„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" (Goethe). Genau. Er sei es. Weil er es nicht ist. Über das Ausmaß jener eklatant unedlen Haltung weiß man theoretisch Bescheid; in der Praxis jedoch stehen unserem Wissen einerseits mangelnde Kritikfähigkeit, andererseits nicht genügend Leidensfähigkeit im Wege - Homo sapiens ist auch ein begnadeter Verdränger.
Der britische Naturforscher und Altmeister des Dokumentarfilms, Sir David Attenborough, zieht mit 96 Jahren eine Art Bilanz, in deren Mittelpunkt gar nicht er selbst steht. Vielmehr geht es um den Gegenstand seiner lebenslangen Faszination: ‚Natur‘, gelesen als Gemeinschaft der Lebewesen auf dem Planeten Erde. Es ist, man muss es leider so sagen, eine traurige und traurig machende Bilanz. Attenborough kontrastiert die wunderbaren Bilder seines filmischen Lebenswerks (für das wir ihn bewundern und schätzen) mit dem Zustand der Erde im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends abendländischer Zeitrechnung (Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps).*
„Im Laufe meines Lebens bin ich einigen der außergewöhnlichsten Tierarten der Welt begegnet. Erst jetzt wird mir klar, welches Glück ich hatte. Viele dieser Wunder sind dabei, für immer zu verschwinden“ (Attenborough, Fünf vor Zwölf, 1:27 ff.). Der Dokumentarfilmer lässt die Aussagen seiner Interviewpartner Revue passieren. Was die Expertinnen und Experten über den Zustand unseres Heimatplaneten zu sagen haben, klingt alles andere als beruhigend. In Attenboroughs trocken zusammenfassender Formulierung ist es ein Bericht darüber, „wie Menschen Ökosysteme zerstören, von denen wir abhängig sind“.
Arten sterben. Seit es Leben auf unserem Planeten gibt, spielt die Evolution ihr Spiel vom Werden und Vergehen. Dass Arten aussterben, ist also ganz normal. Nicht normal ist das Tempo, in dem das geschieht, seit Homo sapiens aufgehört hat, eine Art unter anderen zu sein. Anders gesagt, es gibt so viele Individuen der Spezies ‚Mensch‘, dass ihr an und für sich nicht gerade zimperlicher Umgang mit den übrigen Playern aus Flora und Fauna durch den schieren Umfang solcher Intervention eine neue, katastrophale Qualität erreicht. Der Ausdruck Anthropozän (‚Zeitalter des Menschen‘) ist die präzise Beschreibung dieses totalitären Einflusses einer einzigen Spezies.
Kathy Willis, Professorin für Biodiversität an der Universität Oxford, bringt es auf den Punkt. „Wir wissen, dass in der Welt der Natur alles in Verbindung steht. Die gesamte Biodiversität ist weltweit miteinander verzahnt, man braucht alle Teile dieses Systems, alle werden benötigt, damit dieses System funktioniert. Wir Menschen mögen glauben, wir stehen außerhalb – aber wir sind ein Teil davon und völlig darauf angewiesen“ (Fünf vor Zwölf, 2:36 ff.). Sie wählt das Beispiel Pflanzenwelt – ein äußerst eindrucksvolles Beispiel: „25 Prozent der untersuchten Pflanzenarten ist vom Aussterben bedroht – jede vierte Pflanze! Wenn das nicht erschreckend ist … Pflanzen unterstützen fast alles, was wir brauchen. Denken Sie an die Luft, die wir atmen … an die Konzentration von CO2 in der Luft … an sauberes Wasser: Bäume reduzieren den Wasserfluss, fangen den Regen ab. Die Wurzeln halten das Erdreich an Ort und Stelle. Fällt man zu viele Bäume, endet es mit einem Erdrutsch. Das haben wir schon so oft erlebt. Und trotzdem machen wir immer wieder die gleichen Fehler.“
Zusammenhänge, wo man sie nicht vermutet. Heute ist eine Million (von geschätzten acht Millionen Arten) akut vom Aussterben bedroht. „Seit 1970 sind Vögel, Säugetiere, Amphibien und Reptilien um insgesamt 60 Prozent zurückgegangen. Große Säugetiere sind aus dreiviertel ihrer ursprünglichen Lebensbereiche verschwunden“ (Stuart Butchart, BirdLife International; Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.).
