Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2

Gottfried Liedl am 2. Dezember 2022

Hier, im zweiten Teil meiner Überlegungen zu den Lehren, die wir aus Sharm el-Sheikh ziehen müssen, werde ich mich mit der ambivalenten Bedeutung sogenannt ‚westlicher‘ Errungenschaften befassen; also mit Fortschritt, Aufklärung und Wissenschaft. Und warum hier auf Staaten und die internationale Staatengemeinschaft so gar kein Verlass ist. Und man daher auf die vielzitierte, aber auch viel geschmähte Zivilgesellschaft setzen muss.

Zivilgesellschaft und ‚westliche‘ Errungenschaften. Alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kreisläufe beginnen und enden mit der Landwirtschaft, das wussten bereits die Physiokraten des 18. Jahrhunderts,** die ‚la terre‘ oder ‚terroir‘, dem Mutterboden, eine Schlüsselrolle im Gemeinwesen attestierten und ‚laboureur‘, den Landarbeiter, nein: den (im besten Sinn des Wortes) Agrarier an die symbolische Spitze besagten Gemeinwesens setzten.

Freilich war und ist Landwirtschaft nach Art des Hauses – im Sinne der Aufklärung – ambivalent: Vom Wert des Bodens theoretisch reden ist das Eine;  ihn zugleich praktisch im Rausch des Fortschritts zu misshandeln, das Andere. Investitions-gesteuerte Landwirtschaft – big business, Agroindustrie – trifft auf Philosophie; praktische Antworten zur Bedrohung des Bodens geben widerständige ‚laboureurs‘ vulgo Kleinlandwirte weltweit, aber mit Wirksamkeit auf lokaler Ebene, unter teils renaissancistischen, teils visionären Vorzeichen. Ihr Arsenal reicht von Bodengenossenschaft („Ackerland in Bürgerhand“) bis Permakultur. Um bloß zwei Beispiele zu nennen.**

Auch Naturschutz war und ist im ‚Westen‘ stets ambivalent. Den Anfang machte die sogenannte ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ mit ihrer großflächigen Verwüstung und Zerstörung der europäischen Wälder, auf die der jeweilige Landesherr mit einer nicht weniger rigiden Forstpolitik antwortete, nach der Devise: In meinem Wald und unter meinen Hirschen hat der Untertan nichts verloren. Diese Linie lässt sich verlängern bis zu den ‚Bisongesellschaften‘ der USA am Ende des 19. Jahrhunderts und zur ‚Weltherde‘ der Oryx-Antilopen (ein Zuchtprogramm zur Arterhaltung)** in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, nur jetzt mit genau umgekehrten Vorzeichen. Wäre Oryx leucoryx (die Weiße oder Arabische Oryx) auf die internationale Staatengemeinschaft und deren Verträge angewiesen gewesen, diese Weltherde wäre nie zustande gekommen und Oryx leucoryx könnte man heute allenfalls als verstaubte Stopfpräparate in Naturkundemuseen bestaunen. Ebenfalls ein Resultat zivilgesellschaftlicher Selbstermächtigung sind die famosen Buffalo Commons (‚Büffel-Allmenden‘)** im Westen der USA (vgl. Liedl: Das Zeitalter des Menschen, Seite 310 ff.).*

Ambivalent aber genauso wichtig: Wildtiere in privater Züchter- und Liebhaberhand – seit dem 19. Jahrhundert ein echter Aktivposten hinsichtlich der Rettung bedrohter Spezies. Stichwort: Weiterzucht der in ihrer chinesischen Urheimat bereits ausgestorbenen Davidshirsche (Elaphurus davidianus) durch den Herzog von Bedford (nach 1895); Stichwort: Bewahrung des bereits zweimal (im Ersten und im Zweiten Weltkrieg) von der Ausrottung bedrohten Wisents (Bos [Bison] bonasus), des europäischen Verwandten des Indianerbüffels, durch koordinierte Zoohaltung; Stichwort (denn aller guten Dinge sind drei): ‚Exotics‘ auf Texanischen Jagdfarmen. Heute grasen in Texas mehr Oryx-, Säbel- und Mendesantilopen, Damagazellen und Hirschziegenantilopen (‚Blackbuck‘) als in deren ursprünglichen Verbreitungsgebieten.

