Offenbar ist es dem modernen Menschen in die Wiege gelegt, Themen, die Jahrzehnte, möglicher Weise Jahrhunderte lang niemanden so richtig interessierten, plötzlich aufpoppen zu lassen und – aus meist schwer zu ergründenden Motiven – zu problematisieren. Immerhin ist es aber nicht ganz unwahrscheinlich, dass solch Lancieren neuer Themen mit einem Generationenwechsel zu tun hat. Intellektuelle Wortführer geben nicht nur neuen Ideen sondern auch neuartigen Idiosynkrasien – intellektuell verbrämten Vorlieben und Abneigungen, Lebensarten und Weltanschauungen – eine Plattform; mit einem Schlag offenbart sich die ‚Bildungslandschaft‘ als grundlegend verändert, und die so ganz anders formierte neue Generation von Bildungseliten setzt ihre Benchmarks. Diese neue Wort- und Themenführerschaft bildet sich in drei Phasen heraus. Anfangs werden die in Geltung stehenden Sichtweisen ignoriert und parallele Deutungsuniversen errichtet, dann folgt die Phase der Kritik, bei der das Herkömmliche als veraltet gebranntmarkt wird, um am Ende – wenn der Generationenwechsel definitiv vollzogen ist – offen bekämpft zu werden.
Um diese doch einigermaßen verblüffende Kehrtwende zu verstehen, muss man ein wenig ausholen – und nicht nur ein wenig sondern recht intensiv über gewsse ideologisch-technologisch-wissenschaftstheoretische Werkzeuge nachdenken, die schon lange bevor sie als gesamtgesellschaftliches Phänomen (‚neue Denkungsart‘) zu Tage traten, für sehr spezielle – nämlich militärische – Zwecke entwickelt worden waren. Man kennt dieses Phänomen seit den 40-er-Jahren des vorigen Jahrhunderts unter der Bezeichnung Kybernetik. Nach einer eingängigen Definition ist das „die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise von lebenden Organismen […]. [Man] vergleicht den Istwert [eines Systems …] mit einem Sollwert, [… wobei] eine Abweichung zwischen diesen beiden Werten [das System dazu veranlasst, sich selbst] so zu regulieren, dass sich der Istwert dem Sollwert angleicht.“* Praktisch und in der Maschinensprache ausgedrückt kommt hier das binäre (zweiwertige) Prinzip JA/NEIN beziehungsweise 0/1 (Istzustand erreicht/nicht erreicht) zur Geltung.
Auch dazu gibt es eine einfache und für den intellektuellen Hausgebrauch ausreichende Beschreibung: „Binärcodes lassen sich technisch sehr leicht abbilden und verarbeiten, z. B. durch Spannungen: Spannung liegt an → entspricht 1 oder logisch wahr, Spannung liegt nicht an → entspricht 0 oder logisch falsch. Diese kleinste Informationseinheit aus 1/0 bzw. wahr/falsch bezeichnet man in der Informatik auch als Bit. Durch logische Verknüpfung […] dieser einfachen Werte […] lassen sich komplexere, höherwertige Informationen abbilden.“** Im Vertrauen auf die behauptete universelle Anwendbarkeit auch jenseits der Maschinenwelt wollen wir den Spuren des kybernetischen Systems mit seiner binären Logik folgen – bis tief in die Menschenwelt hinein.
Kybernetisierung einer Generation. Was bedeutet die binäre Logik für die Gesellschaft? Statt einer raschen Antwort stellen wir eine Behauptung an den Anfang; vielmehr eine Negation. Was in den neuen Hermeneutiken (Hermeneutik als Erklärungsprozess verstanden), also in der vorhin beschriebenen zweiwertigen Welt des ENTWEDER – ODER nicht zum Tragen kommt, ist das Gesamthafte eines Systems. Die zur Erfassung ‚des Ganzen‘ (griech. ‚holos‘ = ‚ganz‘, ‚das Ganze‘) nötigen holistischen Methoden sind immer vergleichsweise mühsam, weil man mit ihnen Einzelphänomene sowohl als sie selbst als auch in Hinblick auf ein – allenfalls noch auszuarbeitendes – Ganzes anzusehen und zu untersuchen hat; zahlreich sind dagegen die separatistischen Anschauungen. In diesen gibt es – wir wechseln jetzt in die moralische Diktion – kein Jenseits von Gut und Böse; weder Grauzonen mit Übergängen zwischen Gut und Böse, noch ein Changieren von Gut und Böse. Was der separatistischen Anschauung also fehlt, ist ein Sensorium für die Komplexität des Ganzen und dessen Strukturen. Das würde eine Offenheit zur Zukunft hin bedeuten, und Zukunft ist nie eindeutig sondern zwei-, ja vieldeutig. Wo jedoch nichts offen bleiben darf, gibt es keine Zukunft: nichts und niemand bekommt eine Chance zu zeigen, was in ihm steckt. Schon sind wir mitten im Problem, um nicht zu sagen Dilemma.
