Feuer, Huf & Pflug - die Sache mit dem Anthropozän

Gottfried Liedl am 17. Juli 2025

Im Sommer ist man viel im Freien. Da geht man wandern. Da sieht man Kornfelder. Und Kühe auf der Alm: „Natur pur.“ Könnte man meinen. Wäre da nicht die lästige Stimme der Wissenschaft – selbst wenn es nur das dünne Stimmchen der Umweltgeschichte ist. „Der Verlust fruchtbarer Böden ist ein uraltes Problem. Schon vor knapp 4.000 Jahren erodierte durch Ackerbau und Weidewirtschaft in den Alpen mehr Boden, als sich neu bilden konnte“ (science.ORF.at).* Nicht gerade ein Gütesiegel für Homo sapiens und seinen Umgang mit Mutter Natur …

Homo sapiens bringt zuwege, was andere nicht können. In den französischen Alpen gibt es einen See, den man geradezu als Archiv des Anthropozäns bezeichnen könnte. „Anthropozän – ist das nicht das vom Menschen geprägte Zeitalter, wo Natur in Kultur übergeht?“ (Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon | Netzeintrag).** – „So könnte man sagen. Wobei ich selbst ja eine Definition bevorzuge, die ‚das Zeitalter des Menschen‘ (so die wörtliche Übersetzung) dort beginnen lässt, wo sich mit naturwissenschaftlichen Methoden Umweltveränderungen nachweisen lassen, die augenscheinlich nur von einer ganz besonderen Spezies verursacht worden sein konnten – von Homo sapiens.“ – „Zumal ja auch andere Tiere ihre Spuren in der Umwelt zu hinterlassen pflegen, vor allem große Herbivoren wie die Elefanten in Afrika oder die riesigen Wanderherden der Gnus, wenn sie dafür sorgen, dass das Grasland offen bleibt und nicht von Büschen und Bäumen überwuchert und zugewachsen wird. Oder auch – Tempi passati – die Abermillionen  von Bisons, als sie noch frei über die Prärien Nordamerikas streifen durften.“ – „Exakt. Was jedoch von all diesen – nennen wir sie der Einfachheit halber ‚natürlichen‘ Veränderungen – die Spuren unterscheidet, die der Mensch hinterlässt, ist die indirekte Art ihres Zustandekommens, mit Hilfe von Werkzeugen.“

Es gibt da jenen See in den französischen Alpen, den Lac du Bourget. „Der mit seinen knapp 45 Quadratkilometer größte natürliche See innerhalb Frankreichs wird sowohl von Flüssen aus dem Tiefland gespeist als auch von Gletscherwasser aus dem Massiv des Mont Blanc.“ Er ist deshalb „ein ideales natürliches Labor“ (science.ORF.at).* Was sich aus der Sediment-Analyse ergibt, ist die großflächige Abtragung natürlich gewachsener Böden, die durch klimatische Einflüsse allein nicht erklärt werden kann. „Diese folgenschweren Eingriffe begannen vor etwa 3.800 Jahren. Um Hirten das Wandern mit ihren Tierherden im Gebirge zu erleichtern, begannen Menschen vermutlich schon damals hochliegende Wälder zu roden und almenartige Landschaften anzulegen. [… Der wirkmächtigste Eingriff jedoch] begann zur Zeit der spätrömischen Antike und dauert bis heute an. Diese Periode ist gekennzeichnet durch immer effizientere landwirtschaftliche Techniken wie etwa Pflüge, die einst von Nutztieren und heutzutage von Traktoren gezogen werden. [… In diesem Zeitraum] dünnten Menschen landwirtschaftlich genützte Böden so stark aus, dass ihr Zustand wieder jenem ihrer Entstehung vor rund 10.000 Jahren entsprach – also der ersten Periode nach dem sukzessiven Rückzug der einst ausgedehnten Vergletscherung in den Alpen. Der Beginn der landwirtschaftlichen Aktivitäten störte das Gleichgewicht zwischen Bodenbildung und Erosion, was zu Erosionsraten führte, die drei- bis zehnmal Mal schneller waren als die Bodenproduktion seit dem Ende der Eiszeit.“ Die Untersuchung der Sedimente auf pflanzliche und tierische DNA im Vergleich mit anderen Regionen welweit führte schließlich zu Ergebnissen, die nur einen Schluss zulassen: „Dass die durch Menschen beschleunigte Bodenerosion ein globales Phänomen darstellt“ (ebd.).*

