Eine andere Geschichte der Landwirtschaft

Gottfried Liedl am 17. Mai 2023

„Die Sacher-Würstel waren schon mal besser.“ – „Ja wenn du auch so fleischsüchtig bist … Wegen Leuten wie dir brennen die Regenwälder.“ Cafés sind Orte der Belehrung. Und die schöne Unbekannte am Nebentisch hat ja auch recht. Der Druck globaler Landwirtschaft auf Ökosysteme und Biodiversität ist zu rund zwei Dritteln auf Viehhaltung zurückzuführen. Tierische Produkte, selbst mit den bestmöglichen Verfahren hergestellt, erzeugen bei gleichen Nährwerten höhere ökologische Auswirkungen als pflanzliche Lebensmittel (Roux et al. 2022).*

Aber die Viehzucht ist bloß die Spitze des Eisbergs. Selbst im veganen Chili sin carne stecken möglicher Weise umweltfeindliche Praktiken. Moderne Landwirtschaft ist kein Ponyhof. Das weiß auch der Birdwatcher. „Die intensive Landwirtschaft trägt die Hauptschuld am Vogelsterben … In den vergangenen 40 Jahren ging die Vogelpopulation in Europa um ein Viertel zurück. Feld- und Wiesenvögel gibt es nur mehr halb so viele. Eine Ursache ist, dass viele Tiere keine Insekten oder Würmer mehr finden, um sich zu ernähren.“**

Entwicklung und Fortschritt – die Erzählung. Allerlei Schönes vom Aufschwung der Landwirtschaft weiß die Geschichtsschreibung zu berichten, seit im Neolithikum vor 10.000 Jahren Menschen erstmals sesshaft wurden und Pflanzen nicht mehr sammelten sondern anbauten, Tiere nicht mehr jagten sondern züchteten. Groß waren die Mühen, noch größer die Errungenschaften – aus Dörfern wurden Städte, überall schossen Türme, Pyramiden und Kornspeicher aus dem Boden, Flüsse wurden begradigt und eingedämmt, man pflügte den Boden, bewässerte das Land … kurz, die Menschheit wuchs und mehrte sich.  

Man kann aber auch einen weniger konventionellen Blick auf die Agrargeschichte werfen, indem man sie zum Beispiel von der Evolution des Ernährungsregimes her zu verstehen sucht.*** „Ernährung und Expansion“ sind dann zwei Seiten einer Medaille (Tinhof 2017, Seite 138 ff.) – sie gehören als „Stationen auf dem Weg zur Globalisierung“ (ebd.) zusammen –, wozu noch ein Drittes kommt, der ökologische Aspekt. Mittelalterliche Rodungsexpansion und ‚Vergetreidung‘ der Ernährung führen zu Bevölkerungswachstum; aber ebenso gewiss ist dessen jähes Ende in einer „Rückkehr des Hungers“ (der französische Mittelalterforscher Jacques Le Goff). Die Menschen des Mittelalters – zumindest die Eliten – entwickelten ein Krisenbewusstsein, das bereits eine – wenn man sie denn so nennen will – Ahnung von ökologischen Zusammenhängen bedeutet haben mag und beispielsweise Waldverwüstung mit Bodendegradierung, ausgelaugte Böden mit Unterernährung oder Holzmangel mit wirtschaftlichem Abstieg, sozialem Niedergang und politischem Ruin in Beziehung zu setzen verstand (Tinhof 2017, Seite 142 ff.). Typischer Weise schwächen sich derlei ‚ökologische‘ Sensibilitäten mit den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung wieder ab, der Weg des Umweltschutzes, den Forstgesetzgebung und Bergrecht bereits beschritten hatten, wurde verlassen – zugunsten des alten Schlendrians, der nur den Ressourcenverbrauch kennt, nicht deren nachhaltige Nutzung (ebd., Seite 144).

Damit hatte man „die zweite Stufe – koloniale Expansion und europäische Agrarrevolution“ erreicht (Tinhof, ebd.). „Von der Frühphase der Spanier […] zu den Portugiesen und Niederländern mit den Stützpunktkolonien, dann zu den Engländern mit dem Aufbau von Siedlungskolonien [… bis zum] Abschluss dieser Entwicklung, [… dem] Imperialismus der konkurrierenden Kolonialmächte“ führt der Weg (ebd., Seite 144 f.).  Ökologisch verschärfte sich die Gangart im gegenseitigen „Austausch von Pflanzen und Tieren zwischen der Alten und Neuen Welt, auch als Columbian Exchange bezeichnet“ (ebd., Seite 145).         

