Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 2

Gottfried Liedl am 27. November 2022

Der erste Teil meines Blogs zum Vortrag vom 11. 11. schloss mit der einigermaßen gewagten Behauptung, dass die ökologisch-agrarökonomische Geographie der Barocken Gartenstadt unübersehbare Spuren an der 1,9-Millionen-Metropole hinterlassen habe. Und dass „der Wiener in seiner Mentalität ein ‚ländlicher‘ Typus geblieben“ sei. Um dieser Aussage historisch auf den Zahn zu fühlen, machen wir einen Sprung – zwar noch nicht gleich in die Gegenwart, aber doch an die Anfänge dessen, was man das moderne Wien nennen mag.  

Denn eigentlich (was gern übersehen wird) war Wien bis in die Zeit des Vormärz (etwa 1818 – 1848) die ‚urtümliche‘, naturnahe STADTLANDSCHAFT zwischen großen Wäldern, zahlreichen über Terrassen herabfließenden Bächen und der ungezähmten, vielarmigen Donau geblieben.

In dieser Entwicklung gibt es einen Bruch – die INDUSTRIALISIERUNG. Die hatte zwar bereits im Vormärz erste Lebenszeichen von sich gegeben, entfesselt wurde sie jedoch erst nach der Jahrhundertmitte, nach der – politisch gestoppten, ökonomisch erfolgreichen – bürgerlichen Revolution. So bildet die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als sogenannte GRÜNDERZEIT auch einen ersten (freche Frage: vielleicht den einzigen?) Einschnitt in das viel besungene Phäakentum der Wienerinnen und Wiener, wie es zuletzt als sogenanntes Biedermeier in Blüte stand.

Bevölkerungswachstum und Industrialisierung. Charakteristikum und Begleiterscheinung dieser Zeit ist das enorme Bevölkerungswachstum im Wiener Großraum, vor allem in den sogenannten Vorstädten und Vororten, die dann auch nach Schleifung der Stadtmauern mit dem alten Stadtkern vereinigt wurden (Eingemeindungen der Vorstädte, später auch der Vororte). Deutlich befeuert wurde diese Entwicklung von der Industrialisierung der Gebiete SÜDLICH der Vorstädte; später siedelten sich auch im Gebiet NÖRDLICH bzw. NORDÖSTLICH der nun begradigten Donau (zum Beispiel in Floridsdorf) Industriebetriebe an – mit all den bedenklichen sozialen Begleiterscheinungen, die damit einherzugehen pflegen.

Wien nach der Donauregulierung (1870|75)

Die Gründerzeit des 19. Jahrhunderts ist eine Epoche der Krisen, aber auch eine Epoche der Reformen: Die regelmäßig auftretenden Hochwasser-Ereignisse mit verheerenden Folgen besonders für die Gebiete und Dörfer nördlich des Wiener Donauarms (heutige Bezirke Leopoldstadt, Brigittenau) beziehungsweise nördlich der Hauptarme der Donau (Floridsdorf, Donaustadt) führten seit dem 18. Jahrhundert zu verschiedenen mehr oder weniger effizienten Regulierungsversuchen, die mit der großen Donauregulierung von 1870|75 einen vorläufigen Schlusspunkt fanden (Begradigung des Strombetts; Errichtung des ‚Überschwemmungsgebiets‘; Wiener Donaukanal). Die ebenfalls problematischen Wienerwaldbäche inklusive Wienfluss wurden verbaut, das heißt  kanalisiert und großteils in den Stadtuntergrund verlegt.

Immer wieder aufflackernde Seuchen und die katastrophale hygienische Situation in den dicht besiedelten und eng verbauten Vorstädten, wo die großen Mietzinskasernen anstelle kleiner Hofhäuser wie die Pilze aus dem Boden schossen, führten zu einer radikalen Neugestaltung der Wasserversorgung. An die Stelle der unhygienischen Hausbrunnen traten die beiden Hochquell-Wasserleitungen (1873, 1910).

