Ein spanischer Alfred Brehm - Félix Rodríguez de la Fuente

Gottfried Liedl am 16. Juli 2023

Als ich vor mehr als 50 Jahren als ganz schön grüner Junge zum ersten Mal in Spanien war, um mit einem kleinen Team im Auftrag des ORF einen Dokumentarfilm zur Kulturgeschichte der Iberischen Halbinsel zu drehen, war der Generalissimus Franco noch an der Macht; Mädchen wurden von ihren Vätern und Brüdern strenger gehütet als weiland der Zugang zur Unterwelt vom dreiköpfigen Cerberus; und ein Paar handgenähter Lederstiefel, die ich mir in der Madrider Innenstadt kaufte, waren so preisgünstig, dass geschäftstüchtigere Menschen als ich gleich ein halbes Dutzend davon erworben hätten. Mit den neuen Stiefeln an den Füßen ging es zum nächsten Kiosk, wo ich mich nach meiner Gewohnheit mit den wichtigsten örtlichen Journalen einzudenken gedachte. Dort las ich zum ersten Mal den Namen Félix Rodríguez de la Fuente, er stand auf dem Titelblatt einer Hochglanzbroschüre. Natürlich erwarb ich das Heft, das sich mit der afrikanischen Megafauna befasste und vom Porträt eines prächtigen Kaffernbüffels geziert war, ohne zu ahnen, dass ich damit die erste Nummer einer der erfolgreichsten Projekte seiner Art in Händen hielt, die jemals in Spanien veröffentlicht wurden (18 Millionen verkaufte Exemplare). Das Heft, das heute ein kleines Vermögen wert wäre, besitze ich leider nicht mehr – dafür aber die Gesamtausgabe der ein wenig später als Enzyklopädie in Buchform herausgebrachten Reihe (31 Bände).* Zusammen mit der ‚Schwesteredition‘ zur iberischen Fauna (Fauna Ibérica, 30 Bände)* steht damit eine bibliophile Kostbarkeit in meinem Bücherschrank, für die mittlerweile in der Szene der Naturalistas (zumindest wenn es sich um die Erstauflage handelt) ebenfalls recht ordentliche Summen geboten werden, wie ein Blick ins Netz zeigt. Es ist daher nur logisch, dass mein spanischer Schatz im andalusischen Landhäuschen einen Ehrenplatz hat – gleich neben der (freilich schon recht zerfledderten) Erstausgabe des großen Brehm. 

Der spanische Alfred Brehm. Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklopädie Salvat de la Fauna (1970–1973) betrat der 1928 geborene Félix Rodríguez de la Fuente zugleich mit der spanischen die Bühne der Welt – vor allem in Lateinamerika gilt er als Begründer des modernen Naturschutzgedankens, was nicht verwundert, da er schon in seiner spanischen Heimat der unbestrittene Held der Ecologistas war.

Es gäbe weder die äußerst lebendige Szene des Senderismo – die für mediterrane Verhältnisse fast paradox anmutende Wanderbewegung (ich erinnere mich an ein Interview mit der Sängerin Montserrat Caballé, worin sich die spanische Künstlerin über deutsche Waldes- und Wanderlust mokierte und behauptete, im Spanischen existiere nicht einmal ein Wort für ‚Wandern‘) –, noch gäbe es die ausgeprägte Naturliebe, geschweige denn das verblüffende Faible der jüngeren Generationen für den Wald, so behaupte ich kühn, ohne den großen Naturfreund und Propagandisten der Tier- und Pflanzenwelt, Falkner und Wolfsexperten aus León.

Ich selbst, nachdem ich das sagenhafte Heft Nr.1 der Fauna mehr nebenbei als im vollen Bewusstsein seiner Bedeutung erstanden hatte, stieß Jahre später auf die Fernsehserie Fauna Ibérica – Der Mensch und die Erde, eine Produktion des Spanischen Schulfernsehens (Televisión Escolar), die der ORF in Lizenz ausstrahlte. Wieder war ich – wie drücke ich mich präzise aus? – baff. Da gab es im äußersten Südwesten des Kontinents zur mitteleuropäisch-romantisch-naturalistischen ‚Volksbildung‘ (von Brehm über Grzimek zu Lorenz, um es sehr flapsig, sehr schlampig, sehr pointiert zu formulieren) ein kongeniales Gegenstück. Mehr noch: diesem Mann aus León war für die spanisch-sprachige Welt gelungen, was Heinz Sielmann, Bernhard Grzimek und Co. für Mitteleuropa, was Sir David Attenborough für die angelsächsiche Hemisphäre (und somit für den Rest der Welt) geleistet hat. Auch darüber gibt das gesammelte Wissen im Netz Auskunft: „Sein Team bestand aus jungen Biologen, darunter Miguel Delibes de Castro, Javier Castroviejo, Cosme Morillo und Carlos Vallecillo. […] Delibes erinnerte sich daran, die Enzyklopädie [Enciclopedia Salvat de la Fauna] noch Jahre später unter den Fachbüchern in den meisten europäischen naturwissenschaftlichen Museen gesehen zu haben“ (vgl. Link 1; Link 2; Link 3).**

