Fabelhaftes Stadtbaumleben

Gottfried Liedl am 3. Januar 2023

Wieviele Stadtmenschen teilen sich einen Baum? Zahlen lügen nicht, sagt man. In Wien führen derzeit (Waldbäume im Lainzer Tiergarten, im Prater und in der Lobau nicht eingerechnet) rund 190.000 Straßenbäume aus 400 Arten ihr mehr oder weniger strapaziöses respektive komfortables Dasein – da kommt auf 10 Leute ein Baum. Das klingt schon mal ganz gut. Noch besser stehen die Dinge zwischen Elbe und Alster – nur 7 Stadtmenschen teilen sich in Hamburg einen Stadtbaum – und an der Spree: ein Baum ‚gehört‘ gerade mal 5 Berlinerinnen und Berlinern. Urbanes Leben unter Bäumen scheint ein realistisches Szenario zu sein.

Die Ältesten und Größten. „Stadtluft macht frei.“ Für Bäume müsste es heißen: Städtischer Boden macht groß. Zumindest wenn man im Süden lebt. Überall rund ums Mittelmeer – von Haus aus nicht unbedingt eine Gegend, wo man als Baum sein möchte – geht es Bäumen in den Städten gut. Überall zwischen Barcelona und Rom, Marseille und Athen, Palermo und Istanbul, ja sogar in Kairo werden Bäume – Hitzestress hin oder her – richtig groß, viel höher und mächtiger als ihre Vettern und Cousinen auf dem Lande. Der größte Banyan-Feigenbaum außerhalb Indiens wächst in Sevilla; um die Ehre, die älteste Platane der Welt zu beherbergen, streiten sich (nur so als Beispiel) zwei Orte in der Ägäis: Krassi auf Kreta mit einem 2.400 Jahre alten Exemplar und Kos auf der gleichnamigen Insel mit der sogenannten ‚Platane des Hippokrates‘.

Paradiesische Zustände im Verborgenen. Des Rätsels Lösung liegt unter dem Pflaster. Städtischer Boden ist zwar versiegelt, dem Pflanzenwachstum tut das keinen Abbruch. Es stimmt schon – Bäume in der Stadt gibt es noch nicht so lange. Erst mit dem Wachstum der Städte zu Riesengebilden stellte sich die Frage nach städtischem Grün. Stadtbäume führten Jahrhunderte lang ein eher bescheidenes Dasein auf Plätzen oder vor wenigen ausgewählten Gebäuden. Mit der Moderne änderte sich das. Und je länger die Wasser- und Abwasserrohre im Boden liegen (und das tun sie in der Regel seit dem 19. Jahrhundert, als der urbane Mensch anfing, hygienisch zu werden), desto besser ist das für Bruder Baum. Aus den undichten Verbindungsstücken sickert das kostbare Nass; aus anderen Rohren kommt Düngung gratis hinzu.

Schöner leben. Wir sagten es bereits. Stadtbaumarten – die typischen Straßen-, Allee- oder Schattenbäume, die Bäume der Höfe und Hinterhöfe – werden im urbanen Raum größer als dort, wo sie ursprünglich wuchsen. Ökologisch ähneln Städte mit ihren Mauern, hohen Gebäuden und engen Straßenschluchten trocken-heißen Gebirgsgegenden und Felslandschaften. Das engt den Kreis der Kandidaten ein. Im Süden, aber dank Klimawandel zunehmend auch nördlich der Alpen, werden das subtropische bis tropische Arten sein. Denen kommen windgeschützte Plätze und Wärme speichernde Mauern gerade recht.

Nirgendwo im mediterranen Süden werden die Bäume höher und schöner als in den Städten; man könnte meinen, sie hätten sich der Mittelmeerwelt – ihrer von alters her durch und durch urbanen Kultur – auch in dieser Hinsicht angepasst. Wenn es Winter wird, bleibt es zwischen Mauern verhältnismäßig mild. Und im Sommer sind die Umstände trotz Hitze immer noch weniger harsch als draußen auf freiem Feld. Wie der mediterrane Mensch ist auch der mediterrane Baum begeisterter Städter.

P.S. Schon wahr … auch in den Städten ist nicht alles Gold, was glänzt; aber Baumkrankheiten, Schädlingsbefall und Hitzestress sind Themen, die uns im Moment nicht übermäßig interessieren und die wir gern den Zuständigen überlassen: Stadtgärtnern und deren behördlich-botanischen Assistenten. Wen’s dennoch interessiert – Netz und Bibliotheken stellen massenhaft zielführende Einträge und praktische Belehrungen zur Verfügung. Lieber sprächen wir über Fragen der Resilienz und die Rolle nicht einheimischer Baumarten; über Stadt- und Straßenbäume im Klimawandel; über das, wie es stolz genannt wird, „klimafitte Wiener Straßenbaum-Sortiment“; oder darüber, was Bäume mit dem Schwammstadt-Prinzip zu tun haben.* Über die Geschichte der Stadtbegrünung und die Zukunft der Stadtbäume** wird’s vielleicht  demnächst einen eigenen Blog geben – mal sehen.

___

* Links:

Exotische Stadtbaumarten; Straßenbaum, Stadtbaum; Stadtbäume im Klimawandel; Klimafittes Wiener Baumsortiment; Schwammstadt-Prinzip; Stadtbäume der Zukunft

** Literatur:

Conrad Amber: Bäume auf die Dächer – Wälder in die Stadt! Projekte und Visionen eines Naturdenkers. Verlag Frankh-Kosmos: Stuttgart 2017