Neue Bewirtschaftungsformen und Landnutzungssysteme (Stall- und Koppelhaltung, Viehfutteranbau, künstliche Düngung, Flurbereinigungen bei fortschreitender Mechanisierung, Auflösen der letzten Reste des Gemeineigentums … man nennt diesen Komplex ‚Agrarrevolution‘) begründen die folgende, die „dritte Stufe, [die] globale Expansion im 20. Jahrhundert“ (149 ff.), die sich durch Industrialisierung, aber auch Reglementierung der Landwirtschaft auszeichnet (ein Wechselspiel aus Liberalisierungs- und Fördermaßnahmen beziehungsweise Protektionismus). Nicht genug damit, dass die Betriebsformen der Landwirte sich ändern - angestoßen auch von der Verfügbarkeit etlicher neuer Nutzpflanzen wie Mais, Kartoffel, Tomate etc. (aber auch bedingt durch den Anbau neuer Futterpflanzen wie Alfalfa, Topinambur oder Soja) -, bleibt im Ernährungsregime der Weltbevölkerung kein Stein auf dem anderen. Der signifikant zunehmende Fleischkonsum ist nur ein Aspekt, wenngleich vielleicht der bedeutendste. In Gang gesetzt und aufrecht erhalten „durch einen gewaltigen Energieaufwand und politisch garantierte Handelsfreiheiten“ sorgt „der billige, die verschiedenen Monokulturen miteinander verbindende Transport“ für ständig verfügbare, varianten- und facettenreiche Lebensmittel; was nicht automatisch deren qualitative Güte bedeutet – und schon gar nicht deren ökologische Unbedenklichkeit. Mit dem bekannten Kalauer (der keiner ist), „dass die Zutaten für eine im Supermarkt erhältliche Steinofenpizza aus etwa 20 verschiedenen Ländern kommen und dabei rund 80.000 Kilometer zurücklegen“ (ebd., Seite 150), lässt sich die dritte Stufe des Ernährungs- und Agrarregimes in entwicklungsgeschichtlicher Absicht als Kulminationspunkt suggerieren, sodass die vierte und vorerst letzte ‚Stufe‘ (wenn es denn eine ist) mit der Formel „neue Formen des Agrarischen im 21. Jahrhundert“ beschrieben werden kann und dabei wie ein Einschnitt, Bruch oder Paradigmenwechsel wirkt. Die Umkehrlogik jener (vermeintlich) neuen Formen ist offensichtlich. In den Ansprüchen und Erwartungshaltungen scheint sich eine Verschiebung von der Quantität zur Qualität abzuzeichnen, verbunden mit der Hinwendung zu vegetarischen oder veganen Lebensweisen. Urban Gardenig, City Farming, Stadtteil-Gärtnern, Boden-Genossenschaften, Humus-Akademien … und wie die Formen einer niederschwelligen, öko-affinen Nachbarschafts(agri)kultur alle heißen mögen: als Renaissance der vielleicht zu früh totgesagten Allmende bilden sie „eine echte Alternative zur industriellen Landwirtschaft [… und] möglicherweise eine starke Gegenbewegung zur derzeit aktuellen Globalisierung“ (Tinhof 2017, Seite 155; 157).

‚Agrarisierung‘ der Welt. Wenn Utopie den harten Fakten des Status quo begegnet, kippt sie leicht in ihr dystopisches Gegenteil. Ein Blick vom Satelliten hinab auf die Erde zeigt uns, dass es mit der kleinteiligen, umweltverträglichen, gut nachbarschaftlichen Landwirtschaft der Zukunft nicht so weit her ist.

Fakt ist: Wüsten wachsen – ‚echte‘ Wüsten und Agrarwüsten. Was schwindet, sind die letzten tropischen Wälder. „Etwa 11 % der eisfreien Landoberfläche werden weltweit für den Ackerbau genutzt, 26 % als Weideland. Eine Ausweitung der Ackerbaufläche ist nicht zu erwarten, im Gegenteil: In vielen Regionen ist in den letzten 150 Jahren die Hälfte des fruchtbaren Ackerbodens verloren gegangen. Zusätzlich verringert Wüstenbildung die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen“ (Schuh 2008, Seite 148 [Zitat gekürzt]).**** Das mit der „nicht zu erwartenden Ausweitung“ ist natürlich ein Missverständnis. Wie gesagt, die Wüste wächst … Gerodet werden die Wälder als Ersatz für die steigende Zahl ehemals fruchtbarer, nun aber heruntergewirtschafteter Ländereien. Die „in den letzten 150 Jahren verloren gegangene Hälfte“ ist also um ziemlich genau die gleiche Fläche vernichteten Tropenwaldes zu verdoppeln. So funktioniert die Mathematik der Zerstörung: Minus mal Minus ergibt hier nicht Plus …

