Der du mit dem Flammenspeere | Meiner Seele Eis zerteilt, | Dass sie brausend nun zum Meere | Ihrer höchsten Hoffnung eilt: | Heller stets und stets gesunder, | Frei im liebevollsten Muss: – | Also preist sie deine Wunder, | Schönster Januarius! (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)
Gespräch beim Weine. „Jeder Mann und jede Frau hat das Recht, als handelndes Subjekt der Geschichte angesehen zu werden und ist des Erinnerns würdig.“ Dass dieses Postulat so spät und eigentlich auch heute noch nicht wirklich eingelöst wurde, hat man den Historikern und Historikerinnen zur Last gelegt. Freilich handelt es sich dabei nur um eine – wenn auch bezeichnende – Mitschuld. Jahrtausende mussten vergehen, bis der Menschheit so etwas wie ein Problembewusstsein dämmerte: dass da mit der Überlieferung etwas nicht stimmen könne, wenn sie sich bloß auf einen Bruchteil der den Planeten Erde bevölkernden Wesen bezieht.
„Du sprichst ein großes Wort gelassen aus: ‚Die den Planeten bevölkernden Wesen‘ ... Das hieße demnach, dass die Überlieferung – also das In-Wert-Setzen vor der Geschichte – bei Männern und Frauen vulgo ‚Menschen‘ nicht stehen bleiben dürfte; dass auch Andere: Kinder, Tiere, Pflanzen … vielleicht sogar die Berge und Meere, die Luft, das Feuer, Regen und Wind und was sonst noch den Planeten Erde ausmacht (und wovon die Shintoisten und Zen-Buddhisten schon immer überzeugt waren, dass sie ‚die Seele‘ besagter Welt bilden), jener Überlieferung und dieser Wertschätzung würdig seien.“
Gut gebrüllt, Löwe. Was hier aber gleich dazugesagt werden muss: Wie das Wort ‚Subjekt‘ – „Unterworfenes“ – klar zum Ausdruck bringt, gehen mit der Würde einer solchen Geschichtsmächtigkeit jede Menge Beschwerlichkeiten einher, allen voran das Ärgernis, für die Vergangenheit, also für den Inhalt der Archive des Erinnerns, verantwortlich zu sein. Was die Frage aufwirft, ob man auch Kindern, Tieren, Pflanzen, Bergen, Meeren etc. „die Schuld geben“ kann für das, was an Unerquicklichem (Kriege, Hungersnöte, Seuchen, Mord & Totschlag sowie alle möglichen Niedergänge und Niederlagen) von den Geschichtsschreibern mit überliefert zu werden pflegt, wenn es darum geht, das weniger Unerquickliche glänzen zu lassen. Ist das erlaubt? Buddhisten, Shintoisten und Naturanbeter beantworten diese Frage gerne mit dem Werbeslogan einer Lebensmittelkette: „Ja, natürlich!“
Subjekt, „unterworfen“ zu sein, bezieht sich nach dieser Lesart auf eine Verantwortung. Verantwortung für das Schöne & Gute ebenso wie für die dunkleren Seiten der Geschichte. „Das hat was,“ sagt ihr … und denkt vielleicht an die antike Moira, das Schicksal, dem nicht zu entrinnen sei. Nietzsche nannte es „Ewige Wiederkehr“. Den Religionen wiederum – wenn wir von Animismus & Co. mal kurz absehen – ist dieser Fall bekanntlich ganze Bibeln und Korane wert. Gebote und Verbote, die religiösen wie die der säkularen Welt, zielen auf den Gordischen Knoten einer Verantwortung von Mann, Frau, Kind, Tier, Pflanze ... für Mann, Frau, Kind, Tier, Pflanze. Das kann als Ärgernis aufgefasst werden oder als Aufgabe.
„Frei im liebevollsten Muss ...“ – Eine weder Ausnahmen noch Entschuldigungen duldende Verantwortung (Kants Kategorischer Imperativ) erzeugt Haltung. Im antiken Sprachgebrauch wäre das freilich wieder Moira … „Du wiederholst dich!“ – „Ja. Das unentrinnbare Schicksal, Nietzsches zielloses Spiel des Seienden mit sich selbst.“ – „Große Worte. Ich bezweifle, dass man das auf Seiten des Menschen eine Haltung nennen kann.“ – „Dann eben eine Weltanschauung. Wiederum nietzscheanisch geredet und gedacht: die Welt – jedenfalls die Welt der Menschen – ein Ort, wo die Rechte den Pflichten unversöhnlich gegenüberstehen. Immer noch der Kategorische Imperativ, aber als ein unmöglich zu befolgender.“ – Der Philosoph, mit schwer zu deutendem Gesichtsausdruck, nimmt einen tiefen Schluck.
„Was aber ist dann ‚Geschichte‘?“„Das kann ich dir sagen, mein Freund. Geschichte, wie ich sie verstehe, ist die Summe aller Reaktionen von die Erde bevölkernden Wesen auf andere die Erde bevölkernde Wesen. Das Ziel ist also jedesmal die Darstellung eines Ganzen.“
„Nur dass dieses Ziel noch nie erreicht wurde.“
„Du sagst es, mein Freund. Du sagst es.“