Schon wieder eine sogenannte Herkulesaufgabe. Montréal im Konjunktiv

Gottfried Liedl am 17. Dezember 2022

Siehe auch BLOG # 12 vom 5. Dezember 2022: „Postscriptum zu Sharm el-Sheikh“

Dass von den etwa 8,7 Millionen Arten, die nach mehr oder weniger plausibel untermauerten Schätzungen den Blauen Planeten bewohnen, rund eine Million in den nächsten Jahrzehnten aussterben könnten, wenn Homo sapiens so weiter macht wie bisher, wissen wir schon lange. Dass diese wichtige Erkenntnis jetzt auch auf der Welt-Umweltkonferenz in Montréal die Runde macht, ist daher per se nicht schlecht und könnte uns gefallen. Leider ist hier der Konjunktiv angezeigt. Denn sieht man sich die in Montréal vorgeschlagenen Maßnahmen an, muss man schon sehr dickfellig sein, um nicht daran zu verzweifeln. Schwer vorstellbar, dass den bedrohten Arten damit tatsächlich effektiv unter die Arme gegriffen wäre (Konjunktiv). Selbst im wenig wahrscheinlichen Fall, dass diese Maßnahmen wirksam umgesetzt würden (abermals Konjunktiv).    

Was könnte helfen? Folgende Ursachen für das Artensterben werden genannt: Verlust von Lebensraum; Veränderungen in der Landnutzung; Jagd und Wilderei (warum beides in einem Atemzug genannt wird, ist zwar nicht ganz einsichtig, klingt aber gut); last not least werden auch Neobiota, nicht einheimische Tiere und Pflanzen als Ursachen für Artenschwund aufs Tapet gebracht.

Aus dem Maßnahmenpaket, das geeignet sein soll, Abhilfe zu schaffen, ragen einige Vorschläge heraus.

  • Unterschutzstellung von mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche, die zum Hohheitsgebiet eines Staates gehört. Einwand: Und was ist mit dem überwiegenden Rest? Mit jenen riesigen Flächen der Weltmeere, die als sogenannte Hochsee unter keines Staates Verfügungsgewalt stehen?
  • Länder – also Nationalstaaten – sollen an der Ausbeutung von Pflanzen, die für medizinische und andere kommerzielle Zwecke von Bedeutung sind, finanziell beteiligt werden. Was immer das in der Praxis heißt. Aber vor allem – was hat Beteiligung an der Ausbeutung von Natur mit ihrem Schutz zu tun?
  • Das Wichtigste scheint daher ein neuer Biodiversitätsfonds zu sein (tolle Wortschöpfung übrigens), mittels dessen Nationalstaaten dabei unterstützt werden sollen, Ressourcen wie zum Beispiel den Regenwald nicht auszubeuten sondern zu schützen. Hoppla. Dazu fallen einem gleich mehrere Einwände ein, der wichtigste ist wohl der, dass es zwischen „Ausbeuten“, „Nützen“ und „Schützen“ jede Menge Grauzonen und Übergänge gibt, unter anderem die nachhaltige Nutzung (nach Art der Indigenen); die aber findet genau keine Berücksichtigung im möglicher Weise sogar gut gemeinten Konstrukt.

Wer sind die Armen? Das Hauptargument der Befürworter eines Biodiversitätsfonds – „Die Zerstörung, Übernutzung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen ist geboren aus der Not armer Bevölkerungen“ – wird bis zum Abwinken wiederholt. Schuld sind also die Armen. Also nicht die Großgrundbesitzer mit ihrem unstillbaren Hunger nach immer ausgedehnteren neuen Flächen, sobald sie die alten ausgesaugt und ausgelaugt haben. Und auch nicht die Holzhändler und Prospektoren. Die Bergbau- und Öl-Lobbyisten. Nein. Schuld am brennenden Regenwald sind die gierigen Kleinbauern. Die im übrigen für eine moderne Agrarwirtschaft zu dumm sind.

