Postscriptum zu Sharm el-Sheikh: Montréal und das Artensterben

Gottfried Liedl am 5. Dezember 2022

Symbolpolitik ist sicher der beliebteste Sport unserer Zeit. Konferenztourismus (das wissen wir in Wien sehr gut) ist eine Cash Cow, die – wir bleiben beim gewählten Bild – dem Sport nur wenig nachsteht. Und Umweltfragen sind für Konferenztourismus perfekt geeignet.

Zur Zeit geht in Montréal, Kanada, die Konferenz zum Schutz der Biodiversität über die Bühne. Übrigens die fünfzehnte ihrer Art. Und weil es ja um herzeigbare Ergebnisse geht – schön gesetzte Zeichen und Symbole im Abschluss-Communiqué –, hat man als nette Deadline das halbwegs ferne, aber nicht allzu ferne Jahr 2050 ausgewählt. Bis dahin soll die Welt „im Einklang mit der Natur leben“ (wer denkt sich solchen Schwachsinn eigentlich aus? Man mag nicht glauben, dass es die Politiker selbst sind; eher möchte man davon ausgehen, dass hier das beliebte Subunternehmer-Prinzip bedient und eine lokale Fremdenverkehrs-Agentur mit der Ausformulierung betraut wurde).

Die Welt, wie sie ist. Als „Zwillingskrise“ der Klimaerwärmung wird das Artensterben gern bezeichnet. Oder als das sechste Massensterben der Erdgeschichte. Oder als unvermeidliche Auswirkung des Anthropozäns (Anthropozoikums), des „Erdzeitalters des Menschen“. Während der letzen 50 Jahre sind drei Viertel der Landfläche des Planeten derart stark verändert worden, dass bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten akut vom Aussterben bedroht sind. So steht es jedenfalls in dem Bericht, den 150 Wissenschaftler aus 50 Ländern, unterstützt von weiteren 310 Experten als Zusammenfassung von rund 15.000 Einzelstudien für das IPBES (die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) herausgegeben haben.    

Augenscheinlich haben die seit 30 Jahren laufenden Bestrebungen von UN-Institutionen, das Artensterben zu bremsen, wenig genützt.

Aber jetzt wird alles anders. In Montréal begnügt man sich keinesfalls mit der maximalen Deadline 2050. Vielmehr fügt man einen ‚realistischen‘ Zwischenstopp ein: 2030. In diesem Jahr sollen 30 Prozent der Land- und Wasserflächen des Planeten unter Schutz gestellt sein. 30 Prozent klingt gut. Und passt auch irgendwie in die Zahlenspielerei (30 Prozent – 2030). Nach so vielen Fehlschlägen sagt man sich wahrscheinlich: „Warum nicht mal ein wenig Zahlenmagie, damit endlich was weitergeht?“

Im Ernst. 30 Prozent klingt doch gut. In Österreich – dem Weltmeister im Bodenversiegeln – sind derzeit etwa 15 Prozent des Landes Schutzgebiete (zum Beispiel Natura 2000). Ich persönlich halte es daher für konsequent, dass die Alpenrepublik dann lieber gleich auf Event- und Tagungstourismus setzt. Wir waren schon immer dem Zeitgeist eine Nasenspitze voraus. Der EU-Schnitt an geschützten Gebieten beträgt übrigens 19 Prozent.

Alles Roger in Cambodscha? Der Zeitungsbericht nimmt das Ergebnis von Montréal messerscharf vorweg: „Die Vorzeichen … sind durchwachsen: Schon im Vorfeld wurde von gewissen Spannungen, vor allem politisch-diplomatischer Natur, … berichtet“ (KURIER vom 5. Dezember 2022, Seite 6). Gern hätte man die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Gern glaubte man an die schönen Versprechen, die mit Sicherheit wieder abgegeben werden. Versprechen? Wirklich? Dass die Konferenz unter dem Vorsitz Chinas stattfindet, klingt eher wie eine Drohung.

„Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ (Brüder Grimm). Keine Frage. Ein solches international herzeigbares And they all lived happily ever after haben wir von Montréal mit Sicherheit zu erwarten. Als Grundstein für die nächste konferenztouristische success story. Blöd nur, dass wenn das Märchenbuch zugeklappt ist und sich die Staubwolke, die dabei aus den vergilbten Seiten aufsteigt, verzogen hat, die Welt haargenau die selbe sein wird.

P.S. Im Geschäftsjahr 2020-21 betrug der Umsatz der hundert größten Rüstungskonzerne 560 Milliarden Euro. Ebenfalls sehen lassen kann sich der Schaden, den die großen Umwelträuber, Wilderer, Tier- und Pflanzenschmuggler anrichten. Er beträgt nach soliden Schätzungen jährlich bis zu 20 Milliarden Euro; der ‚Geschäftszweig‘, dem sich dieser Schaden verdankt, ist nach Drogenhandel, Produktpiraterie und Menschenhandel der viertgrößte seiner Art.  

Sie meinen, solcher Umwelt-Zynismus sei im zivilisierten Mitteleuropa undenkbar? Das vorgebliche Musterland Deutschland (die Naturschutzbewegung dort ist nach der englischen die zweitälteste in Europa), zeigt, dass dem nicht so ist. Erst wird ein Jungbulle der sowohl nach internationaler als auch EU-Gesetzgebung beziehungsweise im Deutschen Naturschutzgesetz streng geschützten Wisente (Bison bonasus, laut Roter Liste eine „potenziell gefährdete“ Tierart) einfach abgeschossen – der illegale Abschuss (im Grenzgebiet zu Polen) blieb ohne Konsequenzen. Dann setzte ein Gericht in Nordrhein-Westfalen noch eins drauf: Nach zehn Jahren Widerstand lokaler Grundbesitzer musste das Projekt zum Schutz frei lebender Wisente dort eingestellt werden – den Agrariern war die Handvoll Tiere (gerade einmal 20 Stück) ein unerträgliches Ärgernis. Und das, obwohl sie üppig entschädigt wurden und die Bevölkerung „den Tieren Unterstützung und Wohlwollen entgegen brachte“ (Heike Holdinghausen: Der Kampf um den Artenschutz: Die Wildnis als Störfall?)* Selbstverständlich fordert jetzt in Montréal die Bundesrepublik Deutschland mit hochmoralischer Geste genau dieses Wohlwollen gegenüber der Umwelt ein … nein, nicht von deutschen Großagrariern, sondern von Afrikanern, Indern und Chinesen.    

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* Link: Der Wisent-Skandal