Sinn und Unsinn der Fundamentalökologie. Umweltpolitische Retrospektiven, Teil 3

Gottfried Liedl am 3. August 2023

Schon vor Jahrzehnten hat der Biologe Josef H. Reichholf den Schwachpunkt des modernen Umweltschutzes und der ökologischen Denkungsart dechiffriert und überzeugend dargelegt, dass hierfür die Entstehungsgeschichte dieser Bewegung und der ihr zugrunde liegenden Theorie verantwortlich ist. Denn ja, diese Wissenschaft ist auch eine Ideologie.

Der Begriff Ökologie geht auf den Mediziner und Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) zurück. Als Volksbildner und vehementer Propagandist des Darwinismus hatte er das Wort in die Bildungssprache eingeführt, von wo es dann in die Umgangssprache gelangte. Doch Haeckel unterlief dabei ein Fehler. Mit der im Grunde romantischen Annahme eines stabilen ‚Naturhaushalts‘, für den der Begriff Ökologie bei ihm stand, verschleierte und verwässerte er das revolutionär Neue an Darwins Lehre: die Dynamik und Unabgeschlossenheit natürlicher Vorgänge. Dieses Haeckel’sche Missverständnis klebt bis heute am Wort, Begriff und Konzept der Ökologie als Umweltwissenschaft.

„Als Ernst Haeckel den Blick auf das Naturganze lenkte und erstmals vom ‚Naturhaushalt‘ sprach, konnte man sich darunter noch nicht viel vorstellen. Haushalt klang so ordentlich und geregelt […]. Lebewesen und Umwelt in vollendeter Harmonie – das […] findet auch heute noch viele Anhänger“ (Reichholf o.J. [1988], Seite 14).*

Während sich die ursprüngliche Forschungslandschaft entwickelte und veränderte, tat das die Ideologie nicht. Die Wissenschaft selbst vertritt heute ein pragmatisches, ergebnisoffenes Welt- und Naturbild. Parallel dazu entfaltet sich ein hybrider öffentlicher Diskurs, der sich zwar ständig auf die Ökologie als Wissenschaft beruft, ideologisch aber an einer Weltanschauung festhält, von der sich die Forschung selbst längst verabschiedet hat.

Was ist Fundamentalökologie? Versuch einer Annäherung. Nochmals der nüchterne Befund des Forschers, welcher feststellt, dass Eingriffe in den Naturhaushalt „keine neue Erfindung des Menschen [sind], sondern […] ein Urprinzip des Lebens“ bilden. Und dann ein Satz von großer Tragweite:  „Die Natur stellt die Bühne dar, auf der das Spiel des Lebens abläuft. Die Spieler werden beständig ausgetauscht und erneuert“ (Reichholf o.J. [1988], ebd).

Diese Feststellung ist ein Schlag ins Gesicht jedes besorgten Hüters des natürlichen Gleichgewichts; „beständig ausgetauschte und erneuerte Spieler“ auf der Bühne des Lebens sind nämlich genau nicht, was Fundamentalökologie von ihrer Umwelt erwartet.

Nicht immer waren Umweltbewegungen so fixiert auf das – um etwas Heiterkeit in die unheitere Angelegenheit zu bringen – ökologische Reinheitsgebot. Noch in den 1960-er, 1970-er Jahren, als sich die Konturen eines Natur-, Tier-, Landschafts- und Umweltschutzes schärften (Anti-Atomkraft-Bewegung; Neuinterpretation von ‚Fortschritt‘ – der Club of Rome; Auftauchen neuer Umweltschutzorganisationen wie zum Beispiel Greenpeace…), war man pragmatisch eingestellt. Im Fokus der Kritik stand auch damals schon das aus dem Ruder gelaufene Tun des Menschen; doch obwohl diese Kritik emotional unterfüttert scheinen mochte, war sie im Grunde rational: angepeilt wurde das Machbare, im Vordergrund standen reformistisch-praktische und auf technische Innovation vertrauende Konzepte. Das grosso modo erfolgreiche Projekt einer umweltverträglicheren Schwerindustrie (Stichwort ‚Saurer Regen‘, Waldsterben, Abgasreinigung) mag man auf die Habenseite stellen. Weniger glücklich entwickelten sich die, wie man sie nennen könnte, postmodernen Narrative rund um Tropenwald, Klimapolitik, Artenschutz.

