Wie man Wildtiere verschwinden lässt

Gottfried Liedl am 20. Oktober 2022

Wer in seine Suchmaschine den Begriff „Lainzer Tiergarten“ eingibt, stößt rasch auf die offizielle Seite der Stadt Wien,** wo allerlei Wissenswertes zur Geographie, Landschaft, Flora und Fauna dieses 2500 Hektar (25 km2) großen Naturschutzgebiets im Westen der Millionenstadt zu finden ist. Freilich fallen auch ein paar Ungereimtheiten auf.

Wenn man – wie der Autor dieser Zeilen dies seit Kindheitstagen tut – das prachtvolle Gebiet regelmäßig aufsucht und durchstreift, ist man den meisten seiner geflügelten oder vierfüßigen Bewohner schon einmal persönlich begegnet. Und man meinte daher jenen Fachbüchern und Beschreibungen Glauben schenken zu dürfen (Gergely / Prossinagg, Wikipedia u.a.),** die jenes Naturjuwel als Gebiet mit reichem Wildbestand – mit Rot- und Damhirschen, Mufflons (Wildschafen), Rehen und Wildschweinen – darstellen. Um dann verblüfft festzustellen, dass auf der aktuellen Homepage der Stadt Wien drei davon, nämlich die Rothirsche, das Damwild und die Mufflons nicht mehr vorkommen. Dabei waren sie doch noch unlängst als typische Bewohner des Lainzer Tiergartens abgebildet und beschrieben und dem p.t. Publikum ans Herz gelegt worden („aber bitte nicht füttern“) – auf dem nett gemachten bunten Folder, den die Parkverwaltung Besuchern und Besucherinnen beim Haupteingang kostenlos aushändigt.

Arbeitsgruppe mit Biss. Es begann mit einer „Arbeitsgruppe Lainzer Tiergarten“ und deren ökologischem Husarenstück namens Wildtiermanagement, dem zufolge die Wildschweinpopulation zu reduzieren und der „Bestand an Rot-, Dam- und Muffelwild aufzulassen“ sei. So steht es in einer Vereinbarung zwischen Forst- und Landwirtschaftsbetrieb (MA 49), der Wiener Umweltschutzabteilung (MA 22), der Tierschutzombudsstelle Wien, der Wiener Umweltanwaltschaft und dem Verein gegen Tierfabriken. Als weitere Experten fungierten zwei Tierärzte im Ruhestand und ein ehemaliger Professor der Veterinärmedizinischen Universität. Welche Qualifikation der Verein gegen Tierfabriken für den Abschuss von Wildtieren und die Eliminierung dreier Huftierarten mitbringt, will sich einem nicht so recht erschließen. Sei’s drum. Der Inhalt besagter „Vereinbarung“ wurde umgesetzt.

Totschlagargumente. Was waren die Argumente für diesen in der Geschichte des Lainzer Tiergartens beispiellosen Eingriff? Und einmalig in ihrer Radikalität sind die Maßnahmen von Magistratsabteilung 49 & Co. auf jeden Fall, wenn man bedenkt, dass Rothirsche seit hunderten von Jahren dort lebten, Damhirsche im 18. Jahrhundert und Mufflons um 1840 in den Tiergarten gelangten. Und dass sie ihren Lebensraum auch nicht nachhaltig schädigten, dafür sorgte schon ihre regelmäßige Bejagung  (Gergely / Prossinagg, Seite 43 ff.).* Im Gegensatz zur traditionellen, seit Jahrhunderten gut funktionierenden Regulierung (durch die Jagd) greift das moderne, sich zeitgemäß, also fundamentalökologisch gerierende ‚Wildtiermanagement‘ zum krassen Mittel der Eliminierung.