Feuer, Huf & Pflug. Der Prozess, worin Homo sapiens die Bodenbedeckung und Bodenstruktur seines Lebensraums künstlich veränderte, hat Ausmaße erreicht, wie das keiner noch so riesigen Herde von Gras liebenden Pflanzenfressern je gelang noch gelingen wird. Er dauert nun schon Jahrtausende an. Hier die Kurzversion:

- Erste Etappe: das Jäger-Sammler-Stadium. Des Menschen Hauptwerkzeug zur Umweltgestaltung ist das Feuer. Dessen Wirkung – die Öffnung der Landschaft, deren Klimax-Vegetation nun Gräser und Kräuter bilden.

- Zweite Etappe: Ackerbau und Viehzucht mit den ‚Umweltwerkzeugen‘ Huf und Pflug. Deren Wirkung kann sich sehen lassen – nackte Böden, erodiert und degradiert. Anders gesagt:  Böden, deren Humusbildungs-Bilanz negativ ist.

- Dritte Etappe: die Industrielle Revolution mit ihrem wohlsortierten Werzeugkasten: Emissionen und Immissionen haben eine Klima beeinflussende Wirkung, der Chemismus im Boden und in bodennahen Schichten verändert sich, auf direkte oder indirekte Weise kommt es zu Ressourcenvernichtung und Artenschwund, zu Wasser- und Luftverschmutzung, zur negativen Beeinflussung der Wasserkreisläufe und Grundwasserreserven. Die Liste ist lang und bedrückend.

Trügt die Idylle? © Archiv Finca Los Gamos

Versuchungen und Versuche: Umweltgeschichte im Schnelldurchlauf. Mit den drei Etappen werkzeuggestützter Umweltgestaltung nach Art des Hauses geht eine erstaunliche Beschleunigung einher. Wie denn auch nicht? Während sich die Herden der Herbivoren größenmäßig immer wieder einpendeln, gilt das für den Allesfresser Mensch nur sehr bedingt. Sein wirkmächtigstes Werkzeug ist er letzten Endes selbst: die Spezies ist ein demographisches Phänomen, das mit jeder Umweltkrise größer wird. In Phase eins ein ziemlich dünn gesätes Volk von Beutegreifern, hat man sich schon in Phase zwei zum vermehrungsfreudigen Vegetarier gemausert, „der sich auch noch dann und wann einen Braten gönnen kann“ (frei nach Witwe Bolte © Wilhelm Busch). Im Ernst: Während ein tendenziell stets zu geringer Wildbestand das Bevölkerungswachstum der davon Lebenden definitiv im Rahmen hält, erlauben Ackerbau und Viehzucht demographische Höhenflüge – und führen erstmals (Kehrseite der Medaille) zu handfesten Umweltkrisen.

Drei Gegenstrategien hat der Mensch parat: Obst- und Gartenbau unter künstlicher Bewässerung samt Düngung; nomadisierend-kriegerische Territorienbildung; und last not least die sogenannte Waldwirtschaft. Diese drei Formen agrarischer Nutzung (teils mehr dem Reich der Flora, teils mehr der Fauna zugeneigt) trugen das Gütesiegel einer gewissen – so darf man wohl sagen – Nachhaltigkeit. Wäre da nicht die leidige Getreidefrage – genauer gesagt Bodenfrage unter dem Doppelaspekt Pflug und Monokultur. Schon in der Antike nahm man weite Gebiete rund um das Mittelmeer unter den Pflug. Auf den Latifundien der Römer in Sizilien und Afrika wich der mediterrane Wald endlosen Getreidefeldern – zum Wohle der Oligarchie und einer nach Kornspenden gierenden Plebs. Nicht besser erging es ein halbes Jahrtausend später den Wäldern West- und Mitteleuropas: auch sie verschwanden und machten den Lieblingspflanzen einer feudalen Agrargesellschaft Platz: dem Hafer, dem Weizen, dem Roggen.