Disjunktion statt Konjunktion. Das Denken in Differenzen (Gut und Böse, Weiß und Schwarz, Nützlich – Schädlich) ist keineswegs neu, neu ist sein ungeheuer erweiterter und vertiefter Geltungsbereich; diese Apotheose der Polarisierung (wenn man es denn so pathetisch ausdrücken mag) verdankt sich einer Entwicklung, die man ‚Kybernetisierung des Daseins‘ nennen könnte. Die Historikerin Andrea Komlosy beschreibt das gegenwärtige gesellschaftliche Sein (und nicht nur das gesellschaftliche) als gradezu vom binären Denken beherrscht (Komlosy 2023).***** Ein Denkansatz, dem zu folgen sich lohnt.
In diesem Szenario ist das strukturierte Ganze (das als solches gar nicht mehr wahrgenommen wird) längst in seine Teile zerfallen, aufgesplittert – wie man den Sachverhalt pointiert, möglicher Weise allzu pointiert beschreiben könnte – als ‚bits and bytes‘ in Form von Tausend und einer Ansicht, Tausend und einer Meinung, Tausend und einer Behauptung. Da gibt es keine Diskussion, nur mehr Konsens oder Widerspruch … Abstrakt gesprochen: Differenz ist zur entscheidenden hermeneutischen Kategorie geworden.
In der zweiwertigen Logik des ENTWEDER – ODER sind Entwicklung und Veränderung von Sachverhalten – beispielsweise die Vertauschung der Vorzeichen Plus und Minus – eine Denkunmöglichkeit. Ein Zustand, etwa die Zusammensetzung von Arten in einem gegebenen Biom, ist gemäß solch digitaler ist gleich zweiwertiger Logik niemals nur Momentaufnahme sondern immer schon die ganze Wahrheit. Bekanntlich dulden ganze Wahrheiten keine anderen Wahrheiten neben sich. Im Denken, das den Leitlinien der zweiwertigen Logik folgt, stehen Qualitäten notwendig gegeneinander, ohne jemals ineinander überzugehen; nicht einmal vermischen können sie sich. Komlosy: „Bei jedem digitalen Auswahlprozess erhebt sich das binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen.“
Wer schafft an? Statt linearem Herrschaftswissen kybernetische Optimierung. So unwillkürlich die Gesellschaft digital zustande gekommene ‚Wahrheiten‘ in sich aufnimmt und so selbstverständlich sie an deren Faktizität glaubt, so willkürlich sind deren Inhalte. Beinahe zufällig und auf Grund von eigentlich gleichgültigen Vorurteilen wählt die Öffentliche Meinung ihre Gegenstände aus. Im Falle der pflanzlichen und tierischen Invaders scheint es prinzipiell egal zu sein, welche Geschichte hinter deren Auftreten in der Umwelt steckt und welche biologische Rolle sie tatsächlich spielen. Vielmehr sind sie alle durchs digitale Nadelöhr gegangen und verdanken ihre gesellschaftliche Bedeutung (ihr mediales, oft auch juristisches Dasein) der Passgenauigkeit, mit der sie, um nochmals Komlosy paraphrasierend zu zitieren, im „digitalen Auswahlprozess [als] binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen“ taugen. Egal ob ‚guter‘ Fuchs (Spieler) oder ‚böser‘ Waschbär (Gegenspieler) – immer gilt es eine Entscheidung zu treffen, bei welcher der eine bleiben darf, der andere gehen muss. 0 oder 1, Fuchs oder Waschbär … und so weiter in endloser Kette virtuell austauschbarer Objekte, die zur Wahl stehen, nein: nach dem Zufallsprinzip aus dem Hut gezogen und dem verblüfften Publikum willkürlich zur Wahl gestellt werden. „Bist du dafür oder dagegen, dass der Einwanderer Waschbär den Einheimischen Fuchs verdrängt? Entscheide dich!“ „Ich will aber beide.“ „Das geht nicht.“