Gedanken eines Mediterranen über den Wald. Bevor ich den kleinen Text vorstelle, worin der ‚Spanische Alfred Brehm‘ einen, vielleicht sogar ‚den‘ Gordischen Knoten der Ökologiegeschichte – die Behandlung des Waldes durch den Menschen – nein, natürlich nicht zerschlägt sondern meisterhaft-minutiös in allen Windungen und Verschlingungen beschreibt,  erlaube ich mir eine Vorbemerkung.  

Bei der Verachtung des Waldes (und dem Hass gegen ihn) geht es sowohl um Handfestes als auch … ja, doch: Metaphysik. Der geschichtlichen Reihe, die von ‚Römischer Kultur‘ über das Christentum zum Mittelalter führt, entspricht auf symbolisch-psychologisch-kultureller Ebene eine ebenso konsequente Entwicklung im Naturverständnis. Mit einer wichtigen Einschränkung! Denn obwohl die mediterrane Kultur an der zunehmenden Naturferne des ‚zivilisierten‘ Menschen eine Mitschuld trifft (ein zentraler Aspekt im Text von Rodríguez de la Fuente), beginnt die eigentliche Orgie des Hasses erst mit dem Christentum und dessen Feldzug gegen alles Heidnisch-Naturreligiöse. Die germanische Donar-Eiche hat kein Römer gefällt sondern ein angelsächsisch-christlicher Missionar.

Im Hercynischen Wald. Beginnen lässt Rodríguez de la Fuente seinen Text über das Schicksal des Waldes mit Zeugnissen aus der Feder antiker Autoritäten – es sind deren zwei, Cäsar und Tacitus, und beide nicht ganz unverdächtig, weil alles andere als unparteiisch. Der Politiker Cäsar möchte seinen Landsleuten schmeicheln, indem er sie vor dem Hintergrund barbarischer Gegenden und Völkerschaften als die ‚Zivilisierten‘ hinstellt, denen die Herrschaft über ‚die Wilden‘ rechtmäßig zusteht. Der zivilisationskritische Tacitus wiederum warnt seine Landsleute vor den Folgen der Dekadenz und zeichnet das Bild eines zwar in düsteren Wäldern hausenden, darum aber auch abgehärteten, gesunden (vor allem moralisch gesunden) Menschenschlags, welcher der ‚zivilisierten‘ Menschheit den Spiegel vorhält.   

„Im Hercynischen Wald lebten Bisons, Auerochsen, Hirsche, Wildschweine und Bären. Im undurchdringlichen Dickicht herrschten aber auch die Barbaren – also Völker, welche, weit entfernt von allen Feinheiten der Zivilisation, in den Augen der Römer keiner näheren Betrachtung wert waren. Vielleicht müsste man bis zu jener Trennlinie zurück gehen, wo sich erstmals Menschen des Neolithikums, Bürger wohlhabender Stadtstaaten und Krieger künftiger Großreiche vom urwüchsigen Bewohner der Wälder am Rande der Welt distanzierten, vom Jäger mit seiner steinzeitlich anmutenden Kultur. Dort nahm auch der Hass seinen Anfang, der Hass, den ‚der Zivilisierte‘ gegen den Wald hegt. Hass und Verachtung haben innerhalb weniger Jahrhunderte eine unvorstellbar reiche Welt zerstört“ (Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 f.).*