Für die gefiederten Kollegen ist die Welt mittlerweile ein ungastlicher Ort geworden. Zugvögel werden massenhaft gefangen, getötet, als Delikatessen gebraten und verspeist. Habitate wie Feuchtgebiete oder Wälder verschwinden, Nistplätze werden gerodet. Das Wegbleiben der Gefiederten liegt sozusagen auf der Hand. Woran man vielleicht nicht sofort denkt, ist die Fortpflanzung. Jungvögel brauchen zu ihrer Entwicklung Eiweiß. Unmengen davon. Hauptlieferanten tierischer Proteine aber sind die Insekten. Womit sich der Kreis schließt.
„Circa 10 Prozent der Insekten sind vom Aussterben bedroht. Manche vermuten, es seien noch viel mehr“ (Robert Watson, UN-Plattform Biodiversität und Ökosysteme; Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Wenn uns also Gelsen, Mücken und Fliegen weniger oft sekkieren als früher (weil sie von Umweltgiften dezimiert wurden), bezahlen wir diese Annehmlichkeit mit dem von der berühmten Autorin schon vor Jahrzehnten prophezeiten Stummen Frühling (Rachel Carson: Der stumme Frühling. Erstausgabe 1962).* Weniger Käfer, (Wild-)Bienen, Hummeln und andere Summer & Brummer bedeuten nicht nur weniger gefiederte Kollegen. Für Homo sapiens bedeuten sie auch weniger bestäubte Blüten im Frühling und weniger Früchte im Herbst. Um‘s mal ganz direkt, ganz plakativ zu sagen.
Plündern und Töten. „Viele denken, das Artensterben sei eine erfundene Geschichte, die von Naturschützern erzählt wird. Aber ich habe dies in Kenia selbst erlebt. … Früher lebten Tausende Breitmaulnashörner in Zentralafrika. Doch durch die Jagd und den Verlust von Lebensraum sterben sie jetzt aus“ (James Mwenda, Ol Pejeta Conservancy, Kenia; Fünf vor Zwölf, 5:56 ff.). Der Mann muss es wissen, ist er doch Pfleger und Wächter der letzten zwei Exemplare des Nördlichen Breitmaulnashorns, Ceratotherium simum cottoni.*** Von dieser nördlichen Unterart des sogenannten ‚Weißen‘ Nashorns – die andere Unterart lebt in Südafrika und ist dort ebenfalls bedroht, wiewohl noch nicht ganz am Ende – weiß man wissenschaftlich gesehen nicht allzu viel und wird mangels lebenden Anschauungsmaterials auch nicht mehr viel erfahren. Allenfalls der Historiker könnte auf spektakuläre Felsbilder verweisen, die diesen Vertreter der Megafauna als magisch verehrtes Jagdwild zeigen. Oder die spärlichen Zeugnisse aus der Antike anführen, die den Arena-Auftritt des einen oder anderen Rhinozeros-Kolosses beschreiben – von umtriebigen Tierhändlern aus der damals noch nicht ganz so wüstenhaften Sahara in die Hauptstadt der Welt gebracht, um dort die brutale Schaulust des populus Romanus zu befriedigen.
