„Botanische Weltenbummler“ – was soll das sein? Sind das kosmopolitische Botaniker? Oder Pflanzen, die um die halbe Welt gereist sind, um an ihren Standort zu gelangen? Wenn man Berichten aus früherer Zeit (als es noch Abenteuer gab) Glauben schenken darf, offensichtlich beides:

„Im Zeitalter wunderbarer Entdeckungen [… haben wir] die Geheimnisse der Natur enthüllt und erforscht; eine neue Physiologie ward eingeführt. Es ist ein Zeitalter täglicher Fortschritte in allen Wissenschaften, vor allem in der Pflanzengeschichte. Zu diesem Zweck haben nicht nur Privatleute, sondern auch Fürsten und Großgrundbesitzer viel Energie darauf verwandt, neue Blumen für ihre Parks und Lustgärten zu finden, und zu diesem Zweck Pflanzenjäger ins fernste Indien entsandt: Diese haben Gebirge und Täler durchstreift, Wälder und Ebenen, jeden Winkel der Erde durchforscht und alles, was verborgen war, ans Licht und vor Augen gebracht.“

So der englische Pflanzenforscher John Ray im Jahr 1690 (zitiert bei Pavord 2010, Seite 419).* And rightly so. Wenn wir uns heute die Botanischen Gärten der Städte und Metropolen mit ihrer Pflanzenvielfalt ansehen; wenn wir die Bewegungen auf den Getreide- und Rohstoffbörsen der Welt studieren; bei jedem Gang durch den Supermarkt; im Restaurant, beim sprichwörtlichen Italiener, Chinesen, Inder … Wir werden den Ergebnissen obgenannter Reisen besagter ‚Pflanzenjäger‘ begegnen, und sei es auch nur als Ingredienzien eines köstlichen Risotto oder schmackhaften Chilli. Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon im letzten Dorf des hintersten Winkels eben dieser Welt vorbeigeschaut hätte. Ganz zu schweigen von jenen, die gekommen sind, um zu bleiben. 

Weltsystem. Dass das ganze irgendwie mit Globalgeschichte zu tun hat, ist eine naheliegende Vermutung. Die denn auch gleich einen weiteren Begriff ins Spiel bringt: Weltsystem. Dieses ist ein „vom amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein vorgelegtes Konzept, […] welches die traditionellen, früher wirtschaftlich und politisch unabhängigen Gesellschaften immer mehr integriert. […] Das Weltsystem […] expandierte im Zuge der Industrialisierung und des Kolonialismus […] in andere Kontinente“ (Lexikon der Geographie, Eintrag ‚Weltsystem‘).**

Das aber ist erst die halbe Wahrheit. Denn jenes Weltsystem als Voraussetzung für Austausch und Transfer – ob, wie von Wallerstein postuliert, einseitig-übervorteilend oder doch eher gleichgestellt-symmetrisch, sei vorerst dahingestellt – gab es, wenn die Quellen nicht lügen und die historischen Anzeichen nicht trügen, schon früher. Um genau zu sein, rund 300 Jahre vor jenen Ereignissen, die als Industrialisierung und Kolonialisierung bezeichnet werden. Manche sehen in diesem Prozess sogar die ‚Europäisierung (der Welt)‘.

Es begann im Mittelalter. Anders lagen die Dinge im Fall des ‚ersten‘, des vormodernen Weltsystems. Bereits im 13. Jahrhundert existierte ein großer transkontinentaler Bereich, wirtschaftspolitisch zusammengehalten von zwei – nennen wir sie ruhig weltumspannenden – Handelsrouten: Ein System von Landverbindungen im Norden, ein weiteres, maritimes System im Süden. Zusammen bildeten sie einen geschlossenen Kreislauf „von Flandern nach Fernost“, einen geschlossenen Geld-Waren-Kreislauf, der zahlreiche europäische, asiatische und afrikanische Untersysteme dauerhaft miteinander verband.