Starke Worte. „Der Lebensraum Lainzer Tiergarten ist für Rotwild ungeeignet“. Interessant. Das war Generationen von Förstern offenbar bisher entgangen. So ungeeignet war des Rotwilds Lebensraum, dass man regelmäßig Hirsche mit 600 Pfund (300 kg) Körpergewicht erlegte.* „Dam- und Muffelwild sind keine heimischen Wildarten.“ Man lernt nie aus. Ich dachte immer, Damhirsche lebten seit der Römerzeit, auf jeden Fall seit dem Mittelalter in unseren Breiten. Über Mufflons lese ich – aber die Autoren sind vermutlich Dilettanten – dass diese seit 1566, mit Sicherheit seit 1729, als Prinz Eugen einige Exemplare direkt aus ihrer Urheimat Sardinien importieren ließ, hierzulande vorkommen.* Wie man sich irren kann. Im ORF Interview vom 10.3.2018 rechtfertigt der Forstdirektor Andreas Januskovecz die Ausrottung damit, die betreffenden Tierarten seien „in Lainz nie heimisch gewesen“, deshalb sei dies „nicht ihr ökologisches Ausbreitungsgebiet.“

Das Sprechen über „ökologische Ausbreitungsgebiete“ suggeriert die Vorstellung einer heilen Welt, in der alles so ist, wie die Natur es vorgesehen hat. Abgesehen davon, dass man diesen Glauben an die Vorsehung von irgendwoher zu kennen meint … Wer definiert, was Natur ist, was ursprünglich ist? Ursprünglich wann? Um 1900? Im Spätmittelalter? - - - Am Ende des Mittelalters war der Wienerwald so verwüstet, dass man den Wald mit der Lupe suchen musste.

Die Realität. Bei einem stadtnahen Ausflugsgebiet mit jährlich mehr als 500.000 Besuchern und Besucherinnen – wie sinnvoll kann da die Rede von der ‚ursprünglichen Naturlandschaft‘ sein (einer Landschaft, in der nur Tiere leben, von denen wir glauben, dass sie das auch ohne menschliche Eingriffe zustande bringen)? Eine ‚ursprüngliche Naturlandschaft‘ mit asphaltierten Straßen und ausgebautem Wegenetz? Mit Rasthäusern, Wirtschaftsgebäuden, einem Schloss namens Hermesvilla? Würden wir das Argument einer ökologisch abgestimmten ‚Renaturierung‘ so verwenden wie die Urheber des Wildtiermanagements, wir hätten folgende weitere Schritte zu setzen:

  • Aussperrung aller Besucher und Besucherinnen, wie das schon jetzt rund um den Johannser Kogel der Fall ist, wo man einen Eichenwald zum ‚Urwald‘ erklärt hat (so als ob nicht seinerzeit Förster diese Eichen künstlich angepflanzt hätten – aus rein wirtschaftlichen Gründen);
  • Totalrückbau des Straßennetzes, Auflassen und Überwuchernlassen aller Wander- und Spazierwege;
  • Abriss sämtlicher Gebäude inklusive Hermesvilla;
  • Verzicht auf sämtliche Forstarbeiten und Maßnahmen zur Landschaftserhaltung und –gestaltung;
  • Entlassung des dann überflüssig gewordenen Personals, insbesondere des Personals in leitender Funktion.

Gedanken zum Abschluss. Als Anfang der 1970-er Jahre im Wiener Sternwartepark zahlreiche Bäume gefällt werden sollten, um an ihrer Stelle Gebäude zu errichten, gab es einen öffentlichen Aufschrei samt Volksabstimmung. Am Ende kostete das den Bürgermeister sein Amt, und der Gemeinderat erließ ein strenges Baumschutzgesetz. Bäume sind sichtbar, sie ragen in den Himmel. Wenn hingegen scheue Tiere des Waldes verschwinden, fällt das kaum auf. Trotzdem sind sie am Ende verschwunden.

Im kommenden zweiten Teil meiner Geschichten aus dem Wienerwald wird es um Naturschutz als dehnbaren Begriff gehen. Und um das Wiener Naturschutzgesetz.

_____

* Literatur: Thomas und Gabriele Gergely / Hermann Prossinagg: Vom Saugarten des Kaisers zum Tiergarten der Wiener. Die Geschichte des Lainzer Tiergartens – entdeckt in einem vergessenen Archiv. Böhlau Verlag: Wien – Köln – Weimar 1993

** Links: Tiergarten 1; Tiergarten 2