Und ‚Naturschützer‘ nach Art des Hauses stoßen ins gleiche Horn: „Die armen Landlosen … die herzlosen Ökologen … die asozialen Regenwaldschützer … Jaguare sind ihnen wichtiger als der Mensch …“ Ohne zu registrieren, dass sie damit exakt das unterschwellige Narrativ der Agrarier, Landentwickler, Fortschritts-Verkünder (inklusive Handlanger aus Verwaltung und Politik) wiederholen. Diese Agenten eines sozial maskierten Fortschrittsdiskurses aber werden besagten Biodiversitätsfonds verwalten. Wie war das nochmal mit dem Bock als Gärtner?

Es geht um effektiven Schutz. Wovor sich die in Montréal Versammelten schon wieder drücken, ist die Beantwortung der simplen Frage: Wie schützt man Natur? Abermals wird die Frage verschoben und auf die beliebte, weil harmlose Ebene der Kompensationen gehievt. Anders gesagt – der reale Krieg gegen den Blauen Planeten wird geleugnet, die Machtfrage nicht gestellt. Statt dessen ‚lindert‘ man die Kriegsfolgen …

Wenn ich „Machtfrage“ sage, meine ich natürlich die Eigentumsfrage. Wir sind wieder bei Adam Smith. Bei den Nationalökonomen und ihrer Missachtung der Allmende. Nein, sagt die moderne Ökonomie. Güter, die ‚allen‘ gehören, lassen sich nicht schützen. Solche Güter müssen daher in die Obhut Einzelner übergehen. Die unsichtbare Hand des Marktes macht‘s wieder gut.

Nachtrag und Fazit. Auf der Ebene der Nationen ändert sich durch Verträge, die bloß die Kosten der Naturzerstörung ‚gerecht‘ auf alle verteilen, nichts an den Ursachen des allgemeinen Raubbaus. Nur wenn den Nationen und jenen, die sich hinter dem Begriff verstecken, die alleinige Verfügungsgewalt über Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berge, über den Boden, die Landschaften, Naturgegenstände und Naturphänomene aller Art entzogen würde, könnte sich auch die Frage des Schutzes neu stellen und, wer weiß, sogar effektiv lösen lassen. Könnte. Konjunktive, wohin man blickt.

P.S. Wie man Geld im Sinne der Natur gut anlegt, sprich jene belohnt, die tatsächlich Natur-Schutz betreiben, hat zuletzt die Verleihung des Energy Globe Awards (am 30. November in Wien) gezeigt.

Die 1999 vom oberösterreichischen Energie-Vorreiter Wolfgang Neumann gestiftete Auszeichnung erhielten diesmal – eingereicht waren 30.000 Projekte aus 183 Ländern – Agrarpioniere aus Indien (Bodenverbesserung im Reisanbau mit Hilfe von Enzymen); innovative Stromversorger aus Ruanda (Stichwort: Green energy); Menschen aus Brasiliens Öko-Szene (für ein spezielles Rycycling-Programm samt Trinkwasserbereitung); sowie eine Gruppe Techniker aus China, der eine Wiederverwendungsmethode für Kohlenstoffemissionen aus landwirtschaftlichen und industriellen Prozessen gelang.

In der Kategorie ‚Jugend‘ wurden Menschen aus Australien geehrt, die in mittlerweile 129 Ländern Jugendliche in Umweltfragen ausbilden. Einen Sonderpreis teilten sich elf Projekte für klimafreundliches Kochen. Allesamt Best Practice-Beispiele für Umweltschutz durch und für die Zivilgesellschaft.

„Besser geht’s nicht …“ - - - Stimmt. Besonders im Vergleich mit Montréal.

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Die Reihe zum Blog: Ökologiegeschichte. Ein Reader zum interdisziplinären Gebrauch

Bisher bei Turia + Kant erschienen:

Band 1 – Gottfried Liedl: Das Anthropozoikum

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Erweiterte Neuauflage von Band 1 (Teilbände 1.1., 1.2., 1.3.):

Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen

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Teilband 2/1 – Gottfried Liedl, Manfred Rosenberger (Hg.): Zivilisationen

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Teilband 2/2 – Gottfried Liedl, Manfred Rosenberger (Hg.): Naturdinge, Kulturtechniken

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