Die Warnung des Ökologen. Der spanische Naturalist mit seiner eigenen mediterranen Geschichte – voller Erzählungen von ökologischer Rücksichtslosigkeit und ökologischer Vernunft, angefüllt mit Weisheiten und Lehren im Gefolge von Krisen – blickt auf den Rest der Welt. Ihm, dem gewitzten Mediterranen, genügt die rationalistische Erklärung von der Nutzen-orientierten Ausbeutung der Natur nicht. Er sieht ein zutiefst psychologisches, ein tiefenpsychologisches Moment dahinter. „Ereignet hat sich das in Europa, Ähnliches geschah aber auch in Asien und später in Nordamerika. [Aber] der Hunger nach Holz für Industrie- oder Bauzwecke allein genügt nicht als Erklärung für die massiven Verwüstungen im Reich der Wälder – vor allem der Laubwälder. Im Konflikt zwischen zwei unumkehrbaren und antagonistischen Kulturen – der Altsteinzeit, die sich an die Umwelt anpasste, und der Jungsteinzeit, die sie veränderte – fiel der Wald als ‚Feind‘ den neuen Herren des Planeten zum Opfer. Und weil es unglücklicher Weise leichter ist zu zerstören als zu begreifen, hat der Mensch, mit Axt und Pflug bewaffnet, die Bäume eliminiert statt sie weise zu nutzen. Der Vormarsch der Zivilisation ging mit der grausamsten Abholzung einher, und nur Diejenigen leisteten Widerstand, die sich wie der legendäre Robin Hood aus welchen Gründen immer der herrschenden Ordnung entzogen; sie ließen sich in den Wäldern nieder, fanden in ihnen den idealen Rückzugsort und eine perfekte Basis für ihren Kampf.“

Die Pointe kommt zum Schluss – der Hinweis auf den christlich-antiheidnischen Untergrund der Waldgeschichte. Das ‚kleine schmutzige Geheimnis‘ (Friedrich Nietzsche) europäischer Denkungsart wird zwar nicht laut ausgeplaudert, doch mittels Zitats unabweisbar nahegelegt. „Wie uns Jean Dorst erklärt,“ – der Umweg über Frankreich, den Hort der Aufklärung, ist schwerlich Zufall – „war die Zerstörung der Wälder die große Obsession des Mittelalters, da ‚der Wald mit der Barbarei identifiziert wurde, die zum Wohle der Zivilisation (wie sie sich in den Nutzpflanzen und Biotopen einer humanisierten Welt präsentiert) zurückgedrängt werden musste'“ (Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1331 f.).* Humanisiert, christianisiert – egal. Die Aufklärung hat beides ununterscheidbar gemacht. Fast ununterscheidbar gemacht, wie der Skeptiker rasch ergänzt.

Von der Iberischen Halbinsel in die Welt – die ökologische Aufhebung der Leyenda negra. Mit dem Begriff Leyenda negra, ‚Schwarze Legende‘, schlägt sich die Geschichtsschreibung herum, seit es diese Legende gibt – denn die Rede vom sinistren Charakter der iberischen Nationen wurde gleichzeitig mit den spanischen und portugiesischen Eroberungen einer beziehungsweise vieler (vermeintlich) Neuer Welten in Umlauf gebracht. Die anderen europäischen Nationen waren keineswegs edlere Eroberer und ‚Entdecker‘ – sie waren bloß, was das In-die-Welt-Setzen von Schwarzen Legenden betraf, in publizistischer Hinsicht schneller und in der politisch-ideologischen Verwertung derselben geschickter. So blieb von den unzähligen Gräueln einer europäischen Expansion, von den ökonomischen und ökologischen Verwüstungen und Verwerfungen vor allem das einschlägige Tun der Iberer in Erinnerung. Ein später Sohn besagter iberischer Nationen hat den ökologischen Spieß umgedreht und die in Wahrheit weltweite Geltung des Satzes ‚Wo des Menschen Fuß hintritt, wächst kein Gras mehr‘ von der Iberischen Halbinsel aus in theoretischer und praktischer Hinsicht bewiesen. Weniger verklausuliert gesprochen: Der Spanier Félix Rodríguez de la Fuente hat aus Naturliebe quasi im Nebeneffekt auch zur Ehrenrettung seiner seit 1492 in ein welthistorisch schiefes Licht geratenen Nation beigetragen. Er widmete, heißt es im Netz, „seine Zeit […] der Rettung verschiedener Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind, insbesondere des Wolfs [… und brachte es fertig, für ihn] Respekt und Wertschätzung seitens der Gesellschaft zu schaffen, ähnlich wie er Jahre zuvor dasselbe für Greifvögel erreicht hatte […]. Weitere Tiere, die von ihm geschützt wurden, waren der iberische Bär, der Luchs, der Steinadler und der Kaiseradler. [… Gegenstand seiner Fürsorge waren auch] die Dünen von El Saler, der Park von Doñana, der Nationalpark Tablas de Daimiel, der Berg El Pardo und die Laguna de Gallocanta, einer der größten Seen Spaniens in der Autonomen Region Aragonien“ (vgl. Link 1).**