Nochmals der Wildhüter aus Kenia: „Wilderei ist wie ein Krieg, den wir führen müssen: Jeden Tag verlieren wir zwei oder drei Nashörner in Afrika. Und nicht nur Nashörner.“ Heute setzen Wildtierhandel und Wilderei jährlich mehr als viereinhalb Milliarden Euro um. Illegaler Handel mit Wildtieren und Pflanzen steht an vierter Stelle transnationaler Straftaten – nach Menschenhandel, Waffen- und Drogenhandel. Tierschutz-Expertin Iris Ho: „Wir sprechen von Millionen Tieren, die der Wildtierhandel betrifft; von Tausenden Arten. Angetrieben wird der illegale Handel vom steigenden Wohlstand in Asien – in China, in Vietnam und anderswo. Wenn Sie über Geld und Internet verfügen, können Sie im Netz buchstäblich alles bestellen, was sie wollen: entweder als Statussymbol oder für medizinische Zwecke“ (Fünf vor Zwölf, 13:18 ff.).
„Für medizinische Zwecke“ wurden und werden auch die Pangoline oder Schuppentiere (Manis pentadactyla, Manis javanica, Smutsia temminckii, Phataginus tetradactyla und andere) an den Rand der Ausrottung gebracht. Dass Wilddiebe und Händler nicht zimperlich mit der ‚Ware‘ umgehen, bevor diese im Kochtopf der fernöstlich-asiatischen Edelkundschaft landet, darf vorausgesetzt werden. „Wilderei ist ein brutales, grausames Geschäft. Ich habe Video-Aufnahmen gesehen, in denen Pangoline lebendig gekocht wurden. Es ist erschütternd zu sehen, wie diese Tiere getötet werden“ (Nicci Wright, Human Society International; Fünf vor Zwölf, 15:00 ff.).
Nachsatz: Attenboroughs Dokumentarfilm erspart den Zusehern auch optisch nur wenig. Von ‚Marktszenen‘ mit apathisch in engen Käfigen hockenden Todeskandidaten bis zu Bildern von lebendig ausgeweideten Schlangen oder im Todeskampf zappelnden Fledermäusen werden Details gezeigt, wie sie der zartfühlenden Seele besser verborgen blieben, doch für den objektivierenden Verstand zur Analyse besagter ‚Realität nach Art des Hauses‘ – vulgo Raubökonomie – leider notwendig sind. Übrig bleibt dann immer noch ein soziopathischer Rest, der vielleicht mit Methoden der Psychologie erklärt werden kann, dem Historiker aber stets ein Rätsel sein wird.
Was muss man fürchten? Was darf man hoffen? Die Biologin Elizabeth Hadly lehrt an der Stanford Universität. Ihr Fazit zum Schwinden der Biodiversität ist ernüchternd: „Nun ist aber der Rückgang überall gleichmäßig – in Amazonien, der Arktis, in Afrika … und betrifft die gesamte Biodiversität auf dem ganzen Planeten. Wenn wir diese Arten einmal verloren haben, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie zurück zu holen. Auf jeden Fall nicht in einem Zeitraum, in dem wir existieren“ (Fünf vor Zwölf, 3:05 ff.). Auch zum milliardenschweren globalen Handel mit Wildttieren oder Wildtierprodukten konfrontiert uns die Expertin mit extrem Unerfreulichem. Mit angelsächsischem Understatement wird die bittere Pille serviert: „Es gibt viele Möglichkeiten, Teile des Puzzles Natur zu entfernen. Der offensichtlichste ist, Tiere zu töten – und das tun wir oft.“ Sei es direkt, als Wilderei und ‚Bushmeat‘-Beschaffung, sei es in Folge des von uns mitverursachten Klimawandels, der besonders das Leben hoch spezialisierter Pflanzen und Tiere an seine Grenzen bringt. Und zwar buchstäblich. Biotope werden klimabedingt unbrauchbar; was dort lebt, wird in andere Nischen verdrängt – sodass beispielsweise Kälte liebende Organismen immer höher hinauf wandern müssen, bis es schließlich nicht mehr weiter geht. Elizabeth Hadly: „Man nennt das die Rolltreppe des Artensterbens, und wir sehen es überall auf der Welt“. Der weltumspannenden Bedrohung entspricht auf der Gegenseite nichts Gleichwertiges. „Die Problematik besteht darin, dass wir keine Umweltgesetze haben, die weltweit gelten.“
Keine Hoffnung also … Oder doch? „Vor 40 Jahren hatte ich eine der einprägsamsten Erfahrungen meines Lebens. Ich war in den Virunga-Bergen … und dort bin ich einigen der wenigen verbliebenen Berggorillas begegnet. … Es war eine unvergessliche Erfahrung. Aber sie war von Traurigkeit gefärbt: ich dachte, ich würde die Letzten ihrer Art sehen“ (David Attenborough).