Die vormodernen Subsysteme: 1 = Europa (Handelsstädte, Feudalstaaten, Italien: Seestädte); 2 = Mongolen; 3 = Fernost; 4 = Vorder- und Hinterindien, Inselindien; 5 = Islamische Staatenwelt; 6 = Sudan- und Sahelstaaten; 7 = Nubien, Äthiopien; 8 = Reich von Monomotapa

Demnach verbindet bereits im 13. Jahrhundert ein System aus regionalen und überregionalen Handelskreisläufen, die einander überlappen, Wirtschaftsräume über Tausende Kilometer hinweg. Gemeinsam stiften diese ‚circuits‘, wie die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Janet Abu-Lughod sie nennt,* einen größeren Zusammenhang, der sich wirtschaftlich-kulturell, aber auch politisch artikuliert und die damals bekannte Welt in einem bis dahin unbekannten Ausmaß geeint erscheinen lässt. Von Flandern, Südengland, dem Rheinland und den Märkten der Champagne im Westen bis ins ferne China reicht diese Welt, verbunden durch regelmäßige, beständige und intensive Handelsbeziehungen. Diesen mittelalterlichen transkontinentalen Austausch mag man – oder mag man nicht – eine erste, eine vormoderne Globalisierung nennen.

Pflanzen (und Tiere) von Ost nach West. Nochmals unser Risotto: Dass wir dieses typisch italienische Gericht in jeder besseren Trattoria zu uns nehmen können (wie übrigens auch die famose Paella beim Spanier um die Ecke), verdanken wir – erraten: dem mittelalterlichen Weltsystem. Durch Vermittlung islamischer Agrarexperten in den Westen gebracht wurden der Reis und die Baumwolle, die Zitruspflanzen und die Dattelpalme (heute in Südspanien und auf Kreta zu bewundern), nebst verschiedenen Gemüsesorten, Gewürz- und Heilkräutern. Sogar die Banane wurde den mediterran-europäischen Klimaverhältnissen angepasst. Importiert und akklimatisiert wurden auch ertragreiche Hirsearten und das Zuckerrohr. Ebenfalls im Mittelalter gelangten durch Vermittlung islamischer Spezialisten die als Futterpflanze unschlagbare Luzerne (Medicago sativa L.) sowie der Alexandrinerklee nach Europa. Die spanische Bezeichnung der Luzerne, Alfalfa, erinnert sprachlich an die arabische Herkunft dieser wichtigen Nutzpflanze, über die in der Fachliteratur zu lesen ist, dass sie die wichtigste Futterpflanze in trocken-heißen Gebieten sei.

© G.Liedl

Auch wenn es nicht ganz hierher gehört – das Thema Tierleben sei zumindest angerissen. So kannte man in Europa vor der islamischen Ära den Wasserbüffel nicht. Der Lieferant der unvergleichlichen echten Mozzarella, die aus Büffelmilch gemacht wird, ist heute in Süditalien und auf Sizilien heimisch, aber auch auf dem Balkan und in Ungarn, wohin ihn am Beginn der Neuzeit die Osmanen brachten. Die europäische Pferdezucht verdankt ihre edelsten Rassen ebenfalls diesem mittelalterlichen Ost-West-Transfer. Und das Merinoschaf, das beste Wollschaf der Welt würde ohne seine ersten Züchter aus dem Hohen Atlas auch nicht existieren. Genauso wenig wie die feine Wolle der Angoraziege Anatoliens ohne den Ost-West-Transfer durch islamisierte Turkstämme der heutigen Textilindustrie zur Verfügung stünde.

Modern Times. Was im Mittelalter begann, setzte sich in der Neuzeit fort – auf wesentlich höherem Niveau und mit ungleich nachhaltigeren Folgen; um nicht zu sagen: Mit ungleich eindrücklicherem Erfolg. Ökonomische Interessen stehen dabei im Vordergrund, sind aber nicht die einzige Antriebskraft für expansives Verhalten; Wissen und Wissenserwerb spielen eine nicht weniger bedeutende Rolle. Die nun anbrechende Zeit der Aufklärer, Physiokraten, Naturwissenschaftler und Philosophen spiegelt ideologisch wider, was sich ökonomisch und politisch auf den Weltmeeren ereignet. Den neuen Kurs, den europäische Schiffe in immer größerer Zahl über immer besser erforschte Meere nehmen, um immer größere Mengen an erlesener Fracht aus exotischen Gegenden in ihre Heimathäfen zu bringen, kann man mit den neuen Diskursen vergleichen, die in besagten Heimathäfen geführt werden: Diskurse, in denen die Biologie in Gärten und Menagerien voller interessanter, weitgereister Gestalten, Objekten eines unermüdlichen Pflanzen- und Tiertransfers, erörtert wird.

