Wilde Wälder - winzig: Tiny Forests & Co.

Gottfried Liedl am 7. Juni 2023

Nein, um Landwirtschaft im eigentlichen Sinn geht es nicht bei dieser Form der Bodenbearbeitung; auch nicht um Forstwirtschaft. Denn geerntet wird nichts – der Nutzen liegt woanders … Obwohl – mit Urban Agriculture hat die Sache insofern zu tun, als sie durchaus das Ergebnis urbaner Innovationsbereitschaft ist: Tiny Forests, ‚winzige Wälder‘ als vorerst letzter Schrei urbaner Naturvorstellung? Genau deshalb sind diese schicken Mini-Urwälder auch keine Pocket Parks* – so sehr sie ihnen, oberflächlich betrachtet, gleichen mögen. Was sind sie also?

Versuch einer Definition. „Ein Tiny Forest (deutsch: Kleinwald, Mikrowald) ist ein angepflanzter Wald auf einer relativ kleinen Fläche mit einer großen Dichte. Ziel solcher Neuanpflanzungen ist, in urbanen Räumen auf kleinen Flächen möglichst vielfältige, schnell wachsende und sich selbst erhaltende Habitate anzulegen und dadurch eine Verbesserung der Umweltsituation zu erreichen.“** Ein Unterscheidungsmerkmal zum Park, Stadtpark – meinetwegen auch in dessen Diminutivform, dem Pocket Park (auf Wienerisch ‚Beserlpark‘) – wäre also die Fähigkeit des ‚winzigen Waldes‘, sich selbst zu erhalten. „No human interference? Und das mitten in der Stadt?“ Beziehungsweise: „Ob das nur in der Theorie so ist oder auch in der Praxis?“ Beide Fragen scheinen berechtigt, müssen aber erst einmal offen bleiben. Wir nähern uns ihnen über den Umweg einer anderen Frage …

Was ist urban? Keine Sorge, eine lange definitorische Abhandlung ist hier nicht vorgesehen. Nur eine auf das Kernthema – Natur in der Stadt – bezogene Überlegung. Natur in der Stadt ist durch Artenreichtum und Diversifikation gekennzeichnet; der Evolution sozusagen bei der Arbeit über die Schulter blickend, beobachtet man, wie sich – ein wenig abstrakt gesprochen – die Tabula rasa füllt. Ein anfangs leerer Raum (aber was heißt hier ‚anfangs‘?) sieht sich unzähligen Besiedelungseffekten ausgesetzt, nach der Devise first come, first serve. Alles funktioniert hier wie im richtigen Leben (gemeint ist damit die Stadtgeschichte): Stadtbürger ist man nicht, man wird es … in einem endlosen Prozess der Anpassung und Evolution.***

Wiederholen wir die Frage: Was ist urban an dieser Natur? Erstens, dass sie den Faktor Mensch voraussetzt – flapsig gesprochen den Eingriff um des Eingriffs willen. Und zweitens, dass es da ein Laissez faire gibt, welches den Faktor Mensch wieder relativiert. Dieser ‚interlocking approach‘ von Mensch und Natur ist das schlechthin Urbane am Leben in der Stadt.

Es waren Forschungen des japanischen Ökologen Akira Miyawaki, die in den 70er-Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts dem Wald eine Bedeutungsänderung bescherten, die ihn ins Zentrum urbaner Fragestellungen rückte. ‚Begrünung von Großstädten‘ heißt unter forstwirtschaftlichen Aspekten: Begrünung auf verdichteten Böden.

Verdichtete Böden als Limit und Chance. Wie in der fernöstlichen Kampfkunst wird die Bewegungsenergie nicht von außen ins System eingeführt sondern an Ort und Stelle im Sinne des Projekts abgerufen. Dahinter steht die Vorstellung, dass das natürliche System – und nicht der Mensch – die ganze Arbeit macht. Nicht der Mensch begrünt den verdichteten Boden, nein – dieser Boden, ungeachtet seiner Eigenschaft, ‚verdichtet‘ zu sein (eine Eigenschaft, die ihm der Mensch verpasste), begrünt sich von selbst. Dem Stadtmenschen ist der Laissez faire-Aspekt pflanzlichen Lebens, das sich zwischen Mauerritzen und Asphalt ans Licht zwängt, durchaus nicht unvertraut.

Die Idee des japanischen Forschers wurde vom indischen Öko-Unternehmer Shubhendu Sharma aufgegriffen. Unter der Marke ‚Tiny Forest (Afforest)‘ lässt er seitdem kleine verdichtete Stadtwälder auf degradierten  Böden entstehen.

