Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 3

Gottfried Liedl am 28. November 2022

Als ich unlängst von der Absberggasse im 10. Bezirk zum Stephansplatz spazierte, wurde mir auf verblüffende Weise etwas klar. Praktisch die ganze Strecke legte ich unter Bäumen zurück. Der Weg führte mich vom neuen Helmut Zilk Park im Sonnwendviertel durch das Arsenal mit seinem herrlichen alten Baumbestand zum Schweizer Garten, dort machte ich einen Abstecher in den Barockgarten des Belvedere, von wo es – nach einem stärkenden Zwischenstopp im Bierlokal des Schwarzenberg Parks – weiter ging.

Der nächste Halt galt leider keinem Musterbeispiel für umweltbewussten Urbanismus – im Gegenteil. Beim Betreten des Schwarzenbergplatzes erwartete den müden Wanderer eine veritable ökologische Ohrfeige, beziehungsweise nein, es muss anders heißen. Die Ohrfeige ist dem großen Platz am Fuße des kleinsten Weingartens Wiens seinerzeit verpasst worden vom spanischen Architekten Alfrede Arribas, der ihn in den Jahren 2002–2003 zum weitläufig bodenversiegelten, plump auftrumpfenden Hitzepol-Monster 'gestylt' hat. Eine umweltpolitische Respektlosigkeit, die mir beim Anblick des Hochstrahlbrunnens (eingeweiht zu Ehren der 1. Wiener Hochquell-Wasserleitung) gleich noch einmal so ärgerlich wurde. Kein Ort, um zu verweilen. Nach einer weiteren baumlosen Durststrecke wartete endlich die edel belaubte Doppel-Allee der Ringstraße auf mich, von wo es nur mehr ein Katzensprung war zum Stephansdom mit seinem an die Seitenwand angelehnten – nomen est omen – Götterbaum.

Eine Option wäre auch der Umweg über den Rennweg hinauf zum Botanischen Garten gewesen, von dort durch die Ungargasse zum Stadtpark, dann ein kurzer Blick – nein, nicht auf den Herrn Lueger sondern auf die majestätische Platane dahinter. Den unvermeidlichen Schlusspunkt würde dann das in Ehren ergraute Künstler-, Intellektuellen-, Touristen- und Pensionistencafé Prückel gebildet haben.

„Schon merkwürdig,“ dachte ich beim Gehen, „wie das Klischee von der Wirklichkeit eingeholt wird.“ Zum Rhythmus der Schritte gesellte sich im Schädel ein Mantra-artiges „Grünes Wien, Grünes Wien …“ Anscheinend ist dieses Mantra in der kulturellen DNA meiner Heimatstadt fest verankert. „Im Prater blüh’n wieder die Bäume…“;  „Wenn der weiße Flieder wieder blüht…“;  „Drunt‘ in der Lobau …“ Und wo ließen die Proletarierinnen und Proletarier ihren ersten Maiaufmarsch stattfinden? Erraten – im Prater.*   

Gartenstadt trifft Aufklärung. Im 18. Jahrhundert erhob sich ein vielstimmiger Chor, der sein teils wohlklingendes, teils kakophonisches Lied vom neuen Menschen erschallen ließ. In diesem Lied schwangen auch neuartige Naturlaute mit. Was John Locke und David Hume, Adam Smith und die Physiokraten,* Diderot, Voltaire, Rousseau und die übrige enzyklopädische Gang theoretisch erörterten, fand als Aufgeklärter Absolutismus („Alles für das Volk, nichts durch das Volk“) seinen aristokratisch-praktischen Niederschlag.

In Wien sah das dann so aus, dass die Herren der Barockstadt ihre Gärten auch den Untertanen zur Verfügung stellen zu sollen meinten. Allen voran der Kaiser. Ohnehin kein Freund der Jagd, öffnete er die herrschaftlichen Reviere Prater und Augarten dem p.t. Publikum umso lieber, als dieses respektvoll, gesittet und höflich – gewissermaßen mit ständig gezogenem Hut – den von allerhöchster Stelle angebotenen Naturgenuss in Empfang nahm. Oben wie unten war man aufgeklärt, will heißen: Vom Wert der Natur für Moral, Ernährung und Volksgesundheit überzeugt.

Als einen „Schätzer“ der Menschheit ließ sich Joseph II. auf der Gedenktafel am Eingang zum Augarten feiern. Diese neue Wertschätzung der Natur als Teil der Wertschätzung des Menschen musste sich in Wien die Schauplätze dafür nicht erst schaffen; die Barocke Gartenstadt, eingebettet zwischen Wald- und Wasserlandschaft, verfügte über jede Menge unverbauter Räume, die sich zu obrigkeitlich verordneter volkshygienischer Nutzung anboten.

Aufklärung trifft Romantik trifft Sozialreform. Bezüglich Sehnsucht der Wienerinnen und Wiener nach Grün ließ sich die Barocke Gartenstadt ohneweiteres mit physiokratischen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen verbinden. Eine solcherart gefestigte Tradition erweist auch im beginnenden Biedermeier, nach den aufwühlenden Erfahrungen der Napoleonischen Kriege ihre Beharrungskraft. Und das auch kulturell überhöht – von Schuberts nicht nur im häuslichen Freundeskreis sondern auch in freier Natur dargebotenen Liedern bis zu Beethovens Pastorale, wo die Natur nicht als Hintergrund von Landpartien sondern als sie selbst verherrlicht wird.  

Was das ‚Grün in der Stadt‘ betrifft, so lassen sich in der Donaumetropole drei Schichten – drei historische Erneuerungs- und Verbesserungsschübe in Richtung ökologisch ausgewogener städtischer Umwelt entschlüsseln:

  • Die ‚aristokratische‘ Phase (auf der Karte grün markiert)
  • Die ‚bürgerliche‘ Phase (gelb markiert) – und
  • Die ‚proletarische‘ Phase (rot markiert).

