Wir wollen sie nicht ...! Umweltpolitische Retrospektiven - oder: Das Böse in der Natur

Gottfried Liedl am 26. Juli 2023

In meiner Jugend (das war in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, und leider wird man nicht jünger) erlebte so mancher Zeitgenosse (mit oder ohne Jagdprüfung), wie es ist, sich dem Gefühl eines zart keimenden umweltpolitischen Frühlingserwachens hinzugeben.

Was redet er da – Jagdprüfung?

Jahrhunderte lang hatte die Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ auch für die Natur gegolten. Für den Weidmann waren die ‚guten‘ Tiere das sogenannte Friedwild (Rehe, Hirsche, Gämsen und anderes Getier in Wald und Fels, dem die Sorge und Fairness des Jägers notabene Hegers zu gelten hatte – obwohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Landwirte solche Weidgerechtigkeit nie wirklich akzeptierten; für sie galt und gilt das einfache Konkurrenzprinzip: außer ihnen selbst hat kein Lebewesen irgendeinen Anspruch auf die Früchte des Ackers). Und dann gab es die Bösen – die Jäger hatten sie ‚Raubwild‘ oder gar ‚Raubzeug‘ getauft … die wurden verfolgt. Das waren die Luchse, die Bären, die Wölfe … die Reihe ging hinunter bis zu den Füchsen, Mardern und Wieseln; in den Lüften galt die negative Aufmerksamkeit jener Jäger und Heger den sogenannten ‚Raubvögeln‘, den Adlern und Habichten; und dem gefiederten ‚Raubzeug‘, den Krähen und Elstern. In der Bekämpfung derselben – die alten Jagdgesetze nahmen sich da kein Blatt vor den Mund – waren vom Tellereisen bis zum Gift alle Mittel erlaubt. Was sage ich … Bekämpfung? Ausrottung hieß die Losung, wenn am Jägerstammtisch die Rede auf die ‚Bösen‘, die ‚Schädlichen‘ kam. Bonadeas Gatte, der „nicht nur Richter, sondern auch Jäger war“, sagt im Mann ohne Eigenschaften, „dass es einzig das Richtige sei, das Raubzeug allerorten ohne viel Sentimentalität auszurotten“ (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, I, Seite 261).

Eine ökologische Wende. Aber in den öffentlichen Diskurs – und Ehre, wem Ehre gebührt: die Jagdgesetzgebung war da ganz vorne mit dabei (jedenfalls im deutschsprachigen Raum) – kam Bewegung. Statt des Antagonismus der einzelnen Teile („nützlich-schädlich“) sah man ein Zusammenspiel im Ganzen, statt einzelne privilegierte Arten zu schützen, sollte eine Umwelt – sollten Habitate („mit allem, was dazugehört“) – erhalten, gefördert, ja wieder hergestellt werden. Leuchtturmprojekte wie die Wiederansiedlung des Wanderfalken, des Uhus, des Lämmergeiers und des Seeadlers, des Fischotters, der Wildkatze und des Luchses bereiteten die Öffentlichkeit mental, juristisch und praktisch auf die Rückkehr der großen Beutegreifer vor: des Wolfs und des Bären. Ja. Beutegreifer nannte man jetzt die einst als Räuber, Raubtiere und Raubzeug denunzierten Fleischfresser. Das 19. Jahrhundert mit seinem ‚Gut und Böse‘ in der Natur schien endlich überwunden.

Zu früh gefreut. Es gibt sie wieder, die Schädlichen, die Bösen. Sie heißen jetzt nur ein wenig anders: Neobiota, Neozoen und Neophyten, Alien Species … Ihre ‚Schädlichkeit‘ (yes, sir … der alte Begriff feiert in der europäischen Gesetzgebung als Noxious Wildlife fröhliche Urständ) entspringt wie seinerzeit einem Nützlichkeitskalkül; nur dass sich der Mensch, dem das ‚böse‘ Naturwesen einen Schaden zufügt (zum Beispiel der Wolf dem Schäfer, der Luchs dem Jäger) jetzt schlau hinter der Natur selber versteckt: hinter der einheimischen Natur, wohlgemerkt. Also gibt es noch eine andere, eine nicht-einheimische, eine ausländische Natur. Arten dieser ‚fremden‘, dieser feindlichen Natur müssen möglichst kostengünstig … ausgerottet werden  („to eradicate such species in a cost-effective manner“: EU-Durchführungsverordnung der Kommission 2016/1141 vom 13. Juli 2016).* Oder wie es in der spanischen Version so schön, so unverblümt heißt: „Estas plantas deben ser eliminadas de raíz – diese Pflanzen müssen mit der Wurzel ausgerissen werden.“