Der spanische Alfred Brehm mit einem seiner vor dem Tod durch Erschlagen geretteten Wölfe © El Español / Odile Rodríguez de la Fuente (Link)

Das Bestreben, die ökologische Sensibilisierung seiner engeren und weiteren Heimat (Spanien, West- und Mitteleuropa) im Weltmaßstab abzubilden, also das ab 1492 wenig menschen- und naturfreundlich gestartete Projekt der Iberer nachträglich wenigstens hinsichtlich der Natur zu korrigieren, hat ihn schließlich das Leben gekostet. Die letzte seiner zahlreichen Expeditionen, die alle den Zweck hatten, der Welt die Augen zu öffnen für Schönheit und Gefährdung einer einzigartigen Flora und Fauna (das mag pathetisch klingen, ist aber trotzdem nicht falsch), führte ihn nach Alaska, wo er am 14. März 1980, genau an seinem 52. Geburtstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

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* Literatur:

Félix Rodríguez de la Fuente: Fauna ibérica. El hombre y la tierra. Enciclopedia Salvat de la fauna ibérica y europea. 30 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1991–1995

Félix Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna. 31 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1993–1995

Der zitierte Text ist aus Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 ff.

Bücher von Jean Dorst (1924–2001), eine Auswahl:

Les migrations des oiseaux. Payot: Paris 1956

Les animaux voyageurs. Hachette: Paris 1964

La force du vivant. Flammarion: Paris 1979

La planète vivante [mit David Attenborough]. Delachaux et Niestlé: Neuchâtel (Lonay) – Paris 1985

La faune en péril [mit Gaëtan Du Chatenet]. Delachaux et Niestlé: Lausanne (Lonay) – Paris 1998

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Zum Weiterlesen:

Robert Pogue Harrison: Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. München – Wien 1992

Ein Buch, das ich jedem Waldläufer, jeder Waldläuferin (und solchen, die es noch werden wollen) aufrichtig empfehlen kann.

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** Links zu Félix Rodríguez de la Fuente (Biographie, Lebenswerk): Link 1; Link 2; Link 3

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Sachdienliche Nachbemerkungen zur Rettung der Welt. Oder so ähnlich. Mindestens eine ganze Generation und Hunderte Artensterben- und Klimadiskussionen später … Des spanischen Alfred Brehm Nachfahren im Geiste, so sie jung genug für die Sinnfrage sind, wie sie sich am Anfang des Erwachsenendaseins zu stellen pflegt (oder auch nicht zu stellen pflegt), machen sich Gedanken über die Berufswahl. Aus der Empörung zum Protest und von dort ins Machen und Tun zu kommen, hat nichts an Aktualität verloren und ist auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive, wenn ich so sagen darf, ganz schön brisant. Oder wie es DIE ZEIT No 29 vom 6. Juli 2023 auf Seite 29 ihrer Beilage ‚GREEN‘ durch den Mund ihres Korrespondenten Uwe Jean Heuser schmissig formuliert: „Rund zehntausend Tage arbeiten Menschen in ihrem Leben. Eine Initiative will dafür sorgen, dass sie es fürs Klima tun und nicht dagegen“.

Welche Zukunft ist gemeint? Jede Aufbegehrende, jeder Empörte macht früher oder später die Erfahrung, dass Betonwände den Utopien etwas Entscheidendes voraus haben: ihre Festigkeit. Eine gleichgültige Zivilgesellschaft, die es sich zwischen politischer Einfalt, professionellem Beharrungsvermögen und wirtschaftlichem Schlendrian bequem gemacht hat, stellt beim leisesten Lufthauch, der sie aus der Zukunft erreicht, den Kragen hoch. Fridays for Future war als Ereignis dashing, aber in der Wirkung mau.

Warnung an die Leserschaft: jetzt wird es abstrakt … sprich philosophisch. Wer sich von Philosophen nicht gerne an der Nase herumführen lässt, ist somit höflich eingeladen, die Sache zu überspringen und den Faden allenfalls einen Absatz weiter unten wieder aufzunehmen. 

Die Lehre lautet: Niemals auf das Einsehen der Menge hoffen und schon gar nicht auf das Einlenken von Politik und Wirtschaft. Jene, denen diese Lehre ins Stammbuch zu schreiben wäre, lassen sich (vom Standpunkt einer bestimmten Philosophie aus) als Verfechter einer Zukunft mit mehr als nur einer Option beschreiben; die andere Seite, die ihnen als geschworene Hüter des Status quo widerspricht (und dem Einspruch nicht selten ein Quantum Backpfeifen und Nasenstüber folgen lässt), muss man dann, derselben Logik folgend, bezüglich ihrer Zukunftshaltung Verfechter einer Wirklichkeit mit nur einer einzigen Option nennen. Ende des philosophischen Einschubs.

