Naturschutz als dehnbarer Begriff: Wie man Wildtiere verschwinden lässt, Teil 2

Gottfried Liedl am 17. November 2022

Im letzten Eintrag machte ich die Naturfreundin, den Naturfreund mit der traurigen Tatsache bekannt, dass der schöne Lainzer Tiergarten hinter dem Rücken seiner Eigentümer, der Wienerinnen und Wiener (aber offenbar mit Wissen und Billigung der Stadtverwaltung) erheblich beschädigt wurde. Was seine Schutzwürdigkeit als kulturell und naturkundlich wertvolle Landschaft betrifft – ein historisches Jagdrevier mit artenreichem Wildbestand –, gibt es keinen Zweifel. Sollte man meinen. Immerhin handelt es sich beim Lainzer Tiergarten um ein Natura 2000-Naturschutzgebiet; und um ein Europaschutzgebiet.

In diesem zweiten Teil meiner Eloge auf die bedrohte Fauna des „Tiergartens der Wiener“ (Gergely / Prossinagg: Vom Saugarten des Kaisers zum Tiergarten der Wiener) erlaube ich mir die naive Frage (wie es sich geziemt im Wiener Dialekt): „Ja derfen (dürfen) s‘ denn des?“ Gesetze sind gemacht, auf dass man sie befolge. So weit, so einfach …  

Wiener Naturschutzgesetz.* Unter der Überschrift Allgemeine Bestimmungen klärt § 1 des Wiener Naturschutzgesetzes darüber auf, dass „dieses Gesetz dem Schutz und der Pflege der Natur in all ihren Erscheinungsformen im gesamten Gebiet der Bundeshauptstadt Wien“ dient. Wenn wir uns nicht täuschen, sind also auch Rothirsche, Damhirsche und Mufflons damit gemeint.

Anders gesagt: Die Erzdiözese Wien könnte den Stephansdom nicht einfach abreißen lassen (zum Beispiel aus Kostengründen). Stephansdom, Schloss Schönbrunn und Lainzer Tiergarten sind Teil unseres Kulturerbes, Tiere und Pflanzen Teil unseres Naturerbes – sonst bräuchte es das ganze Wiener Naturschutzgesetz nicht. Ja irgendwie „gehören“ alle Rot- und Damhirsche, Mufflons und Wildschweine des Lainzer Tiergartens den Wienerinnen und Wienern auch im zivilrechtlichen Sinn (beziehungsweise den Bürgerinnen und Bürgern der Republik Österreich als Rechtsnachfolgern der Habsburger). Und wenn schon nicht das, so wenigstens als Symbolisches Kapital.

Ermessenssache Naturschutz? Wenn auch ‚nur‘ symbolisch, so ist das Naturerbe ein uns, den Bürgerinnen und Bürgern gehörendes Kapital. Dessen Nutzung hat nachhaltig zu sein – oder wie es im  § 4. Absatz 1 heißt:  Die Natur darf nur insoweit in Anspruch genommen werden, als „ihr Wert auch für nachfolgende Generationen erhalten bleibt“. Der Gesetzgeber lässt auch keinen Zweifel offen, wo die Grenzen besagter Inanspruchnahme liegen. Er untersagt alle Eingriffe, „die dem Schutzzweck zuwiderlaufen“ (§ 7. Absatz 4).

Ausnahmen … Hurra, ein Schlupfloch? Nicht wirklich. Die Naturschutzbehörde kann Ausnahmen nur dann bewilligen, „wenn die geplante Maßnahme keine wesentliche Beeinträchtigung des Schutzzweckes darstellt oder das öffentliche Interesse … bedeutend überwiegt.“ Wenn die Ausrottung dreier seit Jahrhunderten im Lainzer Tiergarten ansässiger Wildtierarten nicht eine „wesentliche Beeinträchtigung des Schutzzweckes“  ist, dann fragt man sich, was mit der Bezeichnung Lainzer Tiergarten gemeint sein soll. „Aber nur so lässt sich ein naturwaldartiger Zustand herstellen.“ Welches Interesse sollte „die Öffentlichkeit“ daran haben, dass aus dem „Tiergarten der Wiener“, einem durchgängig begehbaren Park, wo man als Bonus auch noch interessante Tiere zu Gesicht bekommt, ein weitgehend wildleerer, teilweise abgesperrter Pseudo-Urwald mit Betretungsverbot wird? Siehe Johannser Kogel, wo das schon heute der Fall ist.

Artenschutz im Sinne des Gesetzes. Eingriffe in eine bestehende Population wild lebender Tiere dürfen nach dem Wiener Naturschutzgesetz, das sich dabei auf die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU bezieht, nur dann vorgenommen werden, wenn „es keine andere zufriedenstellende Lösung … gibt“ und „der Erhaltungszustand der betroffenen Art im Gebiet der Bundeshauptstadt Wien trotz Durchführung der … Maßnahme günstig ist“ (§ 11. Absatz 4).