Es war dies auch die Geburtsstunde der Tierethik: Traditioneller Tierschutz radikalisierte sich in Anti-Jagd-Bewegungen, Pelztier-Befreiungsaktionen, Kampagnen gegen Tierfabriken, Zirkusse, Zoos … Bewegungen, die sich rasch politisierten und ganze Wissenschaftszweige in die Pflicht nahmen. Die Vermutung, dass es hier eine Sollbruchstelle gibt, hat einiges für sich. Einerseits begann sich die Umweltbewegung ethisch-moralisch aufzuladen. Andererseits stand sie unter dem Eindruck übermächtig scheinender Blöcke ‚alter Mächte‘ – einer den Klimawandel leugnenden Rohstoffindustrie samt passender Energiewirtschaft, einer expansiven, globalisierten, Investment-getriebenen, biotechnisch geboosteten und freihandelspolitisch abgesicherten Agroindustrie – Teile der Umweltbewegung regredierten und verfielen in eine romantische Schockstarre. Ein wesentlicher Impetus – der aufklärerisch-rationale nämlich – kam ihnen dabei abhanden. Ersetzt wurde er durch das alte romantische Bild einer Heimkehr, eines Glücks, das in der Vergangenheit liegt; einer heilen Welt, einer ursprünglichen Natur, die es wieder herzustellen galt.

Romantic Dreamworld. Im Fokus dieser Regression steht nicht mehr der Mensch; auch nicht der Mensch-in-der-Natur; oder eine Mensch-Natur-Interaktion. Das wäre noch viel zu viel Aufklärung, Optimismus, Fortschrittsglaube. Die pessimistisch-nihilistische Romantik des 19. Jahrhunderts – The Dark Side of the Romantic Dreamworld (Shortt 2018, Seite 5 ff.)* – hat sich erfolgreich in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gerettet. Neu daran ist freilich, dass sich ihr unduldsamer „Ökokritizismus“ (Shortt) einen Anschein von Darwinismus gibt. Nur dumm, dass sie dabei die Evolution mit dem Ordnungsprinzip einer ‚Natur im Gleichgewicht‘ verwechselt.

Statt böser Mensch: böse invasive Arten. Gesetzt den Fall, die (Wieder)Herstellung eines solchen ‚Gleichgewichts‘ wird trotzdem versucht – welches Kriterium könnte einen gravierenden Eingriff, wie es die Bekämpfung, vielleicht sogar Ausrottung einer ‚ortsfremden‘ Spezies oder die Änderung einer ganzen Artengemeinschaft ist, rechtfertigen? Über die Sinnhaftigkeit dieses Eingriffs in ein gegebenes Ökosystem kann wohl nur dessen biologische Bilanz Auskunft geben: Ist der natürliche Reichtum (aber kann man das Phänomen einer ausgeglichenen Bilanz überhaupt so nennen?) am Ende größer oder kleiner? Nicht immer, aber doch sehr oft lässt sich biologischer Reichtum an der Artenvielfalt messen; zumindest spiegelt diese auf quantifizierbare Weise auch das andere wichtige Kriterium wider, die Standorteignung einer bestimmten Floren- und Faunengemeinschaft … also wie gut diese an die Voraussetzungen ihrer Umgebung angepasst ist. Hat sich die Stabilität des Ganzen durch den Eingriff verändert? Zum Besseren? Zum Schlechteren? Allein auf Basis des Gegensatzes einheimisch – fremd (autochthon – invasiv)  kann biologischer Reichtum jedenfalls nicht quantifiziert werden. Als biologisch-ökologisches Erklärungsmodell ist dieser Antagonismus offensichtlich nicht viel wert.

Im Lichte der Evolution … Des Menschen größtes Vergehen gegen das Leben ist die Ausrottung anderer Lebensformen. Das Verdikt passt auch auf die Puristen des Naturschutzes, die sich vor allem dafür interessieren, „wie Natur sein sollte“. Diese können niemals mit Sicherheit angeben, welchen Teil genau sie den „Genom-Netzwerken“ (Wagner 2015, Seite 248 ff.)* entnommen haben werden, wenn sie vermeintlich Unpassendes – beispielsweise sogenannte Neozoen, die sie dann Noxious Wildlife, ‚Schädlinge‘ nennen – aus der Natur entfernen.

Könnte Mutter Natur sprechen (und fände sie es nicht langweilig, sich in akademischer Diktion auszudrücken), würde sie möglicher Weise so argumentieren: „Auf das gesamte Netzwerk bezogen sind es vielleicht gerade die als störend empfundenen Varianten und Kombinationen, die in einer Krise, die man nicht vorausgesehen hatte, für die Stabilisierung ökologischer Zusammenhänge gesorgt haben würden.“ Das klingt plausibel.