Angesichts des stets drohenden Szenarios, sich an der Betonmauer des Satus quo die Nasen blutig zu stoßen, ist Verfechtern einer Wirklichkeit mit mehr als nur einer Option (von ihren Gegnern ‚Utopisten‘ genannt) somit zu raten, sich mit dem Status quo (und dessen Hütern) – nein, nicht anzufreunden sondern präzise und kühl zu beschäftigen und nach der berühmten Achillesferse Ausschau zu halten.

Diese Achillesferse der Konkurrenz-basierten Volkswirtschaft kennt mittlerweile sogar der einfache Provinzpolitiker, der versucht, neue Gewerbebetriebe in seinem Wirkungsbereich anzusiedeln, nach der Devise  „Wollen tät‘ ich ja, aber können kann ich nicht“.

Warum das so ist, liest sich im Feuilleton eleganter und präziser formuliert, aber der Sache nach identisch: „Volkswirtschaftliche Zahlen zeigen, wie dringend das Land mehr Menschen in Handwerk und Technik braucht. […] Insgesamt fehlen [der deutschen Wirtschaft] 216.000 Arbeitnehmer vor allem in der Bautechnik, der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie der Informatik“ (DIE ZEIT, ebd.).

Achillesferse einer retrograden Status-quo-Gesellschaft … Das Beharren auf ‚alten‘ Industrien und ‚bewährten‘ Verfahren hat ein Feld von enormem volkswirtschaftlichen Potenzial brach liegen lassen. Anders gesagt, indem man sich weigert, Zukunft als nicht-lineares, ‚offenes‘ Ereignis wahrzunehmen (stattdessen liest man sie als bloße Fortschreibung der Gegenwart, was unter dem Gesichtpunkt der Wahrung von Besitzständen natürlich eine konsequente und angemessene Haltung darstellt), überlässt man sie – die nicht-lineare Zukunft – und es, das damit verbundene volkswirtschaftliche Potenzial – lieber den anderen: „Vor rund zehn Jahren hat das Land [Bundesrepublik Deutschland] 150.000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie kampflos an die chinesische Billigindustrie abgegeben – und damit den Glauben an grüne Jobs lange erschüttert“ (Energieökonomin Claudia Kemfert, zit. nach DIE ZEIT, ebd.). Eine klimafitte Volkswirtschaft aus dem Geist der Revolte sieht anders aus.

Geist der Revolte und der Glaube an grüne Jobs. Man kann die Gretchenfrage einer möglicherweise klimafitten, ergo dessen resilienteren Volkswirtschaft (um noch einmal die Konkurrenz-basierte Ökonomie zu bemühen) auch so stellen: „Will man als Monteur Gasheizungen einbauen oder Wärmepumpen? Als Softwareexpertin die Konsumwerbung im Internet optimieren oder Apps fürs Energiesparen entwickeln?“ (Uwe Jean Heuser, in DIE ZEIT, ebd.). Offenbar stellen sich diese Frage immer mehr Menschen an der Schwelle zum Ernst des Lebens vulgo Berufswahl. Denn, wie man hört, ist auf dem Arbeitsmarkt das sogenannte Climate-Quitting, also das Kündigen oder Ablehnen umweltschädlicher Jobs, der letzte Schrei. Friday for Future hat auch da wieder die Nase vorn (und, wie man sieht, die Sache mit der Betonwand – siehe oben – perfekt kapiert). Beispielsweise so: Um „selbst ins Handeln zu kommen“ (Helena Merschall von Fridays for Future in DIE ZEIT, ebd.), organisieren Experten und Expertinnen aus dem Fridays-Umfeld in Zusammenarbeit mit Fachfirmen der Kategorie ‚grüne Arbeitgeber‘einschlägige Lehrgänge mit Job-Appeal.

Oder wie es der Feuilletonist ausdrückt: „Jede Person kann an der Wende mitwirken, das ist die ermächtigende Botschaft. […] Wettbewerb und Wachstum sind also auch hier nicht fern. Mit jedem, der seine 10.000 Tage fürs Klima einsetzt, wächst die Wucht der Welle von unten.“

Gut gebrüllt, Löwe? Optimistisch gestimmt, wie ich derzeit bin, sage ich ja.