Die postmoderne, unter dem Szepter der Kybernetik stehende Denkungsart ist alles Andere als das, was sich eine fröhliche Wissenschaft noch in den 60-er-, 70-er-Jahren des letzten Jahrhunderts von ihr erwartet haben mochte. Es kam genau umgekehrt, sie hat statt der erträumten, im weitesten Sinn ‚antiautoritär-demokratischen‘, von der Basis her kontrollierten und kontrollierbaren Richtlinien für Wissenschaft, Management und Politik – ein neues Setting der Macht für jene drei Bereiche gebracht. Wie denn auch nicht? „Schließlich geht der Begriff ja auf das altgriechische ‚kybernetes‘ zurück, den Steuermann. Kybernetik steht dementsprechend für die Kunst des Steuerns und wird sowohl für technische als auch für politische Belange angewandt. Auch ‚Gouverneur‘ oder ‚Gouvernor‘ leitet sich davon ab“ (Komlosy).*****
Schon in den 70-er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Berliner Politikwissenschaftler Vincent August den Begriff technologisches Steuerungsdenken geprägt – es gibt bis heute keinen besseren, um den Wechsel von den „Fortschritts- und Legitimitätsversprechen der Nachkriegsmoderne“ (Komlosy) hin zu deren Gegenmodell zu bezeichnen: dem Netzwerk- und Systemdenken. „Kybernetik verwandelte sich damit sukzessive von einem technischen Instrument für die Steuerung des Wachstums zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Prinzipien, die die westliche Moderne geprägt hatten, insbesondere die Vorstellung eines durch kluge Politik geleiteten Staates, das damit verbundene Menschenbild des souveränen und mündigen Bürgers sowie den Glauben an ein von Linearität geprägtes Fortschrittsideal“ (ebd.).
Der Naturschutzgedanke war davon nicht ausgenommen. Ursprünglich ein dem Fortschritts-Theorem zwar skeptisch, aber nicht grundsätzlich feindselig gegenüberstehender ‚Wille zur Verbesserung der Welt‘ – als den man ihn bis zur kybernetischen Wende ansehen durfte –, zerplatzte sein Optimismus wie ein schöner Traum … und zerfiel in tausend separatistische Optionen, Möglichkeiten und Wege, aus denen man sich nach dem oben beschriebenen binären Auswahlprinzip (Null oder Eins) jeweils ausschließlich eine Option, ein Modell auszusuchen hatte und hat. Dass eine solche Reduzierung auf die eine Lösung („Eins tut not“, Lukas 10, 42) durch und durch autoritäre Modelle erzeugte und erzeugt – in unserem Fall eben Modelle eines fundamentalökologischen Naturschutzes –, verwundert nicht; zumindest dann nicht, wenn man dahinter die logische Konsequenz besagten Paradigmenwechsels erkennt.
Unfreiwillige Player in autoritären Szenarien. „Manchmal niedlich, manchmal fies.“ So beschreibt der populäre Eintrag im Netz jene Tier- und Pflanzenarten, die seit einiger Zeit das Interesse einer vordergründig Naturschutz-bewegten Öffentlichkeit erregen, weil sie im Konzept des Naturschutzes, nein, nicht als Gegenstand der Fürsorge sondern als Störfaktoren gelten (Link: Invasive Arten 1).*** Wo immer man ins Weltweite Netz hineingreift, fördert man puncto ‚invasive Arten‘ mit Sicherheit mehr alarmistische als gelassen-objektive Beschreibungen, Beurteilungen und Definitionen zu Tage. Mittlerweile auch schon legistische – und zwar, wenig überraschend: Definitionen aus Sicht einer Limitierungs- und Verbotspolitik. Die Biologie hat den Paradigmen-, sprich Generationswechsel, von dem eingangs die Rede war, mitvollzogen: auch an dieser Front sind Alarmismus und dystopische Szenarien in der Überzahl. Vom klassischen Evolutionsgedanken, für welchen ‚Natur‘ die Bühne symbolisierte, auf der die Arten im Wandel ihrer Rolle (und je nachdem, wie gut sie diese spielen) auf- und wieder abtreten, scheint sich eine ganze Generation, die sich dann vorsorglich gleich einmal ‚die letzte‘ nennt, definitiv verabschiedet zu haben. Nicht Bühne sondern Schlachtfeld ist ihr die Natur (und vergessen wir nicht: es handelt sich dabei um eine Alternativlosigkeit; eine Alternativlosigkeit unter dem Siegel nicht der Verschwiegenheit, sondern der binären und digitalen Entscheidung).