Krisen und Resilienz. Beweise für die Richtigkeit obiger Feststellung liefert die Geschichte unserer Wälder. Ein bewaldetes Europa gibt es erst seit dem Ende der letzten Eiszeit (wobei fraglich ist, ob wir uns nicht bloß in einer Zwischeneiszeit, einem warmzeitlichen Intervall befinden). In den letzten 10.000 Jahren, also seit dem Abschmelzen der großen Eispanzer, ging die Wiederbewaldung des Kontinents ihren durchaus inhomogenen und von zahlreichen Krisen geprägten Weg. Dabei ließ sie ein wellenförmiges Muster aus Verdichtung und Ausdünnung erkennen; der den Kontinent bedeckende Pflanzenteppich entstand nicht in einer einzigen, geradlinigen ‚Aufwärtsbewegung‘ sondern schubweise, mit bisweilen ziemlich paradoxen Wendungen und Verwerfungen.

Eine Geschichte wechselhafter Konjunkturen also … Das Sprunghafte und Unvorhersehbare einer Flora und Fauna im Umbruch (noch dazu als Folge einer gigantischen Klimaänderung; und wenn man hier von ‚Wiederbewaldung‘ spricht, ist das nur eine grobe, allzu grobe Vereinfachung) – diese konjunkturelle Unvorhersehbarkeit in der ökologischen Neugestaltung eines ganzen Kontinents … darf mit seiner, erdgeschichtlich gesehen, äußerst kurzen Dauer von lediglich 10.000 Jahren als Evolution im Zeitraffer verstanden werden. Für Neuromantiker mit Faible für ‚stabile Naturhaushalte‘ – für die Fundamentalökologie – mag die Vorstellung einer Natur, die sich so gar nicht entscheiden kann, wohin die Reise geht, und die vor allem nicht zu wissen scheint, wann sie am Ziel ist, ein Ärgernis sein. Im Narrativ der Ökologiegeschichte ist sie aber höchst real, denn sie bildet dessen gut dokumentierten Inhalt.

Verlorener Reichtum. Die folgende Feststellung könnte nachdenklich stimmen. „Vor den Eiszeiten herrschte fast überall auf der Nordhalbkugel ein wärmeres Klima als heute. Die Wälder Nordeuropas und Nordamerikas bargen eine nahezu tropische Fülle von Baumarten. Neben den Bäumen, die heute noch in diesen Wäldern wachsen, gediehen Walnuss, Hickory, Bergahorn, mehrere Palmenarten, Zeder und Ginkgo. […] Diese Bäume hatten [in Europa] keine Chance, in den Warmzeiten mit Gletscherrückgang, die im Pleistozän häufig mit Kaltzeiten abwechselten, [nach ihrem Eiszeit-bedingten Verschwinden] an den Ursprungsort zurückzuwandern. Nördlich der Berge wurden sie ausgelöscht“ (Johnson 1983, Seite 304).*

Im Gegensatz zu Nordamerika, wo alle großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen und den Rückzugsweg nach Süden nicht verstellen, haben sich in Europa mit seinen ost-westlich verlaufenden Bergketten beim Vorrücken des Eises für die Pflanzen auf ihrer ‚Flucht‘ nach Süden unüberwindliche Hindernisse aufgetürmt. Von sich aus wäre Europas Waldlandschaft arm (und ist es ja auch heute noch, jedenfalls im Vergleich mit dem Fernen Osten oder Nordamerika) – ein kläglicher Rest einstiger Fülle und Pracht.

Der Mensch greift ein. Weil Europas Geographie mit ihren hohen Querriegeln, den Pyrenäen, Alpen, Karpaten und dem Balkangebirge die Wiederkehr der verschwundenen floralen Üppigkeit verhinderte; weil also Europas Geographie ‚von sich aus‘ so florenfeindlich ist, musste der Mensch kommen, um der Natur aufzuhelfen und dem Wald seine Artenvielfalt zurückzugeben. Sagt der Mythos, wie ihn eine zukünftige Menschheit erzählen könnte. Aber war es denn tatsächlich so?

Die ursprünglich monotone nacheiszeitliche Bewaldung wurde vom Menschen stark verändert, nämlich aufgelockert und mit neuen Baumarten abwechslungsreicher gemacht. Manchmal mit voller Absicht, wenn etwa Obstbäume gepflanzt wurden, meist aber als unbeabsichtigte Nebenwirkung der sukzessiven Rodungszyklen. Als das Klima nördlich der Alpen rasch wärmer wurde – in der, wie man sie nennen kann, Römischen Warmzeit ab der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends –, hatte auch eine südliche Flora (Weizen, Wein, Walnuss, Esskastanie und viele andere…) ihre Chance. Im Schlepptau römischer Kolonisten eroberte sie die ökologischen Nischen in einer agrarisch schon stark überformten Waldlandschaft. Diesen Trend wird das klimamilde Hochmittelalter noch verstärken, indem es die Wälder weiter lichtet und – im wahrsten Sinn des Wortes – aufmischt.

