Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole

Gottfried Liedl am 21. November 2022

Im ersten Eintrag meiner ‚Selbstgespräche mit Leserinnen und Lesern‘ habe ich versprochen, nicht nur übellaunig zu sein sondern auch „über mehr oder weniger erfreuliche Ausnahmen von der Regel, … dass Homo sapiens egoistisch und egozentrisch, rücksichtslos und dabei auch noch erstaunlich kurzsichtig ist“ (Blog # 1 vom 14. September 2022) zu berichten und Dinge zum Besten zu geben, von denen ich glaube, dass sie tatsächlich zu den besten gehören. So liegt es auf der Hand, nach dem Aufweis von eher nicht so wirklich ‚besten Dingen‘ aus der Werkstatt von Wiens Stadtregierung (= meine ganz persönliche Version der Geschichten aus dem Wienerwald) der Wahrheit – einer ganz anderen Wahrheit – jenseits der Ärgernisse nachzugehen und die von besagter Stadtregierung selbst regelmäßig behauptete Rolle Wiens als Umweltstadt, ja Grüne Stadt zu untersuchen. Das habe ich zuletzt in einem öffentlichen Vortrag probiert.

Vortrag, 11.11.2022

In diesem Vortrag ließ ich für eine angenehme knappe Stunde das Feld der (Zeit-)Kritik links liegen, um die Komfortzone des Historikers aufzusuchen. Bequem zurückgelehnt aus der Ferne zuzusehen, wie sich Verhältnisse und Jahrhunderte die Hand reichen, ist eine Option; Ziel muss dennoch der Erkenntnisgewinn sein, den dieser Blick durchs halb geöffnete Fenster gewährt.

Historiker at ease © Thuan Nguyen-Tien    

Wie man wurde, was man ist. „Ich bin ein Kind der Stadt – die Leute meinen und spotten leichthin über unsereinen, dass solch ein Stadtkind keine Heimat hat. In meine Spiele rauschten freilich keine Wälder. Da schütterten die Pflastersteine, und bist mir doch ein Lied, du liebe Stadt“ (Anton Wildgans, 1881–1932). Ja. Aber. Kann man sich Paris vorstellen ohne die Seine? London ohne Themse? Ohne Hyde Park, Kensington Gardens, Hampstead Heath? Berlin ohne die Spree, den Tiergarten, den Grunewald?

Wien und die Donau … Praterauen und Wienerwald. Terrassen, die sich zur Stadtmitte absenken und östlich der Donau in die Ebene des Marchfelds auslaufen. Keine Stadt ohne Stadtlandschaft. Die Geographie des urbanen Raumes ist die Geographie seiner Hügel, Abhänge, Terrassen, Flusstäler und – ja, auch das – Senken, Sümpfe und stehenden Gewässer. Die gute Luft und ein gesundes Klima verdankt sie günstigen Winden; oder sie wird zum Hotspot der Seuchen, wenn ihre Gewässer in der brütenden Hitze stagnieren.

Über diese ‚Urlandschaft‘ – also die geographischen Voraussetzungen, die sozusagen schon immer gegeben waren und noch heute ihre Wirkung entfalten, stellt der Wiener Sozial- und Wirtschaftshistoriker Peter Eigner in seiner zusammen mit Andreas Weigl herausgegebenen ‚Sozialgeschichte Wiens 1740–2020‘ fest: „Es sind naturräumliche Gegebenheiten, die die Ausgestaltung und Wachstumsrichtung des Wiener Stadtraums wesentlich mitbeeinflussten: die Lage an der Donau bzw. jene am Rande des Wienerwalds, des östlichsten Ausläufers der Nordalpen. Große Teile des heutigen Wiens waren bis weit in das 19. Jahrhundert hinein eine weitgehend von Wasserläufen, Auen und Tümpeln geprägte und daher dünn besiedelte Naturlandschaft.“*