Gebiete mit großflächiger Bodendegradierung:

Landnutzung im Zeitalter der Globalisierung | © G.Liedl

Futtertrog, Tank und Teller – sprich Futtermittel, Treibstoff und Nahrungsmittel – sind die drei primären Ziele von Landnutzung, wenn es um die Frage geht, was man auf den verfügbaren Agrarflächen anbaut. In einem globalen Kontext der stetig wachsenden Weltbevölkerung [… erhebt sich die Frage], wie sich das Profitstreben und die Produktionssysteme der internationalen Investoren mit den Bedürfnissen und Produktionssystemen der einheimischen Bevölkerungen zusammenführen lassen. Anders gefragt: Wer hat die Kontrolle über die verfügbaren Ressourcen und zu welchem Zweck?“ (Schmid / Falter 2017, Seite 33 f.; 49 [Zitat gekürzt]).*****

Gute Frage … (Einige werden widersprechen und statt ‚gute Frage‘ ‚Gretchenfrage‘ sagen). Ohnedies kann eine Agrargeschichte ‚der anderen Art‘ (wie sie hier versucht wird) jenes Cui bono – wem zu Nutzen? – nicht beantworten, ohne gleichzeitig eine Ernährungsgeschichte ‚der anderen Art‘ ins Auge zu fassen. „Landwirtschaft [ist nur] als komplexes System ökologischer, ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Elemente [zu] begreifen“ (ebd., Seite 51). Als solchen Spiegel des Nahrungsregimes lassen sich (in chronologischer Reihenfolge) drei Phänomene ausmachen: Industrialisierung, Kapitalisierung und Flexibilisierung ist gleich Globalisierung der Landwirtschaft.

Industrialisierung, Technisierung und Rationalisierung – ungefähr ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – erzeugen im Agrarsektor ein Gefälle der Rentabilität. Als Ausweg bietet sich eine stärkere Kapitalisierung an, um Chancengleichheit zwischen lokalen und internationalen, kleinen und großen Playern zu wahren, mit gravierenden Folgen. Etwa seit 1950 nimmt die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Großinvestoren weltweit zu, Technisierung und Rationalisierung lassen lokale Subsistenzbetriebe verschwinden, ersetzt werden sie durch eine immer weniger diversifizierte, immer präziser dem Weltmarkt angepasste Landwirtschaft. Agrikultur wird zum Gegenstand wissenschaftlich-technologischer Interventionen  (Stichwort Green Revolution). Und dann – etwa ab der Jahrtausendwende – betritt auch das vorerst letzte ‚neue‘ Nahrungsmittelregime die Bühne, welches sich „[dadurch] [aus]zeichnet […], dass es flexibel ist“ (Schmid / Falter 2017, Seite 56). Flexibel und global ist dieses Regime, „wobei sich der Wettbewerb […] verschärfte“: ökonomisch durch das Erscheinen neuer Akteure (vor allem in Asien und Lateinamerika), entwicklungspolitisch durch eine Art Neuauflage der Green Revolution – mit ähnlichen Begleiterscheinungen, nämlich Entmündigung lokaler Produzenten und globale Dominanz einiger weniger großer Biotec- und Lebensmittelkonzerne. Letzten Endes verschärfte sich dieser ‚Ausleseprozess‘ auch ökologisch – durch eine Bodenvernichtung ungeahnten Ausmaßes, begleitet von prägnanten Umweltschäden. Auffälliges Indiz des geänderten Nahrungsmittelregimes und eine unmittelbare Folge davon sind dessen hohe ökologische und soziale Kosten (Schmid / Falter 2017, Seite 59). Ganz zu schweigen von den Faktoren Klimakrise und Artenschwund. Wir wollen es kurz machen: Der postmodernen Landwirtschaft, der Landwirtschaft im beginnenden 21. Jahrhundert ein auch nur halbwegs gutes Zeugnis auszustellen, wird nicht leicht sein. Dagegen ist die Quadratur des Kreises ein Kinderspiel.           

