilderten Art überhaupt erst möglich gemacht hat: die optimistische Geschichte einer Umweltbewegung in Kalifornien, die zu Steward Brands Zeiten schon ein dreiviertel Jahrhundert alt war. Begonnen hatte sie (wenn man denn unbedingt des symbolträchtigen Anfangs bedarf) mit der Gründung eines Vereins namens Sierra Club.
Der Sierra Club … Naturschutz als Gesellschaftsvertrag. Der Sierra Club ist die älteste und größte Naturschutzorganisation der Vereinigten Staaten. Er wurde am 28. Mai 1892 in San Francisco vom Naturschützer John Muir sowie einigen Professoren der University of California, Berkeley, und der Stanford University gegründet. Nach eigenen Angaben hat der Club heute etwa 2,4 Millionen Mitglieder in den USA und weitere 10.000 Mitglieder in Kanada.
„Zweck des Sierra Clubs sind Erkundung, Genuss und Schutz der wilden Orte der Erde; er möchte den verantwortlichen Umgang mit dem Ökosystem der Erde und den Ressourcen üben und fördern; er möchte die Menschheit dazu erziehen und dafür gewinnen, die Qualität der natürlichen und menschgemachten Umwelt zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen; und alle rechtmäßigen Mittel zur Realisierung dieser Ziele zu nutzen.“ Aus der Präambel des Gründungsdokuments.
In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens machte sich der Verein vor allem für die Schaffung von Nationalparks in den USA stark. Verdienstvoll war auch sein Kampf für den Schutz der Mammutbäume und die Verhinderung des Baus des Echo Park Dam im Dinosaur National Monument in Utah, und das zu einer Zeit (um 1950), als Umweltthemen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielten und technische Großprojekte überall begrüßt wurden. Seit den 1960er Jahren setzt sich der Club auch für die Einführung von Umweltstandards ein; Gesetze wie der United States Clean Air Act, der Toxic Substances Control Act oder der Surface Mining Control and Reclamation Act von 1977 verdanken ihre Existenz zu einem guten Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Sierra Club.
In Anlehnung an den berühmten Gesellschaftsvertrag der Aufklärung (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique) könnte man das Wirken des Sierra Club (und seiner Nachfolger im Geiste) als einen ‚anderen‘ Gesellschaftsvertrag, einen der Spätaufklärung und der Postmoderne bezeichnen, worin die Gesellschafter nicht nur einer einzigen Art (nämlich Homo sapiens) angehören.*** Einen solchen artüberschreitenden contrat social beförderten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch einzelne herausragende Persönlichkeiten der Intellektuellen- und Wissenschaftler-Szene; auch dies eine Bedingung der Möglichkeit, dass educational truck stores durch die Lande tingeln … Wir sind und bleiben beim Thema.
The good American: Wissenschaft. Everything is connected to everything else. Der US-amerikanische Biologe und Ökologe Barry Commoner, Autor mehrerer einflussreicher Sachbücher über Umweltschutz,** gilt als einer der führenden frühen Vertreter der modernen (nord)amerikanischen Umweltbewegung. So steht es im Netz.**** Als Professor für Biologie (Washington University, St. Louis, ab 1947), als Professor für Geo- und Umweltwissenschaften (ab 1981, Queens College, City University of New York) blieb Commoner schwerpunktmäßig Pflanzenphysiologe, aber mit untrüglichem Gespür für die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Gesellschaft. Im von ihm selbst gegründeten Center for the Biology of Natural Systems gab es die ersten umfassenden Forschungen zu Ökosystemen.
The good American: Aufklärung. Barry Commoner (auch das steht im Netz und ist somit nicht nichts sondern common sense) gilt als einer der Begründer der modernen amerikanischen Umweltbewegung, also jener zweiten Welle, jenes Relaunch um 1950, der sich durch eine revidierte Schwerpunktsetzung auszeichnete. Neue Gesichtspunkte waren etwa die Atomwaffentests: Commoner gründete 1959 das Greater St. Louis Citizens’ Committee for Nuclear Information, dessen Untersuchungen für die Atomlobby verheerend waren und wohl in John F. Kennedys neue Strategie mit eingeflossen sind (1963 Unterzeichnung des Moskauer Atomstoppabkommens). „Commoners Fähigkeit, Wissenschaft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie daran teilhaben zu lassen, trug wesentlich zum politischen Erfolg der Untersuchung bei.“ ****
Als Umweltwissenschaftler führte er ganzheitliche Sichtweisen in die Theoriebildung ein, was zu ganzheitlichen Verfahren führte, die er in der Forschung anwenden konnte. Dieser Holismus war ein absolutes Novum für die auf empiristisch-reduktionistische Methoden vertrauende Naturwissenschaft seiner Zeit.