Der Begriff ‚Schlachtfeld‘ ist hier wirklich am Platz. Invasive Arten implizieren eine Alternative – Sieg oder Niederlage: „Der Begriff Invasion stammt aus dem Kriegskontext, ist aber […] im Umweltschutz etabliert. Invasive Arten sind solche, die aus einer anderen Region oder Weltgegend stammen und sich im neuen Lebensraum nicht nur etablieren, sondern sich so stark vermehren, dass sie einheimische Arten verdrängen, ihnen Licht und Nährstoffe streitig machen oder diese mit eingeschleppten Krankheitserregern infizieren. Laut dem Report des Biodiversitätsrats stellen sie eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, die unterschätzt und häufig nicht ernstgenommen wird“ (Link: Invasive Arten 2). Ohne damit über den inhaltlichen Aspekt im Positiven oder Negativen etwas auszusagen, sei doch zur Form („Invasive Arten spielen eine Schlüsselrolle beim Artensterben, warnt der Weltbiodiversitätsrat“) eine Anmerkung erlaubt: mehr Alarmismus geht nicht.
Objektive Gründe ... für eine Sprache der Gewalt? An Beispielen von Störungen durch invasive Arten herrscht kein Mangel, nicht darin liegt das Überraschungsmoment. Interessant ist die Sprache, mit der dieser Sachverhalt beschrieben wird – ein Tonfall, ein … Zungenschlag: „Der Salamanderfresser, ein Pilz, rafft derzeit Salamander-Bestände in Deutschland dahin. Er löchert die Haut der Lurche. Viele befallene Tiere sterben schon eine Woche nach der Infektion. Seine Heimat ist Asien, aber durch den weltweiten Tierhandel ist er vermutlich eingeschleppt worden. Im Wattenmeer an der deutschen Nordseeküste wimmelt es von scharfkantigen Pazifischen Austern. Ursprünglich wollte man sie als Delikatesse in abgeschotteten Zuchtbetrieben päppeln, etwa auf Sylt seit den 80er-Jahren. Doch ihre Larven brachen aus und überwucherten Miesmuschel-Bänke. […] Im Bodensee und am Genfer See explodieren die Bestände der Quaggamuschel und verdrängen andere Arten. Stellenweise siedeln Zehntausende Tiere auf dem Quadratmeter. Sie verstopfen Trinkwasser-Förderleitungen und verursachen dadurch Schäden in Millionenhöhe. Die Quaggamuschel stammt aus dem Schwarzmeerraum“ (Link: Invasive Arten 2). Es wird dahingerafft, eingeschleppt, sodass es von scharfkantigem Zeug nur so wimmelt; aber man hat die Invasoren ja aufgepäppelt, nun sind sie ausgebrochen und überwuchern alles. Das unerwünschte (unwerte) Leben explodiert und verdrängt Wertvolles, Erwünschtes. Zu Zehntausenden drängen die Invasoren aus dem Schwarzen Meer in den Bodensee. Ein Kriegsszenario.
Erster vorläufiger Eindruck: „Niedliche Waschbären, duftende Kanadische Goldruten, edle Pazifische Austern …“ Aber der Schein trügt, hinter der ‚Niedlichkeit‘ lauert Gefahr. „Von insgesamt 37.000 Pflanzen, Tier- und Mikrobenarten weltweit, die sich in der Fremde etabliert haben, gelten mehr als 3.500 Arten als invasiv. Invasive Arten spielen dem bislang umfassendsten Bericht des Weltbiodiversitätsrats zufolge eine Schlüsselrolle beim Artensterben. Sie stellen eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, so der Bericht“ (Link: Invasive Arten 2).