Die alpine Viehwirtschaft ist vielleicht ein Sonderfall. Vielleicht. Dem Plus – der Düngung durch Rinder und Schafe – stehen in der Bodenfrage zwei Minus entgegen: indirekt die Bergheugewinnung für den Winter, die lässt sich bilanztechnisch als ersatzloser Abgang vegetabilischer Masse lesen (denn diese steht als Basis für neuen Humus nicht mehr zur Verfügung); und direkt als Schädigung des Bodens durch Viehtritt (Aufreißen der Grasnarbe bis zur Verkahlung, Verfestigung des Terrains), was besonders an Steilhängen die Erosion begünstigt und beschleunigt. Wozu als dritte Imponderabilie das Klima kommt (für das der Mensch wenigstens im Mittelalter noch nichts kann. Oder doch? Soll denn die Entwaldung riesiger Gebiete gar keinen Einfluss auf das Wettergeschehen gehabt haben? Auf eine Veränderung zumindest des lokalen Mikroklimas?) Wie dem auch sei: Hungersnöte und Ernährungskrisen haben das Geheimnis der negativen Humusbilanz ungeniert ausgeplaudert.

Bliebe noch  Phase drei (das Zeitalter der Industrialisierung). Nun ja, sagen wir so: über diese – unsere Gegenwart – breitet man am besten den Mantel des Schweigens.

Fazit und Abgesang. Um nochmals auf meine ‚naturwissenschaftlich inspirierte‘ Abbreviatur des Anthropozäns zurück zu kommen: Eine ‚Umweltspur‘ ist dann menschgemacht, wenn sie allein mit den Gesetzen der Natur nicht erklärt werden kann. Oder anders formuliert: Wenn unter strikter Anwendung der Naturgesetze – sozusagen rein als Naturgeschichte gelesen – die Veränderung auf der Zeitachse so stark von dem abweicht, was theoretisch, von den Gesetzen der Natur her, zu erwarten gewesen wäre, dass – wenn man nicht die Hand Gottes bemühen möchte – nur die Hand des Menschen bleibt.

Dadurch, so könnte man schlussfolgern, zwängt sich ein Quäntchen Freiheit in den Spalt. Im Gegensatz zum Dilemma, im Angesicht der Natur und ihrer unhintergehbaren Gesetze sich zwischen Natur oder Kultur dichotomisch entscheiden zu müssen, bestünde also Hoffnung – Kants auf zunehmende Erkenntnisfähigkeit sprich ‚Mündigkeit‘ des Menschen zielende Spekulation.

Oder, nicht ganz so optimistisch sondern eher skeptisch betrachtet – ein Sich-Annähern an die Umwelt vulgo Natur mit jenem bisschen Witz und Weisheit, das einen zuversichtlich stimmt … und dann ratlos zurücklässt. „Na also. Geht doch. Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.“

Darf man hoffen? Als Nachtrag zu diesem Anthropozän-Befund wäre vielleicht anzumerken, dass die ,Spur des Menschen' nicht immer und überall NUR von Übergriffen gegen Mutter Erde erzählt, bisweilen scheinen Abkömmlinge der Leitspezies (und man fragt sich dann allenfalls: aus welcher Laune heraus) der "Magna Mater" sogar ein wenig unter die Arme gegriffen zu haben. Siehe etwa die famose Terra preta im Amazonasbecken, jene eindeutig von Menschen gemachte - also 'künstlich' entstandene - fruchtbare schwarze Erde, die sich deutlich von den alles andere als humusreichen 'natürlichen' Böden des Amazonasgebiets unterscheidet.

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* science.ORF.at:

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** Gabler Wirtschaftslexikon:

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