Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 4

Gottfried Liedl am 30. November 2022

Wien und die Natur … Im Gegensatz zu manch anderer Metropole handelt es sich hier um eine eher glückliche Partnerschaft. Ruhmesblätter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind die beiden Internationalen Gartenschauen (WIG 64 und WIG 74 – mit jeweils einem neuen Naturpark als bleibender Einrichtung), das Stadtteil-(Grätzel-)Sanierungsprogramm der 80-er Jahre (mit Hinterhofentkernung und Hofbegrünungsaktionen), die Errichtung der Donauinsel, die Erklärung des Wienerwaldes zum Biosphärenpark (gemeinsam mit Niederösterreich), Bemühungen um die Erhaltung einer respektablen Stadtlandwirtschaft und die Schließung des Grüngürtels sowie das Einbringen gemeindeeigener Naturschutzgebiete in den Nationalpark Donauauen.

Ganz auf der Höhe der Zeit ist auch die 2021 vom Gemeinderat beschlossene Widmung einer ca. 10 Hektar großen Brachfläche, die als Standort seltener Pflanzen der Magerwiesen-Flora von beträchtlichem ökologischen Wert ist, zur sogenannten Freien Mitte | Stadtwildnis im neuen Wohngebiet Nordbahnviertel.**

Kein Ruhmesblatt dagegen war der Versuch, den Baumbestand des Sternwarte-Parks zu roden (was den damaligen Bürgermeister das Amt gekostet hat) und ist das seit 2016 laufende Projekt, in der Kulturlandschaft Lainzer Tiergarten – einem ehemaligen Kaiserlichen Jagdgebiet – durch Ausrottung mehrerer seit Jahrhunderten dort heimischer Wildarten „naturnahe“ Verhältnisse herzustellen (→ Blogeinträge vom 20. Oktober 2022 und 17. November 2022). Beide Male wurde selbstherrlich ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Statt den Finger am Puls des vermeintlichen Zeitgeists zu haben (im Fall des Sternwarte-Parks war es der technokratisch-fortschrittsaffine, in der Causa ‚Lainzer Tiergarten‘ ist es der fundamentalökologische Zeitgeist), hätte die Stadtregierung lieber den biederen und pragmatischen, vielleicht sogar im Grunde immer noch romantischen Gemeinwillen der Wienerinnen und Wiener bedenken und berücksichtigen sollen. Soviel dazu.

Im letzten Teil meiner Überlegungen zur ‚Umweltstadt Wien‘ soll es aber nicht so sehr um die floristischen und dem Bereich der Fauna zugehörigen Elemente der Stadtlandschaft gehen. In der heutigen Folge zum Vortrag vom 11. 11. möchte ich mich mit der gebauten Umwelt Wiens befassen. Mit anderen Worten: „Wie Wien wohnt“ (Mandl | Sabo 2015).*

Wohnen in Wien. Parallel zur Geschichte der ‚Grünen Stadt‘ (Gartenstadt – Stadt der Parks – Umweltstadt)  hat sich die gebaute Stadtlandschaft als Drei-Stufen-Modell entwickelt. Und auch diesem Modell liegt eine ausgeprägte Periodisierung zugrunde.

Wenn man den Ausgangspunkt der bewohnten Stadtlandschaft im Wien der Adelspaläste und Barockgärten, der Vorstädte mit ihren Hofhäusern und Hofgärten ansetzt, dann bildet die nächste Entwicklungsstufe die Stadtlandschaft des 19. Jahrhunderts (Gründerzeit, Ringstraßenära): Einerseits die ‚großbürgerliche‘ Nachahmung der Adelspaläste entlang der Ringstraße und in den Villenvierteln; andererseits die Antithese dazu, die Zinshäuser mit ihren ansehnlichen Fassaden und den beengten Verhältnissen im eigentlichen Wohnbereich („außen Hui, innen Pfui“: kleine Wohnungen, enge Lichthöfe). Die Synthese – wenn man sie denn so nennen möchte – von großbürgerlichem Wohnkomfort und proletarisch-kleinbürgerlicher Schlichtheit könnte man dann in der Entwicklung einer ‚Werthaltigen Architektur für alle‘ ab den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts sehen – mit anderen Worten, in der Gemeindebau-Architektur des Roten Wien. Nachsatz: Wenn man das heutige Stadtbild kartographisch abbildet; wenn man auf diesem Stadtplan analysiert, wo sich welche Wohnhausformen befinden – und in welchem Erhaltungszustand sie sind; so offenbart sich Wien geradezu als Freilichtmuseum, als ein mehr oder weniger gut konserviertes ‚STADTBILD IN DREI ASPEKTEN‘, worin sich die historische Entwicklung als Patchwork aus Barockem Wien, gründerzeitlichem und Rotem Wien dargestellt findet.