Was aus Attenboroughs ‚Letzten ihrer Art‘ geworden ist, erzählt uns jemand, der es wissen muss. Prosper Uwingeli ist Ranger im Volcanoes National Park, Ruanda: „Früher gab es Spannungen zwischen der Parkverwaltung und der Gemeinschaft, wir hatten viele Wilderer, die Schlingen auslegten und Bambus abholzten. Heute haben wir über zweihundert Ranger, und ihre Aufgabe ist es, Gorillas zu beobachten und ihren Lebensraum zu schützen. Die Regierung hat ein Programm zur Aufteilung der Einnahmen aus dem Tourismus erstellt. Die Dinge haben sich geändert“ (Fünf vor Zwölf, 45:55 ff.). Und die Expertin für Gorillaschutz, Anna Behm Masozera sekundiert: „Die Koexistenz von Menschen und Berggorillas schien vielen nicht machbar. Aber in den darauffolgenden Jahrzehnten besserte sich die Lage. Die Regierungen, Naturschutzorganisationen und die lokalen Gemeinschaften haben zusammengearbeitet. … Ein Teil des im Tourismus erwirtschafteten Geldes kommt den angrenzenden Gemeinden zugute. Dadurch wurde der Lebensraum der Gorillas nicht weiter für landwirtschaftliche Bedürfnisse reklamiert. Und die Population hat sich erholt. Ihre Zahl hat heute die Tausend erreicht – und überschritten. Die Veränderung ist nicht von heute auf morgen passiert. Aber wenn sie hier erreicht worden ist – wo der Bevölkerungsdruck so groß und die Politik so kompliziert sein kann, vor allem zwischen den Staaten –, dann glaube ich, dass das auch anderswo erreicht werden kann“ (Fünf vor Zwölf, 45:31 ff.). Der geschätzte Freund, die ehrenwerte Freundin der Natur – können sie das glauben? Oder sind sie aufs Prinzip Hoffnung angewiesen ...
Wen kümmert die Natur? Grosso modo ist die Menschheit am Naturschutz nicht interessiert. Unlängst ging eine weltweite Kampagne zum Schutz der Meere zu Ende. Der Petition namhafter NGOs haben sich gerade einmal fünfeinhalb Millionen Menschen angeschlossen. Hört sich nicht wirklich viel an – und ist es auch nicht. Man müsste (bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden) fast 2.000 Personen ansprechen, bevor man eine fände, die auf die Frage: Kümmert dich der Zustand der Natur? mit ‚Ja‘ antwortet. Wir Naturfreunde sind eine Minderheit, den Ureinwohnern Amazoniens vergleichbar.
Aber. Martin Luther soll gesagt haben: „Wüsste ich, dass morgen die Welt untergeht, ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“
(Wird fortgesetzt)
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* Der Film:
Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.
** Literatur:
Rachel Carson: Silent Spring. US-amerikanische Erstausgabe: 27. September 1962 (Verlag: Houghton Mifflin). Manche sehen in dem Buch den Beginn der weltweiten Umweltbewegung; andere bezeichnen es gar als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts.
*** Links:
Breitmaulnashorn 1; Breitmaulnashorn 2; Gewilderte Schuppentiere