Ein wichtiges, auch sozial- und kulturpolitisch bedeutsames Requisit der Wohnkultur wird die sogenannte BASSENA. Zusammen mit dem sogenannten ‚Klo am Gang‘ (also Wasser-Klosett anstelle des im Hof angesiedelten Abort-Häuschens) war das eine echte hygienische und sozialökonomische Verbesserung. Das Wasser ist jetzt nicht nur von exzellenter Qualität, es muss auch nicht mehr mühsam vom Hof oder gar einige Straßen weiter geholt und die Stockwerke hinauf geschleppt werden. Als Anlaufstelle für Klatsch und Tratsch ersetzt die BASSENA auch perfekt den HAUS-, HOF- oder STADTBRUNNEN.

Artenschwund, ökologische Verarmung. So positiv sich die Donauregulierung auf die Wohn- und Lebensverhältnisse der Wiener Stadtbevölkerung ausgewirkt haben mochte, so verheerend waren deren Folgen für die nicht-menschlichen Bewohner der Stadtlandschaft Wien. Am Beispiel der im Wiener Großraum heute und vor 200 Jahren vorkommenden Vogelarten kann man die ökologische Verarmung sehr gut rekonstruieren: Zwischen 1870 und 1920 sind von den ursprünglich rund 120 Arten mindestens 16 ausgestorben, das entspricht einer Rate von 13 Prozent.

Kaiseradler, Schwarzstorch, Rotmilan: drei aus Wien verschwundene Arten

Aus mehreren Gründen – einige sind Gegenstand des Vortrags – hat sich der Artenschwund seit den 50-er und 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts verlangsamt, ja durch Einwanderung von rund einem Dutzend neuer Arten quasi umgedreht. Kanadagans (Branta canadensis), Mandarinente (Aix galericulata), Türkentaube (Streptopelia decaocto) und Co. profitierten vom ‚Grünen Wien‘ des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, dem Wien der Parks und Naturschutzgebiete. Dieses ‚Grüne Wien‘ kann übrigens durchaus als eine zielgerichtete Antwort auf Bevölkerungswachstum, Industrialisierung und soziale Krise verstanden werden – somit auch als eine Art ‚Renaissance‘ der Barocken Gartenstadt. Mit auch für die gefiederten Wienerinnen und Wiener recht ersprießlichen Begleiterscheinungen.  

Wiener Vogelleben heute. Nach einer im Verlag des Naturhistorischen Museums herausgebrachten Studie zeigt die Artenverbreitung im urbanen Großraum – also dort, wo sich die von mir so genannte ‚Stadtlandschaft‘ erstreckt – ein typisches Muster.  Die zersiedelte Mischzone zwischen eng verbauter Innenstadt und bewaldetem Stadtrand (typischer Weise gleichzusetzen mit den ehemaligen Vororten und heutigen Außenbezirken – man könnte auch vom Grünraum zwischen Gemeindebau, Schrebergarten und Villenviertel sprechen) – weist die meisten Arten auf, die Agrarsteppe im Osten die wenigsten, noch weniger sogar als in der eng verbauten Innenstadt zu finden sind.

Wie gesagt – dieses doch recht erfreuliche Bild verdankt sich letzten Endes und plakativ ausgedrückt dem Wiener Phäakentum, jener sich gegen alle Anfechtungen der Moderne durchhaltenden und sich sogar im sozialen Umfeld eines Groß- und Kleinbürgertums, ja proletarischen Industriearbeitertums behauptenden ‚Ländlichkeit‘ des Wiener Charakters. Dazu mehr im nächsten Blog ...

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* Literatur: Gábor Wichmann | Michael Dvorak | Norbert Teufelbauer | Hans-Martin Berg (Hg.): Die Vogelwelt Wiens. Atlas der Brutvögel. Wien: Verlag des Naturhistorischen Museums Wien, 2009