Gründerzeithäuser (violett); Villenviertel (orange); Gemeindebauten (rot)

Baugeschichte. Fünf Aspekte der „gebauten Stadt“ (Mandl | Sabo 2015, Seite 197)* lassen sich an Wiens Baugeschichte ablesen: Stadterweiterung, Stadterneuerung, Stadtverdichtung, Smart City und ‚die Grüne Stadt‘:

Stadterweiterung

19. Jahrh. Gründerzeit | Vorstädte | Vororte | Cottage

20. Jahrh. Rotes Wien | Bauordnung | Grüninsel Gemeindebau

20. Jahrh. Speckgürtel | ‚Auto-Wien‘: Wiental, Mödling – Baden

21. Jahrh. ‚Öffi-Wien‘: Seestadt Aspern usw.

Stadterneuerung

18. Jahrh. Barockstadt Wien | die Adelige Gartenstadt

19. Jahrh. Ringstraße | Wien der Zinshäuser und Fabriken

1950 ff. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder

1980 ff. Althaus- und Blocksanierung | Wärmedämmung und Hofentkernung, Hofbegrünung | Spielstraßen, Fernwärme & Co.

Stadtverdichtung

19. Jahrh. Blockbebauung statt Hofhaus

20. Jahrh. Wiederaufbau und Schließung der Baulücken

20. / 21. Jahrh. Dachausbau | Hochhaus-Cluster: Donauplatte etc.

Umwidmung Industriegebiete: Sonnwendviertel, Arsenal & Co.

Smart City

21. Jahrh. Energieneutralität: Erdwärme, Windkraft & Co

Prosumerismus: Das Wohnhaus als Kraftwerk

Klimafitness, Autarkie & Co: Grüne Stadt und City Farm

Die Grüne Stadt

Wohin geht der Weg? New Generation Greenbelt (Sara MacDonald)* und Stadt der kurzen Wege? Grünraumgerechtigkeit? Usw. usf.

Legen wir diesen fünfteiligen Maßstab an die Baugeschichte Wiens an, so gab bzw. gibt es drei mehr oder weniger deutliche Phasen der Erweiterung: Die Gründerzeit im 19. Jahrhundert mit dem Ergebnis der Eingemeindung der Vorstädte, Vororte und des ‚Cottage‘ = Villenviertels im Westen inklusive Grüngürtel (‚Wald- und Wiesengürtel‘); im 20. Jahrhundert ist es die Bautätigkeit des Roten Wien, angestoßen und begleitet von einer radikal erneuerten Bauordnung.

Neue Bauordnung des Roten Wien. Als Antwort auf die Misere der extrem verdichteten Wohnviertel der Gründerzeit mit ihrer Blockbebauung hat die neue, von den Sozialdemokraten geführte Stadtregierung mit einer Änderung der Bauordnung das Prinzip der Auflockerung ins Zentrum der Stadtplanung gerückt. Ohne die Blockbebauung als solche aufzugeben, wurde diese mit dem Prinzip der erweiterten, begrünten Innenhöfe (statt der bisher üblichen Lichthöfe) verknüpft und sozusagen entschärft. Hören wir dazu den Experten.

„Mindestens 50 % der Grundfläche werden freigehalten; Lichthöfe werden grundsätzlich vermieden, nur in äußersten Ausnahmefällen gebaut; der Zugang zu den Häusern erfolgt über den Hof, nicht von der Straße – die Höfe sind Ausdrucksform des Zusammenhalts, durch große Eisentore geschützte Zuflucht; die Höfe werden gärtnerisch gestaltet und als Aufenthaltsraum gewidmet, Kinder sollen statt auf der Straße in den Höfen spielen. Die Hoffassaden werden so sorgfältig wie die der Straße gestaltet, um den Wert des geschützten Bereichs zu unterstreichen“ (Jahn 2014, I, Seite 20 f.)*