Afrika in Texas: Säbelantilopen © Lucky 7 Exotics (Homepage)**

Andererseits … Das Beispiel der Buschfeuer und wie man sie permanent nicht verhindert, stellt der Zivilgesellschaft und sogar, wie man gleich sehen wird, den Naturschützern kein gutes Zeugnis aus (den Naturschutzbehörden ohnehin nicht). Waldbrände in Spaniens Süden, meiner zweiten Heimat, wüteten 2022 beinahe ungehindert. Wochenlang wurde man ihrer nicht Herr, nicht zuletzt aufgrund einer verfehlten Umweltschutzpolitik: Man hatte die traditionelle Weidenutzung – eine klassische Allmende – weitgehend untersagt, was zu unkontrollierter Verbuschung des Waldbodens führte, der dann wie Zunder brannte und den vorgeblich so perfekt geschützten Wald ins Verderben riss. Ökofundamentalismus vom Feinsten? Könnte man sagen, wenn man Zyniker wäre und zu Dystopien neigte. Aber ein Fressen für rechtsgerichtete Medien war es allemal.**

Community of Investigators, Gelehrtenrepublik. Keine Frage. Klar sehen wir die Ambivalenz von Aufklärung und Wissenschaftlichkeit: Agro-Business, Ausbeutung der Ressourcen, Verschwendung und Klimakriminalität, falsche Heilsversprechungen à la „We feed the world“ auf der einen Seite; auf der anderen Seite führen Urbanität, Globalisierung des Wissens – mit der Chance, dass sich nicht nur das Big Business vernetzt sondern auch der Naturschutz –, Community of Investigators, Renaissance der Kant’schen Gelehrtenrepublik („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“) zum Begriff der Verantwortung. Anders gesagt, zu Mut und Resilienz. Den Krieg um die Ressourcen hat man der Zivilgesellschaft aufgezwungen. Im Kampf um das Wohl von Mensch und Natur herrscht keine Wahlfreiheit.

Der Krieg hat längst begonnen. „Der Naturschützer und Freund der Allmende wird … erkennen, dass es ihm nicht frei steht, Krieg zu führen oder nicht, weil dieser Krieg (gegen ihn und Seinesgleichen und alles, was ihm lieb und wert ist) von Naturverwüstern und Menschenverächtern längst geführt wird“ (Das Zeitalter des Menschen, Seite 235).

Der Brasilianer Chico Mendes kämpfte für die Allmende, als die er den Regenwald erkannte. Sein Programm: Naturschutz durch Menschen, die aus diesem Schutz einen Nutzen ziehen. Die Autochthonen des Regenwaldes könnten, so Chico Mendes‘ Schlussfolgerung, mit ihren traditionellen wie zukunftsträchtigen Methoden selbst am besten dafür sorgen, dass der Schauplatz ihrer Wirtschafts- und Lebensweise, der Wald, dem ideellen Gesamteigentümer, der Menschheit, erhalten bliebe. Dafür wurde er vom Großgrundbesitzer Darcy Alves de Silva am 22. Dezember 1988 erschossen.**

P.S. „Vom Wutbürger zum Mutbürger.“ Chico Mendes kämpfte gegen zynische Vernichter und Zerstörer. Wie die Indigenen Amazoniens. Wie alle, die Wälder aufforsten, statt sie zu fällen. Natur ist der öffentlichste Raum, der sich denken lässt. Den versuchen tapfere Iranische Frauen, Mädchen, Jugendliche und Kinder zurück zu erobern. Den Mädchen und Frauen Afghanistans, die ihn bereits besaßen, wurde er wieder genommen. Ihnen hat die Obrigkeit sogar den Besuch von Parks untersagt.

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* Literatur: Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte. Turia + Kant: Wien – Berlin 2022

* Ausstellung: Die sechste Auslöschung. Kritische Tierbilder von Walter Wegger

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** Links: Physiokraten; Bodengenossenschaft; Humusakademie; Permakultur; Weltherde; Buffalo Commons; Lucky 7 Exotics; Brände im Süden 1; Brände im Süden 2; Brände im Süden 3; Brände im Süden 4; Chico Mendes