Vormodernes und modernes Weltsystem. Einen entscheidenden Unterschied zwischen vormodernem und modernem Weltsystem gibt es jedoch; nämlich die Tatsache, dass im vormodernen System die einzelnen Teile und Player sozusagen auf Augenhöhe mit einander verkehrten, wohingegen das moderne System eine schiefe Ebene bildet, an deren oberer Kante die Player (West-) Europas stehen; sie bilden gemeinsam, aber auch untereinander rivalisierend, das Zentrum, um hier den Ausdruck zu verwenden, den auch Wallerstein benützt.**

Das schlägt sich sogar in der Art und Weise nieder, wie die Systeme ihre Tier- und Pflanzentransfers durchführten. Dabei fällt als Hauptunterschied die Verbreitungsrichtung auf: Im Mittelalter gab es eine klar erkennbare Ost- Westachse; diese bildet die prinzipielle Gleichwertigkeit von Sender (Ost) und Empfänger (West) während der Blüte des vormodernen Weltsystems ab. Aus dem Westen kommt das im Osten hochbegehrte Edelmetall, meist Silber; aus dem Osten das jeweilige Äquivalent in Gestalt der nachgefragten Waren, in unserem Falle neuartige, hochproduktive Pflanzen samt dazu gehöriger elaborierter Agrartechnik.

Dass in der Neuzeit dann die Verteilung der transferierten Pflanzen (Mais, Tomate, Kartoffel; Zuckerrohr, Baumwolle, Kaffee; Soja, die Ölpalme, der Kautschukbaum) und Tiere (Pferd, Rind, Schwein, Schaf; Jagdwild wie Rot- und Damhirsch ... um nur die wichtigsten zu nennen) in alle Richtungen geht – ein Prozess, der bis heute anhält –, lässt sich verblüffend einfach mit der ebenfalls sämtliche Erdteile umfassenden, vom ‚Zentrum‘ Europa aus gesteuerten Kolonisierung der Welt, ihrer Unterwerfung unter ein einziges dominantes Kalkül erklären. Industrialisierung – der agro-industrielle Komplex – hat mit der europäischen Expansion das gemeinsam, dass er von einem Quasi-Punkt ausgehend, in sozusagen konzentrischen Kreisen das größere Ganze durchdringt, bis – zumindest in der Theorie – sämtliche Punkte dieses Ganzen erreicht sind und überall eine einheitliche Qualität hergestellt ist.

Wie war das doch gleich mit den kosmopolitischen Reisenden und ihren Produkten? Zwar soll man sich nicht selbst zitieren … dennoch: Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon mal im letzten Dorf des hintersten Tals vorbeigeschaut hätte.

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* Literatur:

Janet L. Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350. New York-Oxford 1989;

Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997;

Anna Pavord: Wie die Pflanzen zu ihren Namen kamen. Eine Kulturgeschichte der Botanik. Berlin 2010;

Pirmin Suter: Pflanzen, Botschafter der Globalisierung. In: Gottfried Liedl | Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 11–32

Empfehlenswerte (noch) unveröffentlichte Beiträge zum Thema ‚Pflanzentransfer‘:

Sarah Abdul Kader: Die Dattelpalme und ihre Globalisierung: Zwischen Symbolik und Verbreitung. BA-Proseminararbeit, Sommersemester 2020 | Universität Wien: Wien 2020 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Anton Büchel: Das Erbe Al-Andalus' auf der Iberischen Halbinsel mit besonderer Berücksichtigung von Zitrus- und Palmenkultivierung. Geschichtswissenschaftliche Arbeitstechniken und Archivkunde, Sommersemester 2013 | Universität Wien: Wien 2013 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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David Kaufmann: Quellen der Irrigationssysteme in al-Andalus. Islamische und prä-islamische Perspektiven. BA-Proseminararbeit, Wintersemester 2021 | Universität Wien: Wien 2022 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Tobias Mairhofer: Herrschaft, Ökonomie, Botanik: Ein Modell für die Nutzung von Botanik als Impulsgeber in der Landwirtschaft im Emirat Granada. Abschlussarbeit, Seminar „Frühmoderne im Islam. Die Landwirtschaft in der islamischen Welt. 8. - 16. Jh.“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Sommersemester 2018). Wien 2018 [Unveröffentlichtes Typoskript]  
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Caroline Schnur: Avocado – der heißumkämpfte „Smaragd“ Mexikos. Ökologische und soziale Folgen einer Agrarproduktion im Zwiespalt zwischen exhaustiver Landnutzung und blutigem Drogenkrieg. Abschlussarbeit, Proseminar „Europäische Expansion | Ökologie | Globalisierung“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]  
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Andjelo Smoljo: Die Entwicklung von Globalisierung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Abschlussarbeit, Seminar „Umwelt- und Agrargeschichte aus globalhistorischer Sicht“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]  
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** Lexikon der Geographie: Weltsystem