Die Methode. Überschaubare Flächen (Shubhendu Sharma verwendet gerne Park- und Tennisplätze) werden zunächst dicht bepflanzt, zwei bis sieben Bäume je Quadratmeter sind die Regel. Hohe Pflanzdichte steigert den Konkurrenzdruck, dieser wiederum vermehrt die innerhalb des beschränkten Ökosystems freigesetzte Energie – was nicht zuletzt zu vermehrtem Wachstum führt. Ein Ergebnis, auf das ‚natürliche‘ Waldgesellschaften zwei Jahrhunderte warten müssen, stellt sich im urbanen Rahmen schon nach dreißig Jahren ein (unter anderem wird die Phase der Sträucher, Gräser und Pionierbäume übersprungen). Zusätzlich wirkt sich Yoda’s Law aus, jene Regel, die besagt, dass in Mischbeständen mit vielen verschiedenen Baumarten höhere Bestandsdichten erreichbar sind als in Reinkulturen.****

Ökologiehistorisch betrachtet ist die Tiny-Forest-Methode auch ein Indiz für das Ausgreifen der Stadt und ihrer Ideen auf das flache Land und dessen Bewirtschaftung. Tiny Forests sollen, wie man hört, eine der effizientesten Aufforstungsmethoden sein.

Ausgehend vom Sukzessionsprinzip im Stadterweiterungsprozess (Flächennutzungen wechseln einander in gesetzmäßiger Art und Weise ab) sieht Shubendu Sharmas ‚Spiralmodell‘ eine abgestufte Begrünung auf Kleinparzellen vor. Der eigentliche Aufforstungsprozess (mit dem Ziel eines vollkommen ungestörten, sich selbst überlassenen Wachstums nach Art der Primär- oder Urwälder) nimmt die ersten 25 – 30 Jahre in Anspruch (zu Parzellen, die sich gerade in dieser Phase befinden, hat der Mensch keinen Zutritt); danach erfolgt die 25 – 30-jährige Nutzungsphase, in der die Menschen den Lohn für ihre ursprüngliche Enthaltsamkeit einstreifen: aus dem Tiny Forest der Spätphase wird langsam ein mehr oder weniger stark frequentierter Pocket Park. Die letzte Phase von ebenfalls 25 – 30 Jahren dient dem Neuaufbau einer Grünfläche nach Urwaldart, besser gesagt der Rückverwandlung des ‚verbrauchten‘ Geländes in den nächsten Tiny Forest.*****

Forstwirschaftliches Intermezzo – ein Fallbeispiel aus Brasilien. Die Deutsch-Brasilianer Miriam Prochnow und Wigold Schaffer betreiben seit den 70-er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, „eine Art gemeinnützige Baumschule,“ wie sie es nennen, „eine Urwaldfabrik“ (Tiny Forest: Urwald für die Stadt, 4:36 ff.)******

Sie tun das ganz bewusst als Nachkommen deutscher Einwanderer, die mit der gnadenlos konsequenten  Abholzung des Atlantischen Regenwaldes und dem Verkauf der uralten Baumriesen seinerzeit ein Vermögen gemacht hatten – vor allem mit dem Holz der mächtigen Araukarien, die für den Südosten Brasiliens so typisch waren und heute vom Aussterben bedroht sind. Nun also bepflanzen die Enkel oder Urenkel besagter Waldvernichter – zumindest jene, die dem Beispiel von Miriam und Wigold folgen – mit der Tiny-Forest-Methode die Ränder ausgetrockneter Flussläufe; und zur Wiederherstellung ihrer degradierten tropischen Waldgebiete bedienen sich diese postmodernen Nachfahren deutscher Kolonialherren aller möglichen Samen, Setzlinge und Pflanzerden aus der Baumschule der beiden Umweltpioniere. À propos …

Terra Preta – Amazoniens Wundererde. „Die rote Erde im Amazonas-Regenwald ist arm an Nährstoffen, karg und unfruchtbar.“ Mit Kurzformeln wie dieser pflegt man zu erklären, warum das Land vor Ankunft der Europäer nur dünn besiedelt gewesen sei. Richtig daran ist freilich nur die Farbe der früher ‚Laterit‘ genannten Urwalderde: die heute von den Geologen lieber als ‚Plinthosole‘ oder ‚Oxisole‘ bezeichneten Verwitterungsprodukte sind in der Tat ziemlich unfruchtbar. Doch seit Archäologinnen und Archäologen überall im Amazonasgebiet auf mächtige Böden mit fetter Schwarzerde gestoßen sind – der Name Terra preta bezieht sich auf die Pflanzenkohle, die ein bedeutender Bestandteil dieses Verwitterungsprodukts ist –, mag man an die menschenleere Urwaldlandschaft nicht mehr so recht glauben.

Wie diese Schwarzerden zustande kamen, ist relativ einfach zu erklären. Sie sind das Ergebnis eines Jahrhunderte alten Wanderfeldbaus (shifting cultivation). Das wiederum heißt: die fraglichen Gebiete waren durchgehend besiedelt. Dicht – aber nicht zu dicht – bewohnt und kultiviert von Menschen, die tief im tropischen Regenwald eine ausgeklügelt umweltbewusste Landwirtschaft betrieben. Eine in Zeit und Raum rotierende Agrikultur. In der es zwei Arten von Landschaft nebeneinander gibt, die einander in der Zeit ablösen – eine bebaute, eine unbebaute. Während sich der eine Teil in langsamer Sukzession wieder bewaldet, wird der andere neuerlich gerodet; dort treibt der Mensch auf einem mit der Zeit immer mächtiger werdenden Mutterboden (Terra preta oder ‚Indianererde‘) Gartenbau und Landwirtschaft.   