Alarmismus oder reale Gefahr? Beides. Unsere ganz und gar nicht binäre Antwort mag die Alarmschlagenden befremden; doch so aus der Mode gekommen kann unser Hauptargument gar nicht sein, dass es nicht immer noch sticht. Es lautet: Was an einem Ort die Wirkung A entfaltet, kann schon wenige Meilen weiter die gegenteilige Wirkung B zeigen. In dieser Konstellation ist A genau nicht einwertig. Und sein Verhältnis zu B somit nicht-binär. Wem dies zu spekulativ ist, findet die passenden Beispiele in der Globalgeschichte des Artentransfers – eines Zweigs der Natur- und Ökologiegeschichte, der, um es neudeutsch zu sagen, deutlich underrated ist (vgl. Liedl 2024, 179 ff.)***** Beispielsweise lässt ein und dieselbe genetische Flaschenhals-Situation (die Ausgangspopulation einer Art besteht aus wenigen, nahe miteinander verwandten Exemplaren) zwei gegenteilige Lösungen zu, je nachdem, wo sich das Ereignis abspielt. Auf einer Insel lässt sie die neue (Unter-)Art zur optimal angepassten Spezialistin werden, die darum aber auch recht unflexibel ist gegenüber ökologischen Veränderungen; auf dem Festland macht dasselbe Ereignis die betreffende Spezies genetisch flexibel und ökologisch resilient (vgl. McDonald 1981, 227 ff., 248 ff., 262 f.)*****
Nicht dass wir hier einen Verdacht schüren wollen gegen Zahlenangaben aus dem alarmistischen Eck – oder vielmehr doch. Das beliebte Beispiel der durch invasive Arten angerichteten ‚Schäden‘ – handelt es sich dabei um vorgebliche (aus einer Situation in eine andere, nicht vergleichbare Situation hinein-extrapolierte) oder um tatsächliche Schäden? Ein Satz wie der folgende erscheint doch reichlich lapidar: „Der Schaden, den invasive Arten verursachen, hat sich seit den 1970er-Jahren jedes Jahrzehnt vervierfacht: Der Weltbiodiversitätsrat beziffert die Kosten auf gut 420 Milliarden US-Dollar“ (Link: Invasive Arten 2). Das gilt auch für den Report der Vereinten Nationen, welcher „zeigt, dass invasive Arten […] in 60 Prozent aller beobachteten Fälle […] in der Vergangenheit ein wichtiger Faktor gewesen sein sollen, wenn Pflanzen- oder Tierarten verschwunden sind“ (ebd.); ja, „sein sollen“ – möglicherweise. Möglicherweise aber auch nicht. Hier wird die Beweiskette nicht leicht zu schließen sein. Von den meisten Aussterbe- oder Ausrottungsereignissen kennt man gerade einmal das Faktum selbst. Und dass es stets die neuen, notabene ‚invasiven‘ Arten seien, die zu einer Biodiversitätkrise führen sollen (ebd.), ist nicht wahrscheinlicher als die umgekehrte Interpretation: Dass die Erfolge neuer Arten nicht Ursache sondern Ergebnis einer Krise sind. Zumal, wie es im Bericht ebenfalls heißt, diese Krise „durch Zerstörung natürlicher Lebensräume sowie Übernutzung durch Wilderei noch verschärft wird“ (Link: Invasive Arten 2).
Hier wollen wir innehalten. Niemand leugnet die Gefahren, die sich aus abrupten Änderungen des Biodiversitätsgefüges gerade auch für den Menschen ergeben – jüngstes Beispiel das neue, europäische Verbreitungsgebiet der Asiatischen Tigermücke,**** welche – jedenfalls in ihren tropisch-subtropischen Herkunftsgebieten – Krankheiten wie Denguefieber oder West-Nil-Fieber überträgt. Aber wer hat denn diese Änderungen des Biodiversitätsgefüges in erster Instanz herbeigeführt? Die Mücke wohl kaum – Umweltveränderungen, die tropisch-subtropischen Lebewesen ganze neue Biotope eröffnen, übersteigen die Kräfte selbst eines Dämons von Insekt. „Invasive Pflanzenarten wie die Ambrosia aus den USA, die sich mittlerweile in Europa ausgebreitet haben, produzieren nicht nur sehr viele und hochallergene Samen, sondern blühen spät und verlängern damit die Pollen-Saison für Allergiker bis in den Herbst hinein“ (Link: Invasive Arten 2) – aber gewiss doch, nur … es war nicht die Pflanze, die alles aus dem Weg geräumt und den Boden so degradiert hat, dass außer ihr selbst kaum noch etwas darauf gedeihen kann, geschweige denn die schon vorher verschwundenen ‚Autochthonen‘. Nicht die Pflanze, sondern …?