Dass es „keine andere zufriedenstellende Lösung“ für den Schutz des Waldes im Lainzer Tiergarten geben soll als die radikale Eliminierung dreier Wildtierarten, ist mit der Geschichte dieses ehemals kaiserlichen Jagdreviers ausreichend widerlegt, aber auch durch die bisherige Praxis einer über hundert Jahre währenden Verwaltung durch die öffentliche Hand. Was die Forderung des Gesetzgebers betrifft, dass der gute Erhaltungszustand von Arten, die durch einen Eingriff betroffen sind, im Gebiet der Bundeshauptstadt Wien weiter gewährleistet sein muss, erlauben wir uns den Hinweis, dass es außer dem Lainzer Tiergarten nirgendwo in Wien Bestände von Dama dama und Ovis gmelini musimon gab und gibt. Einmal aus dem Park entfernt, sind diese beiden Spezies definitiv – wie sagt der Volksmund?  – futsch.

Und wo in der Vereinbarung zwischen Forst- und Landwirtschaftsbetrieb (MA 49), der Wiener Umweltschutzabteilung (MA 22), der Tierschutzombudsstelle Wien, der Wiener Umweltanwaltschaft und dem Verein gegen Tierfabriken (auf dieser ‚Vereinbarung‘ beruht die Eliminierung der drei Spezies), wurde der „nötige Ausgleich für die Beeinträchtigung“ festgeschrieben? Das fragt man sich mit Blick auf § 11 des Wiener Naturschutzgesetzes, wo ja genau solches gefordert wird. Wenig überraschend die Antwort – nirgends.

Nicht schutzwürdig! „Rothirsch, Damhirsch, Mufflon sind ja nicht gefährdet!“ Ich höre es – und muss lachen (zugegeben, ein wenig bitter). Hat ja das Wiener Naturschutzgesetz ausdrücklich auch „nicht geschützte freilebende Tiere“ in seinen Geltungsbereich übernommen (nachzulesen im Abschnitt Allgemeiner Tier- und Pflanzenschutz, § 13. Absatz 1).

„Aber zumindest sind Damhirsch und Mufflon keine ursprünglichen Arten des Lainzer Tiergartens!“ Ist das so? Wenn im Gesetz als Ziel unter anderem die „Erhaltung der Ursprünglichkeit“ (eines zu schützenden Gebiets) betont wird (§ 23. Absatz 3), so kann sich das logischer Weise nur auf den Zustand zum Zeitpunkt der Unterschutzstellung beziehen. Im Fall des Lainzer Tiergartens sind somit als ‚ursprünglich‘ alle Arten anzusehen, die vor mehr als 90 Jahren dort heimisch waren. Also inklusive Rotwild, Damwild und Mufflons.

Der Punkt ist, dass im Naturschutz nicht mit zweierlei Maß gemessen werden soll. Naturschutz betrifft alle Kinder der Natur, die großen und spektakulären, die kleinen und unscheinbaren, die seltenen und die häufig vorkommenden. Und das Naturschutzgesetz gilt für sämtliche Naturnutzer. Wenn sich schon Blumenpflückerin und Schwammerlsucher an die Regeln halten müssen, um wieviel mehr ist solche Achtsamkeit vom Forstdirektor einzufordern.   

Abschließend ein kleiner Hinweis für den (unwahrscheinlichen) Fall des Falles: § 37 des Wiener Naturschutzgesetzes regelt auch die– ich zitiere – „Wiederherstellung des früheren Zustandes“ …

P.S. Nichts dazugelernt? „Geschichten aus dem Wienerwald“ betitelt der KURIER in der Ausgabe vom 17. November 2022 seinen Bericht über die geplante Errichtung des Logistik-Zentrums eines Gourmet-Gastro-Lieferanten auf einem der Stadt Wien und der Asfinag gehörenden 47.000 Quadratmeter großen Areal. Zwar soll die Anlage CO2-neutral werden (man hört’s … aber kann man’s auch glauben?) Dass die versiegelte oder weiter zu versiegelnde Fläche an den Lainzer Tiergarten grenzt, hat schon ein wenig Haut goût. Immerhin werden dort voraussichtlich rund 300 Sattelschlepper andocken und sich etwa 1.200 Fahrten mit Klein-LKWs abspielen. Täglich. Dass dazu eine ehemalige Mitarbeiterin der Umweltorganisation Global 2000 (siehe Google-Eintrag ‚Wiener Stadtregierung – Amtsführende Stadträtinnen und Stadträte‘) ihren Sanctus gibt (oder zu geben hat), lässt den Braten auch nicht weniger streng riechen. Auf dieses Gourmet-Gericht kann man jedenfalls gespannt sein.

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* Wiener Naturschutzgesetz