Seine viel zitierten (weil auch witzigen) ökologischen Gesetze, erstmals veröffentlicht im Buch The Closing Circle von 1971, zwei Jahre später erschien die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Wachstumswahn und Umweltkrise“,** lauten: Erstens, „Alles steht mit allem in Verbindung“ (Everything is connected to everything else); zweitens, „Alles muss irgendwo bleiben“ (Everything must go somewhere, also: Glaubt nicht, irgend etwas unter den Teppich kehren zu können); drittens, „Die Natur weiß es besser“ (Nature knows best); viertens, „So etwas wie Gratismahlzeiten gibt es nicht“ (There is no such thing as a free lunch).
Barry Commoner war Gründer der Umweltpartei Citizens Party. Bei der Präsidentschaftswahl 1980 trat er als Kandidat für diese Partei an. Er erhielt knapp 0,3 % der abgegebenen Stimmen. Nun ja. Viel ist anders. Aber … Everything is connected to everything else. Da nach diesem Satz auch die Wenigen mit den Vielen verbunden sind, wäre das … ein Hoffnungsschimmer?
Everything is connected to everything else. An diesen Satz knüpfte der Whole Earth Catalog an. Besonders in pragmatischer Hinsicht. Der Katalog von 1968 gliederte sich in sieben große Abschnitte: Ganze Systeme verstehen; Behausung und Landnutzung; Industrie und Handwerk; Kommunikation; Gemeinschaft; Nomaden; Lernen. In jedem Abschnitt wurden die besten Werkzeuge und Bücher zusammen mit Bildern, Rezensionen, Anwendungen, Preisen und Lieferanten zusammengestellt und aufgelistet. Holistisch war auch die „Werkzeug“-Definition. Es gab informative Hilfsmittel wie Bücher, Karten, Fachzeitschriften, Kurse. Es gab Gartengeräte, Tischler- und Maurerwerkzeuge, Schweißgeräte, Kettensägen, Glasfasermaterialien, Zelte, Wanderschuhe und Töpferscheiben. Es gab sogar frühe Synthesizer und Computer.
Im aufgeschlagenen Zustand offenbarte der Katalog seinen hybriden Charakter: Links Textbuch, Lehrbuch, Enzyklopädie – rechts Marktplatz der Dinge und Waren. So konnte man beispielsweise auf der linken Seite Texte und Illustrationen aus Joseph Needhams Science and Civilization in China abgedruckt finden, mit einem astronomischen Glockenturm oder einer ausführlich kommentierten Kettenpumpen-Windmühle. Auf der rechten Seite präsentierte sich dann die Ware selbst – ein Fachbuch der modernen Technologie für Anfänger, inklusive Rezension. An anderer Stelle bespricht die Rückseite Bücher über Buchhaltung und Nebenjobs, während auf der Vorderseite ein Artikel steht, in dem Menschen die Geschichte einer von ihnen gegründeten Kreditgenossenschaft erzählen. Auf einem weiteren Seitenpaar werden verschiedene Kajaks, Schlauchboote und Hausboote dargestellt und besprochen.
Als Kind ihrer Zeit trat die Publikation alles andere als schüchtern auf. Mehr ist mehr oder Nicht kleckern, klotzen: „Die übergroßen Seiten hatten ein Format von 28 x 36 cm (11 x 14 Zoll). Spätere Ausgaben waren mehr als einen Zoll dick. […] Der sogenannte ‚Last Whole Earth Catalogue‘ (Juni 1971) gewann den ersten U.S. National Book Award in der Kategorie ‚Contemporary Affairs‘. Es war das erste Mal, dass ein Katalog eine solche Auszeichnung erhielt“ (Netzeintrag).****
Die Veröffentlichung des Katalogs fiel mit dem Höhepunkt einer alternativen Strömung, Geisteshaltung, Denkungsart zusammen, die man als eine Fusion von Experimentalismus mit Do-it-yourself-Allüren beschreiben könnte, und mit der die typische Gegenkultur – nicht nur die amerikanische – seit jeher verbunden ist. Angesprochen wurden also die Schwarmintelligenz des Movements, aber auch der einzelne Kreative, der alternativ lebende Outdoor-Mensch in seiner Landkommune. Wenig verwunderlich, dass der Whole Earth Catalog zum Vademecum einiger Kreativer wurde, die ein Ding entwickelten, das sich Drop City nannte.