Goethehof, Wien Donaustadt (Luftbild 1938): @ Stadt Wien – data.wien.gv.at

Paradigmenwechsel nach 1945? Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist diesbezüglich eher ambivalent. Einerseits ist das die Zeit des Wiederaufbaus und der Erweiterung des ‚Speckgürtels‘ mit den beiden Achsen Wiental und südlicher Wienerwald-Rand, von Perchtoldsdorf und Mödling bis Baden. Man kann von dieser Epoche geradezu als dem ‚Auto-Wien‘ sprechen. Der Stadthistoriker Gottfried Pirhofer beschreibt die typische „autogerechte Stadt“ als „Produkt der internationalen Moderne“; deren Leitbilder sind „mit Mobilität verbunden und richten sich funktionalistisch gegen die gemischte, dichte Stadt, die sie durch die aufgelockerte Stadt bzw. durch Trabantenstädte zu ersetzen trachten. Im Wesentlichen kam als Ergebnis der monofunktionale Wohnbau heraus, wie wir ihn in Wien in der Großfeldsiedlung oder am Rennbahnweg haben“ (Pirhofer 2015, Seite 56). Der Trend zur ‚autogerechten Stadt‘ endete um 1980 und wurde durch eine Philosophie der Stadtsanierung bei gleichzeitiger Nachverdichtung ersetzt: Dachbodenausbauten und Hofbegrünung, die Aufwertung der Bausubstanz, des Wohnwerts und Wohnkomforts der Immobilie, beispielsweise durch eine nachträgliche Wärmedämmung, stellten und stellen aus Sicht der Stadtplanung eine Rückkehr zu kleinteiligeren, Stadtteil-basierten Wohn- und Lebensformen dar. 

Andererseits haben sich im 21. Jahrhundert die Schwerpunkte abermals verschoben; aber mit einer typischen Einschränkung. Einer Renaissance der Trabantenstadt, wie sie uns etwa im Konzept der ‚Seestadt‘ begegnet, folgt nicht automatisch die Wiederkehr der ‚autogerechten Stadt‘, sondern eine verstärkte Entwicklung in Richtung öffentliche Verkehrsmittel. Öffi-Wien statt Auto-Wien, um den entscheidenden Unterschied salopp auf den Punkt zu bringen.

Stadterneuerung, Stadtverdichtung, Smart City und ‚die Grüne Stadt‘. Wenn man den Anspruch bedenkt, der in der Bezeichnung SMART CITY steckt, sollte man keinesfalls vergessen, dass sich als Vorstufen einer solchen Entwicklung Inkubationszeiten von mehreren Jahrzehnten beobachten lassen. Die ÖKOLOGISIERUNG DER STADT nimmt schon in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts Fahrt auf. Mit dem Konzept der Althaus- und Blocksanierung inklusive geförderter Fassadensanierungen (zur Verbesserung der Wärmedämmung) sowie Hofentkernungs- und Hofbegrünungsprojekten, Schaffung von Fußgängerzonen, Spielstraßen und einer Ausweitung des Fernwärmenetzes wird erstmals seit den innovativen Projekten der Zwischenkriegszeit wieder im großen Stil die Stadtlandschaft verändert.

In einer kritschen Phase der ‚Grünen Stadt‘? Wie es weitergehen könnte … Mit jedem neuen Anlauf zur Stadtverdichtung sind gravierende Probleme für das Grün in der Stadt zu erwarten. Bekannt und wieder im Kommen ist eine Methode der VERRINGERUNG des absoluten Grünanteils aufgrund von Verbauung, die sich hinter der ‚Behübschung‘ durch sogenannte POCKET PARKS, also pseudo-begrünte Kleinflächen, versteckt. Eine solche Restfläche nannte man früher in Wien übrigens ‚Beserlpark‘. Auf der anderen Seite bedrohen die neuen Stadterweiterungsprojekte nördlich der Donau nicht nur stadtnahe Agrarflächen, sie haben, wie es scheint, auch die lang versprochene Schließung der GRÜNSPANGE (Ergänzung des Wald- und Wiesengürtels zwischen Bisamberg und der Lobau) zum Stocken gebracht.

Eine weitere Frage, die sich gegenwärtig stellt – ob das Potenzial für Stadterneuerung und|oder Anpassung an die Klimaziele im Althausbestand aus der Gründerzeit beziehungsweise bei den Immobilien aus der Zeit des Wiederaufbaus (50-er, 60-er und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts) nicht schon ausgereizt ist. Diese Frage wird wohl endgültig erst dann beantwortet sein, wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung auch für allfällige Fördermaßnahmen (Maßnahmen zur Steigerung der Klimafitness, wie etwa Erdwärme-Projekte) sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich abgeschlossen sein wird. Und das kann dauern.