Kriegsmetaphern, Formeln und Formen von ‚Bekämpfung‘. Die von Ökologen, ja Naturschützern zuletzt immer häufiger und lauter gestellte Frage: „Wie lassen sich invasive Arten bekämpfen?“ könnte aus psychologischer Sicht auch auf Verdrängung deuten. Wenn der Krug in Scherben auf dem Boden liegt, tagt das Scherbengericht. Aber wer hat den Krug zerbrochen? „Aus Sicht der Autorinnen und Autoren des Reports sind die Gegenmaßnahmen, die bisher ergriffen werden, grundsätzlich ungenügend. Fast die Hälfte aller Länder unternimmt gar nichts gegen biologische Invasionen“ (Link: Invasive Arten 2). Gar nichts gegen die Invasionen? Sollte es nicht heißen ‚Gar nichts gegen die Ursachen der Invasionen?‘– – – Die hier zitierten Wissenschaftler „glauben aber, dass es möglich ist, bei der Bekämpfung invasiver, gebietsfremder Arten Fortschritte zu erzielen“ (ebd.). Aufmüpfige Frage, die Zweite: Wäre es nicht ihre vordringliche Aufgabe als Biologen, Umweltexperten und so weiter, sich Gedanken prinzipieller Natur zu machen? Statt den ungeschoren bleibenden Verursachern der Misere nützliche Handlangerdienste zu leisten? Fragen eines denkenden Arbeiters, frei nach Bertold Brecht …
„Aber auch Ausrottung, Eindämmung und Kontrolle sind in bestimmten Situationen wirksam“ (ebd.). Sowie Machtspiele und Verbotspolitik: „Bei Arten, die als besonders invasiv gelten, müsse über Besitz- und Vermarktungsverbote nachgedacht werden, um der Verbreitung zuvorzukommen, [… und] wenn Ausrottung nicht mehr möglich ist, sind Management-Maßnahmen gefragt. Dann geht es darum, die Verbreitung zu kontrollieren. Das gelingt nicht immer […]. Jährlich wird ein großer Anteil an Waschbären**** […] geschossen, trotzdem bleibt der Bestand relativ stabil“ (Link: Invasive Arten 2). Genug zitiert. Durch Wiederholung des Alten lernt man nichts Neues.
Hören wir zum Schluss ein paar Stimmen der Vernunft und der Gelassenheit. „Heute kennt man über 37.000 Pflanzen-, Tier- und Mikrobenarten, die sich in der Fremde etabliert haben. Von ihnen sind laut dem Report mehr als 3.500 invasiv, das heißt, sie haben negative Auswirkungen auf Ökosysteme, auf die menschliche Gesundheit und die Nahrungsmittelversorgung. Die meisten Neuzugänge bereiten also keine Probleme, sondern finden im Laufe der Zeit ihre ökologische Nische und werden zum Bestandteil der einheimischen Vegetation“ (NABU – Naturschutzbund, Website, vgl. Link: Invasive Arten 2). Und noch deutlicher: „Ökosysteme, die nicht mehr intakt sind, machen es Neophyten – also gebietsfremden Pflanzen – allerdings leichter, sich anzusiedeln. Weitgehend intakte Biotope können sich hingegen vergleichsweise gut selbst regenerieren und beherbergen meistens weniger Neophyten“ (NABU, Website). Das klingt doch schon gleich ganz anders.
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Mensch:
** Kybernetik 2
Natur:
*** Invasive Arten 1
*** Invasive Arten 2
**** Tiere:
***** Literatur:
Komlosy 2023 = Andrea Komlosy: Freiheit von Wissenschaft und Sprache: Über das eisige Unverständnis zwischen den Lagern. Telepolis, Beitrag vom 12. November 2023.
Liedl 2024 = Gottfried Liedl: Der Mensch ist ein Beutegreifer. Unzeitgemäßes zur Ökologie. Ökologiegeschichte Online, Band 1. Wien 2024.
McDonald 1981 = Jerry N. McDonald: North American Bison. Their Classification and Evolution. Berkely – Los Angeles – London 1981.