Drop City, Mutter aller Landkommunen. Das digitale Gedächtnis hat in bündiger Form folgende Fakten, als der Überlieferung wert, in die Cloud gestellt: „Drop City war eine Künstler-Community der Gegenkultur, gegründet 1960 in der Nähe der Stadt Trinidad im Süden Colorados. Bekannt geworden als ‚erste ländliche Hippie-Kommune‘, wurde der Ort im Jahre 1979 wieder aufgegeben und verlassen.“ ****
Namen sind, entgegen landläufiger Meinung, keineswegs Schall und Rauch. Drop City liefert den vierfachen Beweis in Gestalt seiner Gründerväter und -mütter sowie deren Namen: Gene Bernofsky („Curly Benson“), JoAnn Bernofsky („Drop Lady“), Richard Kallweit („Larry Lard“) und Clark Richert („Clard Svenson“), allesamt Kunststudenten und Filmemacher der Universitäten Kansas und Colorado. Für das Projekt eines ‚lebenden‘, dynamischen Gesamtkunstwerks – besagte Drop Art (die von manchen auch shit, ‚Kot‘ genannt und in Happenings, ‚Ereignissen‘ à la John Cage, Robert Rauschenberg, Allan Kaprow oder Buckminster Fuller präsentiert wurde) – hatte man ein 7 Acres (28.000 m2) großes Stück Land gekauft. Dorthin pilgerte bald eine ansehnliche Schar interessierter Fans. Inspiriert von den architektonischen Ideen Buckminster Fullers und Steve Baers bauten die Bewohner aus geometrischen Platten, die sie aus Autodächern herausschnitten, sehr typische kuppelförmige Behausungen:
Wohnhaus in Drop City © Archive / Drop city
Der Höhepunkt des Ruhms von Drop City war das Joy Festival im Juni 1967, das Hunderte von Hippies anzog, von denen einige blieben. Zu den zahlreichen innovativen Unternehmungen, die aus Drop City hervorgingen, gehören – um nur drei zu nennen – ein frühes Solarenergieunternehmen, die Künstlergruppe Criss-Cross, die in den 1970er Jahren in New York und Colorado aktiv war, und in den frühen 1980er Jahren „die wichtige Entdeckung einer kubischen Fusion sich durchdringender fraktaler Tetraeder“ durch den Objektkünstler Richard Kallweit („Working with mathematical patterns“).****
Von Drop City selbst ist außer einigen Trümmern und Gebäuderesten nichts geblieben. 1979 war der Ort aufgegeben worden; die Mitglieder der gemeinnützigen Organisation, in deren Obhut das Projekt damals stand, hatten beschlossen, das Gelände an den Rancher von nebenan zu verkaufen. Die letzte der ikonischen Kuppeln wurde erst Ende der 1990er Jahre vom Besitzer einer LKW-Reparaturwerkstatt, die sich heute auf einem Teil des Geländes breitmacht, abgerissen. Sic transit gloria mundi.
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* Hermann Hesse in Amerika: „In den bewegten sechziger Jahren wurde das Werk [Der Steppenwolf] zum Kultbuch einer Generation, einem Buch, das junge Leser begeisterte […]. Die Wirkung hält seitdem unvermindert an, so dass Hesse auch mehr als 60 Jahre später aufgrund seiner ethisch-spirituellen Sichtweisen enorm populär ist. […] In den USA wurde der Steppenwolf in den 1960er Jahren als unmoralisch mehrfach aus Bibliotheken entfernt. In Colorado wurde dem Roman vorgeworfen, er propagiere Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen. Infolge dieser Umstände wurde eine neue umfangreiche Hesse-Rezeption während der 60er und 70er Jahre in Amerika und Deutschland ausgelöst“ (Wikipedia – oder Wie man es auch sagen kann).
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** Barry Commoner, Schriften (Auswahl):
- Science and Survival. Viking Press, New York 1966.
- The Closing Circle. Nature, Man, and Technology. New York 1971.
- Wachstumswahn und Umweltkrise. Einführung von Klaus Mehnert. Bertelsmann 1973, ISBN 3-570-04596-X.
- Energieeinsatz und Wirtschaftskrise. 1977, ISBN 3-499-14193-0 (englisch: The Poverty of Power: Energy and the Economic Crisis. New York 1976).
- Radikale Energiewirtschaft : konkrete Kursänderung in der Energiepolitik. 1980, ISBN 3-922594-04-2 (englisch: The Politics of Energy. New York 1979).
- Making Peace With the Planet. Pantheon Books, New York 1990, ISBN 0-394-56598-3.
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*** Kritische Nachbemerkung zum Sierra Club. Wie zum klassischen Gesellschaftsvertrag die Guillotine der Französischen Revolution mitgedacht gehört, so auch zur postmodernen Umweltbewegung ihre spezifische Versuchung, ihr typischer Sündenfall: Käuflichkeit. Im Jahr 2008 hat den Sierra Club der Fluch des Pragmatismus ereilt. In einem Abkommen mit dem Chemiekonzern Clorox (2004 von der Public Interest Research Group als einer aus dem „gefährlichen Dutzend“ von Chemiekonzernen bezeichnet) verpflichtete sich der Club, eine Reihe von Clorox-Produkten zu bewerben. Der Vertrag brachte dem Club Einkünfte in Höhe von 1,3 Millionen US-Dollar … Zwischen 2007 und 2010 nahm dann die Erdgas-Industrie den Platz der Chemieindustrie ein und spendete 25 Millionen US-Dollar. Größter ‚Unterstützer‘ war Chesapeake Energy, der seinen Rohstoff unter anderem mit dem besonders umweltschädlichen Fracking aus der Erde holt. Der für diese Verträge verantwortliche Vorsitzende des Sierra Club trat im November 2011 zurück.
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**** Links: Der Steppenwolf; The Whole Earth Catalog; Sierra Club; Barry Commoner; Drop City; Richard Kallweit; Mathematical Patterns