Aufklärung, Forstwirtschaft und die Erfindung der Nachhaltigkeit. Forstwirtschaft ist von Anfang an einem rationalen Kalkül verpflichtet. In vielen Waldgebieten Mitteleuropas, besonders solchen mit einer ausgeprägten Bergbautradition, wurde die Begrenztheit der Kapazitäten schon im späten Mittelalter erkannt. Von da zum Nachhaltigkeitsbegriff ist es im Zusammenhang mit den Waldungen der Bergwerke und Salinen nur ein kleiner Schritt.

„Gott hat die Wäldt für den Salzquell erschaffen, auf dass sie ewig wie er continuieren mögen. Also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist“ (aus einer Forstordnung von 1661).

Als Fachbegriff taucht Nachhaltigkeit erstmals beim Begründer der deutschen Forstwissenschaft, dem Oberberghauptmann in Kursachsen, Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), in seiner Sylvicultura Oeconomica auf. Sein Leitspruch war, „dass es eine continuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung“ geben möge.

Georg Ludwig Hartig, ein anderer Doyen der deutschen Forstwissenschaft, definiert in seiner Anweisung zur Holzzucht für Förster Nachhaltigkeit so:

„Unter allen Bemühungen des Forstwirts ist wohl keine wichtiger und verdienstlicher, als die Nachzucht des Holzes, oder die Erziehung junger Wälder, weil dadurch die jährliche Holzabgabe wieder ersetzt, und dem Wald eine ewige Dauer verschafft werden muss“.

Genau diesen Ton hatte schon die Encyclopédie française angeschlagen, als sie den Ausdruck „forêt“ als ein Ensemble fachgerecht angepflanzter, für die nachhaltige Nutzung vorgesehener und durch staatliche Behörden streng geschützter Bäume definierte (Encyclopédie 1966, Band 7, Seite 129).*

Die offenen Wälder der Neuzeit. Die Neuzeit bringt also System und Rationalität in die Wälder. Aufklärer und Physiokraten verbinden ungeniert das Schöne mit dem Nützlichen, das Exotische mit dem Einheimischen. So wird zum Beispiel unter der Prämisse, dass er sich für die Seidenraupenzucht in klimatisch weniger begünstigten Gebieten prächtig eigne, der chinesische Götterbaum, Ailanthus altissima, und unter dem Aspekt ihrer Schönheit die mediterrane Blumen- oder Manna-Esche, Fraxinus ornus, in den Donauauen östlich von Wien ausgepflanzt, wo sich diese Bäume, mittlerweile verwildert, zu einem festen (wenn auch nicht allseits geliebten) Bestandteil der ostalpin-pannonischen Flora gemausert haben. Die ebenfalls aus Nützlichkeitserwägungen (Holz und Blütenhonig) seit dem 18. und vermehrt im 19. Jahrhundert in Europa angesiedelte Falsche Akazie, die nordamerikanische Robinie, Robinia pseudoacacia, bildet nur den besonders eindrucksvollen, weil sehr erfolgreichen vorläufigen Endpunkt einer langen Reihe botanischer Zuwächse in der Geschichte des europäischen Waldes.

In den Versuchspflanzungen forstlich versierter Neuerer wie Friedrich August Ludwig von Burgsdorf (1747–1803) oder Friedrich Adam Julius von Wangenheim (1749–1800) fanden sich zeitweise fast 700 Arten, vor allem aus Nordamerika. Während Botaniker wie Johann Gottlieb Gleditsch (1714–1786) Neueinführungen grundsätzlich skeptisch betrachteten, haben sich die Pflanzen selbst vom Verdikt des besorgten Fachmannes nicht beeindrucken lassen. Die Douglasie etwa, 1827 erstmals nach Europa eingeführt, hat mit ihren hervorragenden Holzeigenschaften derart gepunktet, dass sie heute aus der Forstwirtschaft nicht mehr wegzudenken ist. Japanische Lärche, Helmlocktanne und viele andere mehr legten und legen ähnliche Erfolgskarrieren hin (Küster 1995, Seite 314).*