Bis die Erhaltung einer vernünftig dimensionierten Stadtlandschaft, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bebauung, Grünanteil, Verkehrsflächen und einem lebensfähigen urbanen Agrarsektor (von dessen Bedeutung man die Stadtplaner wohl noch überzeugen wird müssen) unter den neuen Voraussetzungen gesichert ist, wird wohl, wie man in Wien sagt, noch viel Wasser die Donau hinunter fließen.

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* Literatur:

Harald A. Jahn: Das Wunder des Roten Wien. 2 Bände. Phoibos Verlag: Wien 2014;

Evelyn Mandl | Ferenc Sabo: Wie Wien wohnt. Gestern | heute | morgen. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2015 Link;

Gottfried Pirhofer: Der Stadthistoriker (Interview). In: Evelyn Mandl | Ferenc Sabo: Wie Wien wohnt. Gestern | heute | morgen. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2015, Seite 54–57;

Sara MacDonald et al.: Rethinking the governance and planning of a new generation of greenbelts (2020);

Viola Rosa Semper | Charlotte Schwarz: Verlockende Oasen. Parks, Grünräume und malerische Gärten in Wien. Falter Verlag: Wien 2021;

Gabriele Hasmann | Sabine Wolfgang: Das wilde Wien. Grüne Oasen & urbane Wildnis in der Großstadt entdecken. Styria Verlag: Wien - Graz 2022

** Link: Freie Mitte | Stadtwildnis

** Das aktuelle Thema: Raus aus Gas

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Nachtrag vom 25. Jänner 2023 … Wer einen „Grünen Ring um den Ring“ will – und wer sich wieder mal ziert.

Es mutet an wie die Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Wegen der U-Bahn-Baustelle stehen auf der sogenannten Zweierlinie (Lastenstraße) im Bereich des 8. Wiener Gemeindebezirks derzeit nur zwei Fahrspuren zur Verfügung. Standen vor Baubeginn von der insgesamt 41 Meter breiten Verkehrsfläche gleich 18 Meter – fast ein Drittel – dem Automobil zur Verfügung, während sich Grünflächen, Rad- und Gehwege mit dem Rest zu begnügen hatten, muss sich der vierrädrige Götze jetzt mit lediglich einer Spur pro Fahrtrichtung begnügen. Und siehe da – das gebetsmühlenartig befürchtete Verkehrschaos war ausgeblieben, der Verkehr verminderte sich um 50 Prozent. „Guat is‘ gangen, nix is‘ g‘schehn“ …

Die Wiener Grünen, deren ökologisches Verantwortungsbewusstsein merklich gestiegen ist, seit sie aus der Stadtregierung geflogen sind, sehen „hier keine Baustelle, sondern eine historische Chance“ (Parteichef Peter Kraus anlässlich der Präsentation einer Studie zur klima- und bürgerfreundlichen Umgestaltung des derzeitigen Baustellenbereichs). Das gestern vorgestellte Projekt geht davon aus, dass es auch in Zukunft bei jeweils einer Fahrspur bleibt; die Versiegelung soll von derzeit 84 auf 72 Prozent gesenkt und der gewonnene Raum mit 8.000 m2 neuer Grünfläche aufgewertet werden, sodass sich der Grünanteil im Bezirk von 16 auf 27 Prozent erhöhen würde. Der für das vorgestellte Projekt verantwortliche Studienautor Rupert Halbartschneider betont die Bedeutung rechtzeitigen Handelns und gezielter Vorbereitung – für ein Projekt dieser Größenordnung („aus einem Guss“) müsse man zeitnah alle Beteiligten an einen Tisch bringen.

Nun ja. Die Reaktion der Anderen ist erwarteter Weise überschaubar. „Die SPÖ steigt auf die Bremse“ (KURIER vom 25.1.2023). Zur Zeit scheint Grünpolitik, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, bei den Regierenden nur dann interessant zu sein, wenn sie mit möglichst viel Einsatz von Technik und Beton zustande kommt. Das Pflanzen von Bäumen (im gegenständlichen Projekt immerhin stolze 358 Stück) schafft halt weniger Arbeitsplätze.

Und zusätzliche Einnahmen (ich meine natürlich Steuern, nicht Wahlspenden – was habt ihr denn gedacht?) generiert es auch nicht.