Neue Fülle in Europas Wäldern – Botanische Weltenbummler, Teil 2

Gottfried Liedl am 8. Januar 2023

Siehe auch BLOG # 17 vom 5. Januar 2023: Botanische Weltenbummler: Pflanzen & Weltsysteme

In der letzten Einheit vor den Weihnachtsferien stellten mir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Proseminars eine jener Fragen, die man gemeinhin als ‚Gretchenfrage‘ bezeichnet – in diesem Fall war es die Frage nach dem ‚Weltsystem‘ (verstanden als wissenschaftlicher Begriff und als historische Realität). Im vorigen Beitrag (siehe oben) habe ich mich dieser Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen angenommen; das komplexe Thema konnte ich freilich nur holzschnittartig grob skizzieren. So seien an dieser Stelle ein paar zusätzliche Überlegungen angefügt, und was zuletzt vielleicht ein wenig zu kurz kam – die ÖKOLOGISCHEN IMPLIKATIONEN von Weltsystem und Globalisierung – , soll jetzt im Focus stehen.

Europas Wälder sind noch nicht fertig. Europa als Kontinent war nach den Eiszeiten ökologisch 'leergeräumt'. Im Gegensatz zu Nordamerika, wo die großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen, bildeten die grosso modo ost-westlich ausgerichteten Gebirgszüge des Alten Kontinents (Karpaten, Balkangebirge, Alpen, Pyrenäen ...) für Pflanzen, die dem nach Süden vorrückenden Eis ausweichen wollten, unüberwindliche Sperrriegel – sie starben aus. Umgekehrt war die Besiedlung von Süden her aus demselben Grund ebenfalls stark erschwert, sodass am Ende der Eiszeit die Wiederbewaldung Mittel- und Westeuropas nur mit einigen wenigen Arten erfolgte. Fazit: Bis heute weisen mittel- und westeuropäische Wälder signifikant weniger Arten auf als vergleichbare Wälder Nordamerikas.

Da kommt die Globalisierung, kommen die beiden Weltsysteme ins Spiel. In diesen Systemen – dem vormodernen des 13. Jahrhunderts und dem modernen ab dem 16. Jahrhundert, das auch heute noch seine Wirksamkeit entfaltet (und zwar mehr denn je) – bewirkte die erhöhte Kommunikation zwischen den Erdteilen, dass sich in einem Aufholprozess ohnegleichen jetzt auch Europas Pflanzenwelt langsam aber stetig der Artenfülle nähert, wie sie vor den Eiszeiten geherrscht hatte (und in Fernost oder Amerika nie verschwunden war).

Eine Pflanzengemeinschaft holt auf. Vor den letzten großen Eiszeiten wuchsen in Europas Wäldern außer den heute vorkommenden Spezies – um hier vom ehemaligen Artenreichtum nur eine kleine Andeutung zu geben – Ginkgo (Ginkgo biloba), Blauglockenbaum (Paulownia tomentosa), Trompetenbaum (Catalpa) und Götterbaum (Ailanthus altissima); sowie verschiedene Palmenarten. Dieser Zustand stellt sich seit dem 13. Jahrhundert und vermehrt seit dem 16. Jahrhundert mit Hilfe des Menschen und dessen globaler Tätigkeit, Kommunikation und Reiselust langsam wieder her.

Die agrarwirtschaftliche Seite der botanischen Globalisierung im modernen Weltsystem © G. Liedl

Nochmals der Wald. In aufsteigender Reihe erinnern Buche und Tanne (sie kamen im Neolithikum, während der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit nach Mittel- und Westeuropa), Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche (Römerzeit bis Hochmittelalter), Rosskastanie, Flieder, Mannaesche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel (Zuwanderer der Neuzeit) an die prinzipiell noch immer nicht abgeschlossene florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit. Sie erinnern uns daran, dass die ehemalige Artenvielfalt noch nicht wiederhergestellt ist und die Neuankömmlinge gewissermaßen nur einen prähistorischen Auftrag erfüllen.*

Nachsatz für Botaniker, Ökologen oder Naturschützer, die sich wegen der ‚Neuen‘ um die Artenvielfalt unter den ‚Alten‘ Sorgen machen: Keine einzige ursprüngliche Art ist bisher wegen einer später hinzu gekommenen verschwunden.

Die noch nicht gefüllte Nische. Wenn sich aus der Waldgeschichte Mittel- und Westeuropas nach rund 10.000 Jahren Wiederbesiedlung eine Schlussfolgerung ziehen lässt, dann vielleicht die folgende. Man nehme den Fall, dass es einer ehemals „ortsfremden“ Art gelungen ist, nachhaltig stabile Populationen auszubilden, ohne die vorgefundene Artenzahl zu vermindern. Dies könnte ein sicheres Indiz dafür sein, dass die Nische, in welcher solch neues Leben fußgefasst hat, vorher unterbesetzt war. Anders gesagt – in einer solchen schwach besetzten Nische wird mit großer Wahrscheinlichkeit niemandem essentiell etwas weggenommen, jedenfalls solange nicht, bis das Areal tatsächlich optimal (also vollständig) ausgenützt ist. Neobiota, die sich erfolgreich etablieren konnten, haben den Raum, in dem sie vorkommen, nicht gewaltsam frei gemacht (wie das fundamentalökologische Vorurteil lautet), sondern sind Anzeichen dafür, „dass dort noch Platz war“. Die Regel, nach welcher die später Kommenden offenbar handeln, geht so: Der, welcher in ein bereits bewohntes Haus neu einzieht, benötigt weniger Platz als jener, der das Haus ursprünglich für sich geplant und gebaut hatte. Not macht erfinderisch, Konkurrenz belebt das Geschäft.

Übrigens … Der Klimawandel unterstützt diesen ökologischen Bereicherungsprozess zusätzlich. Auch das muss einmal gesagt sein...

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* Literatur: Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003; Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa – von der Eiszeit bis zur Gegenwart. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2010