Der Wald produziert Ressourcen. Der Wald ist aber auch ‚Natur‘. Nur dass die naturgesetzlichen Bedingungen jetzt dem Gesetz der Bodenrente unterworfen sind; sie erscheinen von diesem ökonomischen Gesetz geradezu abgeleitet beziehungsweise ableitbar. Damit stehen Aussehen und Gestalt eines solcherart definierten ‚Forstes‘ nicht mehr von vornherein fest; das gottgegebene Apriori eines Zusammenspiels mineralischer, botanischer und faunistischer Elemente, die gemeinsam mit den Menschen ein Ganzes ergeben, ist hinfällig. Diese Dynamik (und man bedenke, wann diese Dynamisierung des Naturbegriffs enstand – ein gutes Jahrhundert vor Darwin) erlaubt dem forstlich Versierten nicht so sehr alles, was gefällt (das war das Prärogativ der Könige, die ihre Forsten für sich selbst reklamierten); dem modernen Waldverwalter ist vor allem das erlaubt (erlaubt? Geboten!), was Nutzen bringt. Wälder werden zum Experimentierfeld einer globalisierten und globalisierenden Nutzanwendungsphilosophie und Wissenschaft; wie der Mensch, ihr Herr und Meister, verwandeln sich auch die Bäume in ökologische Kosmopoliten (BLOG # 18).

Ökologiegeschichte und Evolution – vom Wert der Krisen.  Hochwald ist ein ökologischer Endzustand, eine Klimax. Mitteleuropas Urwälder, wenn es sie denn gäbe, wären ziemlich einförmig: dichte Bestände, gebildet aus wenigen Baumarten.

Dass Europas Wälder heute wieder relativ artenreich sind, verdanken sie der Klimaschaukel und der von ihr profitierenden, an ihr leidenden Menschheit. Also nicht dem ökologischen Optimum sondern der ökologischen Krise. In den für den mitteleuropäischen Wald ungünstigen Klimaphasen sind jene ‚Leerstellen‘, jene Löcher und Nischen in die nacheiszeitliche Waldlandschaft geschnitten und gerissen worden, in welchen sich dann, wenn die Klimaschaukel wieder bessere Zeiten brachte, neue Pflanzen- und Baumarten – klarer Weise fast immer südlichen oder südöstlichen Ursprungs – einnisten konnten. Der Wald als solcher wurde dadurch nicht ärmer.

In aufsteigender Reihe erinnern in den Wäldern Mitteleuropas Buche und Tanne an die Wald- und Holzkrisen des Neolithikums, der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit; Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche erinnern an die Rodungen der Römerzeit;  Rosskastanie, Flieder, Manna-Esche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel sind das Ergebnis forstwirtschaftlicher Bemühungen seit der frühen Neuzeit – mit anderen Worten, eine Antwort auf die massiven Waldzerstörungen des Mittelalters.

Die florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit ist bis heute nicht abgeschlossen. Denn noch ist die ehemalige Artenvielfalt nicht wiederhergestellt. So besehen erfüllen florale ‚Neuankömmlinge‘ der historischen Zeit und der Mensch, der sie heran schafft, nur einen prähistorischen Auftrag.

Wenn man von Krisen spricht, ob Agrarkrise der Vergangenheit oder  Globalisierungskrise der Gegenwart, vergisst man gerne, dass Verarmung und Mangel eine Kehrseite haben – die Chance auf Neubeginn und größere Fülle. Zum Stellenwert von Natur aus zweiter Hand wäre also zu bemerken, dass es um Steigerung geht, um ein Plus. Dass der Mensch durch eigenmächtiges Aussortieren und Entfernen von ‚Nichtzugehörigem' Natur verbessern, gar retten könne, ist im ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen. Und dieses gibt es immerhin schon seit 10.000 Jahren.

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* Literatur:

Encyclopédie 1966 = Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Publ. par D. Diderot et Jean le Rond d’Alembert. Reprint: Stuttgart – Bad Cannstadt 1966

Johnson 1983 = Hugh Johnson (Hg.): Das große Buch der Wälder und Bäume. Stuttgart – Zürich – Wien 1983

Küster 1995 = Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. München 1995

Küster 2003 = Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003

Reichholf o.J. [1988] = Josef H. Reichholf: Leben und Überleben. Ökologische Zusammenhänge. Herausgegeben von Gunter Steinbach. Illustriert von Fritz Wendler. Mosaik Verlag: München o.J. [1988]

Reichholf 2012 = Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt am Main 2012

Reichholf 2016 = Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur. München 2016

Shortt 2018 = Aoife Shortt: „What can a poem prove?“ The Romanticism, the Enlightenment and the Natural World. Proseminararbeit Sommersemester 2018 / Universität Wien: Wien 2018 [Unveröff. Typoscript]

Wagner 2015 = Andreas Wagner: Arrival of the Fittest. Wie das Neue in die Welt kommt. Über das größte Rätsel der Evolution. Frankfurt am Main 2015 (New York 2014)