Im 5- bis 10-jährigen Rhythmus während der ‚aristokratischen‘ Phase, im 10-jährigen während der ‚bürgerlichen‘ Phase beziehungsweise im Abstand von 10 bis 20 Jahren seit der ‚proletarischen‘ Ära beobachtet man eine zwar langsamer werdende, doch niemals ganz zum Stillstand kommende, kontinuierliche Begrünungspolitik im urbanen Raum:

Adel verpflichtet

1766 Prater

1775 Augarten

1779 Schlosspark Schönbrunn

Die Gärten der Bürger

1819–23 Volksgarten

1857–65 Stadtpark, Rathauspark

1871–74 Errichtung des riesigen Zentralfriedhofs

1888 Türkenschanzpark

1905 Wienerwald unter Schutz gestellt

1906 Einweihung des Schweizer Gartens

1919 Öffnung des Lainzer Tiergartens

Das grüne Rote Wien

1935 Kauf des Pötzleinsdorfer Schlossparks**

1957 Kauf des Schwarzenbergparks

1967, 1974 Internationale Gartenschau WIG

1972–1988 Errichtung der Donauinsel

2003 ff. Seestadt, Sonnwendviertel, Stadtwildnis Wien & Co.

Sprießendes Grün. Bemerkenswert ist der Zuwachs an öffentlichem Grün im verbauten Stadtgebiet. Von 1819 bis 2020 wuchs Wiens Parklandschaft jährlich um rund 12 Hektar, das sind rund 17 Fußballfelder. Von jedem beliebigen Punkt der Stadt beträgt die weiteste Distanz zur nächsten größeren Grünfläche im Durchschnitt drei, maximal fünf Kilometer. 

Noch ein Wort zur GRÜNEN POLITIK DES ROTEN WIEN. Auch da lebt die Longue durée, die Lange Dauer der Barocken Gartenstadt und des Aufgeklärten Absolutismus in gewisser Weise weiter. Im Gemeindebau der Zwischenkriegszeit herrschte das sozialdemokratische Credo mit seinen drei Grundsätzen Naturverbundenheit, Bildungsbeflissenheit und Gemeinschaftssinn. Sodass man geradezu vom Roten Wien inmitten einer bäuerlich-kleinbürgerlichen Umgebung sprechen könnte … Aber wen wundert’s? Hatten doch nicht wenige Wiener Proletarier immer noch Verwandtschaft auf dem Lande. Aber statt in die Kirche und anschließend zum Kirchenwirt ging man Sonntags – in die Lobau … in den Wienerwald … nach Sievering zum Heurigen. 

Zeitgeist. Wenn wir die Ökologisierung der Millionenstadt Wien im 19. und 20. Jahrhundert wirklich verstehen wollen, müssen wir unseren Blickwinkel erweitern und uns ansehen, welche umweltpolitischen Forderungen und Folgen die Weltanschauung anderswo hervorbrachte:  

Ökologisierung des Lebens in der Stadt

1742 Öffnung des Tiergartens Berlin für die Bevölkerung

1783 Bois de Boulogne für das Pariser Publikum geöffnet

1851 Weltausstellung im Hyde Park, London

1859 Eröffnung des Central Park, New York

Naturgenuss

1862 Österreichischer Alpenverein

1863 Schweizer Alpen-Club

1869 Deutscher Alpenverein

1895 Aufruf in der ‚Arbeiter-Zeitung‘ zur Gründung der Naturfreunde Österreichs

1896 Gründung der Wandervogelbewegung

1912 Erste Pfadfindergruppe Österreichs in Wien

1925 Rote Falken in Wien

Wiederum fällt auf, wie nahtlos sich die Österreichische Sozialdemokratie (in ihren urbanen Stützpunkten, den Industriegebieten und den großen Städten) dem ideologischen Gesamtbild einfügt und ein letztlich in der Romantik wurzelndes Naturverständnis weiter pflegt und hochhält. So entsprechen dem bürgerlichen ‚Alpenverein‘ die proletarischen ‚Naturfreunde‘; auf die bürgerlichen Jugendbewegungen ‚Wandervögel‘ und ‚Pfadfinder‘ antwortet die Sozialdemokratie umgehend mit ihrer eigenen Wandervogel-Bewegung, den ‚Roten Falken‘. Der kleinbürgerlichen Reformbewegung, den Gartenstädten und Reihensiedlungen wird mit dem Dorf-in-der-Stadt-Konzept namens Gemeindebau entgegengetreten. Dieses kann nämlich ebenfalls als ‚Wohnen im Grünen‘ gelesen werden …  natürlich minus 'BÜRGERLICHER INDIVIDUALISMUS' und zuzüglich 'PROLETARISCHE SOLIDARITÄT'. (Wird fortgesetzt)

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* Anmerkungen:

Erster Maiaufmarsch. Das war im Jahr 1890. Weil die Behörden jede Kundgebung vorab untersagt hatten, organisierte die sozialdemokratische Führung einen – Praterspaziergang. Etwa 100.000 Menschen nahmen daran teil.

Physiokraten. Mitglieder einer von François Quesnay (1694–1774) gegründeten ökonomischen Schule, welche die Natur als einzige Quelle des Volkswohlstandes ansah (physiocratie, wörtlich ‚Kraft der Natur‘).

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** Anmerkung Pötzleinsdorfer Schlosspark. Ja, auch wenn die Rote Stadtregierung 1934 nach der Niederschlagung der Schutzbunderhebung abgesetzt war, der Geist der  kleinbürgerlich-proletarischen Reformbewegung lebte weiter.