Shifting Cultivation (schematische Darstellung) © G.Liedl

Lob der Faulheit? „Viele Jahrtausende lang waren die Menschen Naturnutzer der sanften, weil spielerischen Art.“ Das wollen wir mal so stehen lassen. Zumal hier der historisch-ökologiehistorische Befund nicht zu widersprechen scheint.

Wanderfeldbau in der Antike © G.Liedl

Jahrtausende lang, bis weit in die klassische Zeit der Antike, ja noch am Beginn des Mittelalters war ein großer Teil der Weltbevölkerung mit der Wirtschaftsweise des Wanderfeldbaus offenbar so zufrieden, dass er sich buchstäblich kein anderes, besseres Leben vorstellen konnte. And rightly so, ist man geneigt zu sagen. Statt gegen die Kräfte der Natur zu arbeiten, lebt man mit ihnen, was in der Regel entschieden angenehmer ist … für beide Seiten.

Naturferne Effizienz oder geniale Trägheit – hat man die Wahl? Erste Feststellung: Das Umwelt-affine Laissez-faire lässt sich auf mannigfaltige, poetische Weise loben (und im Gegenzug als Trägheit denunzieren) – oder nüchtern-sachlich  auf den Punkt bringen. „Seit ihren frühesten Anfängen war die Landwirtschaft […] weit mehr als nur eine neue Ökonomie … [Sie war] ein Lebensstil“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 270).****

Dieser Lebensstil machte es möglich, dass „wir Menschen uns den größten Teil unserer Geschichte fließend zwischen verschiedenen Sozialordnungen hin- und herbewegt haben, [… sodass wir uns heute fragen müssen:] Wie sind wir stecken geblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet?“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 135)

Zweite Feststellung: Im kanonischen Bild einer ‚Höherentwicklung‘ ist die moderne Agroindustrie natürlich immer ‚besser, effizienter, wertvoller‘ als das, was vor ihr war und bloß einen obsoleten Lebensstil repräsentiert … Wie aber wäre es, an Stelle des linearen Geschichts-Determinismus einer vieldeutigeren und auf mehreren Ebenen angesiedelten Evolution das Wort zu erteilen und uns zu fragen: „Wenn wir anfangs nur gespielt haben, wann haben wir vergessen, dass wir spielten?“ (Ebd.)

Ein nüchtern argumentierender Beobachter hat das Dilemma moderner Naturferne am Leitfaden der „kulturellen Errungenschaft“ Terra preta dargestellt. „Über Tausende Jahre der Beobachtung […] haben wir Menschen uns ein systemisches Verständnis erarbeitet – das […] im Zuge der Industrialisierung binnen zweier Jahrhunderte nahezu ganz verdrängt und vergessen wurde“ (Jörn Müller, info@permaculturblog.de).**** Dem Befund ist nichts hinzuzufügen und dem Dilemma nur wenig entgegenzusetzen.

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* Pocket Park; vgl. BLOG # 9, Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 4

** Tiny Forest; Stadtökologie; Klimaresilienz; Tiny Forest in Österreich

*** Stichworte: Wärmeinsel-Effekt; Miyawaki-Methode; Partizipation durch Citizen Science; Sozialfunktionen; Ökosystem Boden – Ökosystem Wald; Pilotprojekte – Pflanzaktionen; Wald der Vielfalt – Stadt der Zukunft

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**** Permakultur Blog

Aus der Fülle einschlägiger Literatur seien genannt (in alphabetischer Reihenfolge):

Norbert Bartsch / Ernst Röhrig: Waldökologie. Einführung für Mitteleuropa. Springer Verlag: Berlin – Heidelberg 2016;

David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta: Stuttgart 22022 (London – New York 2021);

 S. Kaplan: The restorative benefits of nature: Toward an integrative framework. Journal of Environmental Psychology 15, 1995, Seite 169–182;

H. Pretzsch: Von der Standflächeneffizienz der Bäume zur Dichte-Zuwachs-Beziehung des Bestandes. Beitrag zur Integration von Baum- und Bestandesebene. In: AFZ Allgemeine Forst- und Jagdzeitung. Bd. 177, Nr. 10/11, 2006, Seite 188–198;

H. Pretzsch / G. Schütze: Tree species mixing can increase stand productivity, density and growth efficiency and attenuate the trade-off between density and growth throughout the whole rotation. In: Annals of Botany, Bd. 128, Nr. 6, 2021, Seite 767–786;

Ute Scheub / Haiko Pieplow / Hans-Peter Schmidt: Terra Preta: Die schwarze Revolution aus dem Regenwald. Oekom-Verlag: München 2013 (Rezension)

Terra Preta

***** Tiny Forests – die Methode (Link)

****** Tiny Forest: Urwald für die Stadt. Aufforsten gegen den Klimawandel. Film von Gesine Enwaldt und Ingo Mende (ZDF, 01.04.2023 18:36 Uhr / 29 Min.)

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