Damit hat sich das Gut-Böse-Schema sogar ausgeweitet. ‚Gut‘ sind die Einen, die Naturschützer (wahlweise: Ökologen), ‚schlecht‘ oder böse (denn es setzt Strafen für jene, die sich an die neue Sprachregelung und Gesetzeslage nicht halten) die Anderen – jene Rücksichtslosen, welche ‚fremde‘, sprich ‚böse‘ weil ‚ausländische‘ Lebewesen dulden, fördern oder gar einführen, sprich ‚einschleppen‘ (gemäß einer bestimmten Diktion mit politischem Zungenschlag) – vielleicht in Anlehnung an die ‚Schlepper‘, die fremde Menschen heranschaffen?

„Aber es geht doch um die Artenvielfalt.“ In den Erläuterungen zur EU-Richtlinie werden unter invasive alien species jene Arten verstanden, durch deren Existenz „die biologische Vielfalt bedroht oder negativ beeinflusst“ wird. Biologische Vielfalt wessen – eines bestimmten (begrenzten) Gebiets; eines größeren (nationalen) Territoriums; eines ganzen Kontinents? Auf welchen Zeitpunkt bezieht sich der Begriff: auf die Zeit vor dem erstmaligen Auftreten einer neuen (‚fremden‘) Art? Und was, wenn dieser Zeitpunkt schon so lange zurückliegt, dass man die genaue Artenzusammensetzung, also besagte ‚biologische Vielfalt‘ gar nicht mehr exakt rekonstruieren kann? Und muss somit nicht unter ‚biologischer Vielfalt‘ die Gesamtheit aller Arten inclusive der später oder ‚neu‘ hinzu gekommenen verstanden werden? Das jedenfalls geböte die Logik der Sprache und ihrer Syntax (‚Vielfalt‘ impliziert das Ganze eines beobachteten Ensembles). Aber wir wollen nicht beckmesserisch sein. Wo die Richtlinie ohnedies von sich aus preisgibt, dass der Begriff ‚biologische Vielfalt‘ nur vorgeschoben ist.

Es geht um die Artenvielfalt? Nein. Um Homo sapiens. Die EU-Richtlinie macht klar, dass es, wie weiland in der Rede vom ‚Nützlichen‘ und ‚Schädlichen‘, einzig um jenen Nutzen geht, der dem Menschen erwächst. Bedroht durch invasive alien species seien vor allem die sogenannten ecosystem services, belehrt uns der Gesetzestext – ein Begriff, der gemäß den Erläuterungen am Ende des Texts „die direkten und indirekten Beiträge von Ökosystemen zum menschlichen Wohlbefinden (direct and indirect contributions of ecosystems to human wellbeing)“ bedeuten soll. Na also, warum nicht gleich? Warum so schüchtern … Als ob sich die industrialisierte Landwirtschaft (nur ein Beispiel, werte Damen und Herren Agrarier) jemals groß den Kopf zerbrochen hätte über (hier darf gelacht werden) … Biodiversity.

Mit dem Schlagwort human wellbeing (besonders in der eigenen freien Übersetzung als „We feed the world“) kann sie da schon mehr anfangen.

(Wird fortgesetzt)

_____

* Links zur EU-Gesetzgebung (Kampf gegen Neobiota und invasive Arten): Link 1; Link 2

_____

Postscriptum: Was kann Wissenschaft? Am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Veterinärwissenschaftlichen Universität Wien wird eine Professur für Movement Ecology eingerichtet. Erforscht werden sollen die wachsenden Grauzonen dicht besiedelter Landschaften, in denen sich Lebensansprüche von Wildtieren mit Nutzungsansprüchen des Menschen überschneiden. Man möchte zum Beispiel klären, was es mit den Wanderungen von Wölfen oder Bären auf sich hat; ob und warum Hirsche und Rehe in ihren Waldeinständen bleiben oder wenn nicht, wie sehr sie dabei auf Verbauung und Verkehr reagieren beziehungsweise in welchem Ausmaß sie von menschgemachten Veränderungen des Lebensraums beeinflusst werden.

Abgesehen davon, dass der Bereich 'menschgemachte Umwelt' mittlerweile „eh alles“ umfasst, was einem als Tier heutzutage begegnet: Was nützen die best erforschten Tatsachen und klügsten Vorschläge seitens der Wissenschaft, wenn sie von einer obstinaten Gesellschaft samt indolenter Politik ignoriert werden?

„Warum der Wolf wandert, ist mir doch sch...egal. Ich mag ihn da nicht haben, basta!“

Da kann sich die werte Wissenschaft – wie sagt man in Österreich so schön? „Brausen“.