Wie man wurde, was man ist. Gehen wir also ein paar Jahrhunderte zurück, sagen wir in die Zeit um 1700. Das Bild der Stadt, das sich uns bietet, ist, um‘s mal salopp zu sagen, noch ganz schön viel ‚freie Natur‘ und ganz schön wenig ‚Stadt‘. Eine Stadt, in der es sich – so das einhellige Stereotyp – gut leben ließ. Die Wiener seien unbekümmerte Phäaken, hieß es im neiderfüllten Ausland. Natürlich gab es in der Sozialgeschichte Wiens Hunger und Elend. Aber es gibt eben jene andere, typische Annahme: dass sich die BAROCKE GARTENSTADT, die Residenzstadt Wien, mit den wichtigsten Grundnahrungsmitteln (samt dem ‚Luxusgut‘ Wein) viel besser selbst versorgen konnte, als viele vergleichbare Städte Mitteleuropas. Diese Annahme – wie wahrscheinlich ist sie ?

Barocke Gartenstadt. Nach einer neueren Berechnung (Tim Soens)* benötigte Wien im 18. Jahrhundert ein agrarisches Einzugsgebiet von rund 450 km2, das ist ziemlich genau die Fläche des heutigen Bundeslandes Wien. Und dieses agrarische Umland war tatsächlich vorhanden.

Wien um 1750 mit der eigentlichen Stadt, den Vorstädten und Vororten

Wien hatte um 1750 zusammen mit den Vorstädten und Vororten 191.200 Einwohner und Einwohnerinnen. Diese bezogen ihren Lebensunterhalt und ihre Lebensqualität im wesentlichen aus drei Quellen:

  • Aus den wasserreichen Waldgebieten (Wildpret aus den Kaiserlichen Jagdrevieren, Fische, Muscheln und Krebse aus der Donau)
  • Aus den nahe gelegenen Ackerbaugebieten im Süden (Laaer Berg und Wiener Becken) sowie im Nordosten (Marchfeld mit seinen Schlössern und großen Grundherrschaften)
  • Aus den stadtnahen beziehungsweise direkt in das dichter verbaute Gebiet eingestreuten Gärten (Hausgärten der einfachen Leute, Kräuter-, Gemüse- und Gewürzgärten für die Hofküchen des Adels).

Dazu kam der Weinbau im Westen, an den Hängen des Wienerwaldes. Das Handwerk und die Verarbeitungszentren agrarischer Produkte, vor allem die Getreidemühlen konzentrierten sich dort, wo der Ackerbau an die Stadtlandschaft stieß, also im Süden (daran erinnert der noch heute existierende Getreidemarkt nahe dem Wienfluss) und nordöstlich der Stadt (der Ortsteil Kaisermühlen erinnert an die großen Schiffsmühlen auf der Donau). Die wichtigsten Märkte für Agrargüter lagen im Süden, diejenigen für Salz und Flussfische im Norden, nämlich am Wiener Arm der Donau (heute: Donaukanal). Alle Grundnahrungsmittel konnten aus einem Umkreis von etwa einer Tagesreise herangeschafft werden.

In meinem Vortrag stellte ich daher eine möglicher Weise ziemlich kühn anmutende Behauptung auf. „Die ökologisch-agrarökonomische Geographie der Barocken Gartenstadt Wien liegt noch der heutigen ‚Grünverteilung‘ in der Millionenstadt Wien zugrunde.“ Und übermütig geworden, legte ich noch eins drauf: „Der Wiener ist in seiner Mentalität ein ‚ländlicher‘ Typus geblieben.“ Der Wahrheitsbeweis (wenn er denn möglich ist) wird hier demnächst angetreten … Fortsetzung folgt.     

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* Literatur:

Andreas Weigl | Peter Eigner (Hg.): Sozialgeschichte Wiens 1740–2020. Transformationen des Raums, Inklusion und Exklusion, Außenansichten und Mobilität. Studien Verlag: Innsbruck – Wien 2022;

Tim Soens: Urban Agriculture and Urban Food Provisioning in Pre-1850 Europe: Towards a Research Agenda. In: Erich Landsteiner | Tim Soens (Hg.): Farming the City. The Resilience and Decline of Urban Agriculture in European History. Studien Verlag: Innsbruck – Wien 2020 (Seite 13–28)