(Wird fortgesetzt)

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* Roux et al. 2022 = Nicolas Roux / Lisa Kaufmann / Manan Bhan / Julia Le Noe / Sarah Matej / Perrine Laroche / Thomas Kastner / Alberte Bondeau / Helmut Haberl / Karlheinz Erb: Embodied HANPP of feed and animal products: Tracing pressure on ecosystems along trilateral livestock supply chains 1986–2013. In: Science of the Total Environment, 24. August 2022

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** KURIER vom 10.5.2023, Seite 21

*** Tinhof 2017 = Hannes Tinhof: Ernährung und Expansion – Stationen auf dem Weg zur Globalisierung. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 138–157

**** Schuh 2008 = Bernd Schuh: Das visuelle Lexikon der Umwelt. Hildesheim 2008

***** Schmid / Falter 2017 = Michael Schmid / Lisa Falter: Botanische und ernährungspolitische Aspekte des Landraubs. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 33–69

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Nachbemerkung und Fallbeispiel ...

Augenzeugenbericht der Journalistin Sandra Weiss über den Alltag eines typischen Bürgers aus Montevideo: „Wenn Federico Kreimerman zu Hause in Uruguay dieser Tage den Wasserhahn aufdreht, tropft daraus eine salzige Brühe, und im Wassertopf, in dem er seine Frühstückseier kocht, bleibt eine weiße Kruste zurück. Das kleine Land am Silberfluss, dem Rio de la Plata, leidet seit drei Jahren unter einer Jahrhundertdürre. Besonders schlimm ist es in der Hauptstadt Montevideo, wo knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt. Uruguay ist theoretisch kein regenarmes Land. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge liegt bei 1281 mm im Jahr; in Deutschland sind es nur rund 700.“ (Sandra Weiss: „Wegen Dürre wird Flusswasser beigemischt: Uruguay hat nur noch für drei Wochen Trinkwasser“).*

Schuld an der Misere ist nicht der Regenmangel als solcher. Schuld ist natürlich - wieder einmal, möchte man sagen - der Mensch. Der Mensch? Eine ganz spezielle Sorte Mensch, nämlich Homo oeconomicus. Fündig wird die Ursachenforschung bei gewissen Akteuren einer bestimmten Form landwirtschaftlicher 'Nutzbarmachung' der Umwelt: „Die Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft entlang des Santa Lucia, die Zerstörung von Pufferzonen und Feuchtgebieten und eine zu hohe Wasserentnahme spielen eine Rolle“ (Marcel Achkar, Umweltforscher an der Universität Montevideo, Zitat: Sandra Weiss). Auch in Uruguay treibt der Sojaboom mit seinem Landhunger die sattsam bekannten Blüten. Die Weiterführung der Gedankengänge von Homo oeconomicus ist ebenfalls wenig überraschend: Wenn wir schon beim Abholzen sind, können wir auch gleich Papierfabriken bauen! Dumm nur, dass diese viel Wasser benötigen (das sie dann auch noch verschmutzen); den Rest erledigen „durstige Eukalyptus- und Kiefermonokulturen“ (Sandra Weiss, ebd.).

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* Quelle: TAGESSPIEGEL (Online-Magazin), Beitrag von Sandra Weiss, 11.06.2023, 15:44 Uhr

Link

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Sprung zurück über den Großen Teich (gleiches Thema, andere Größenordnung).  

Schauplatz Wien, Bundeshauptstadt der Republik Österreich. Ein paar Zahlen, die angeben, welchen Stellenwert bei der Wiener Stadtverwaltung Natur und Umwelt haben (aus dem Budget-Voranschlag für 2023)

Geplante Gesamtausgaben: 16.659,1 Millionen Euro (16,66 Milliarden). Davon Umweltausgaben: knapp 932 Millionen (5,6 %):

Tabelle der für 2023 geplanten Umweltausgaben (aufgeschlüsselt)

Quelle: Voranschlag der Bundeshauptstadt Wien für das Jahr 2023 (Wien 2021)

Link

5,6 % der geplanten Gesamtausgaben … wieviel ist das? Für den Umweltschutz im engeren Sinn (etwas mehr als 8,5 Mio.) macht das der MA 22 (Magistratsabteilung für Umweltschutz) zur Verfügung stehende Volumen gerade einmal 0,05 % des Gesamtvoranschlags aus. Nicht wirklich berauschend im Vergleich mit den durchschnittlich 7 %, die für Verkehr bereit stehen, den 14 % für Verwaltung, den 15 % für Bildung und Sport (nicht dass man mich hier missversteht: eh fein, dass man auch für Bildung etwas übrig hat). Aber 0,05 Prozent? Dagegen ist sogar der mikrige Kulturbereich – hier macht die Stadtverwaltung im Durchschnitt 1,5 % bis 1,8 % locker – ein Quotenriese.