Wieviele Stadtmenschen teilen sich einen Baum? Zahlen lügen nicht, sagt man. In Wien führen derzeit (Waldbäume im Lainzer Tiergarten, im Prater und in der Lobau nicht eingerechnet) rund 190.000 Straßenbäume aus 400 Arten ihr mehr oder weniger strapaziöses respektive komfortables Dasein – da kommt auf 10 Leute ein Baum. Das klingt schon mal ganz gut. Noch besser stehen die Dinge zwischen Elbe und Alster – nur 7 Stadtmenschen teilen sich in Hamburg einen Stadtbaum – und an der Spree: ein Baum ‚gehört‘ gerade mal 5 Berlinerinnen und Berlinern. Urbanes Leben unter Bäumen scheint ein realistisches Szenario zu sein.

Die Ältesten und Größten. „Stadtluft macht frei.“ Für Bäume müsste es heißen: Städtischer Boden macht groß. Zumindest wenn man im Süden lebt. Überall rund ums Mittelmeer – von Haus aus nicht unbedingt eine Gegend, wo man als Baum sein möchte – geht es Bäumen in den Städten gut. Überall zwischen Barcelona und Rom, Marseille und Athen, Palermo und Istanbul, ja sogar in Kairo werden Bäume – Hitzestress hin oder her – richtig groß, viel höher und mächtiger als ihre Vettern und Cousinen auf dem Lande. Der größte Banyan-Feigenbaum außerhalb Indiens wächst in Sevilla; um die Ehre, die älteste Platane der Welt zu beherbergen, streiten sich (nur so als Beispiel) zwei Orte in der Ägäis: Krassi auf Kreta mit einem 2.400 Jahre alten Exemplar und Kos auf der gleichnamigen Insel mit der sogenannten ‚Platane des Hippokrates‘.

Paradiesische Zustände im Verborgenen. Des Rätsels Lösung liegt unter dem Pflaster. Städtischer Boden ist zwar versiegelt, dem Pflanzenwachstum tut das keinen Abbruch. Es stimmt schon – Bäume in der Stadt gibt es noch nicht so lange. Erst mit dem Wachstum der Städte zu Riesengebilden stellte sich die Frage nach städtischem Grün. Stadtbäume führten Jahrhunderte lang ein eher bescheidenes Dasein auf Plätzen oder vor wenigen ausgewählten Gebäuden. Mit der Moderne änderte sich das. Und je länger die Wasser- und Abwasserrohre im Boden liegen (und das tun sie in der Regel seit dem 19. Jahrhundert, als der urbane Mensch anfing, hygienisch zu werden), desto besser ist das für Bruder Baum. Aus den undichten Verbindungsstücken sickert das kostbare Nass; aus anderen Rohren kommt Düngung gratis hinzu.

Schöner leben. Wir sagten es bereits. Stadtbaumarten – die typischen Straßen-, Allee- oder Schattenbäume, die Bäume der Höfe und Hinterhöfe – werden im urbanen Raum größer als dort, wo sie ursprünglich wuchsen. Ökologisch ähneln Städte mit ihren Mauern, hohen Gebäuden und engen Straßenschluchten trocken-heißen Gebirgsgegenden und Felslandschaften. Das engt den Kreis der Kandidaten ein. Im Süden, aber dank Klimawandel zunehmend auch nördlich der Alpen, werden das subtropische bis tropische Arten sein. Denen kommen windgeschützte Plätze und Wärme speichernde Mauern gerade recht.

Nirgendwo im mediterranen Süden werden die Bäume höher und schöner als in den Städten; man könnte meinen, sie hätten sich der Mittelmeerwelt – ihrer von alters her durch und durch urbanen Kultur – auch in dieser Hinsicht angepasst. Wenn es Winter wird, bleibt es zwischen Mauern verhältnismäßig mild. Und im Sommer sind die Umstände trotz Hitze immer noch weniger harsch als draußen auf freiem Feld. Wie der mediterrane Mensch ist auch der mediterrane Baum begeisterter Städter.

P.S. Schon wahr … auch in den Städten ist nicht alles Gold, was glänzt; aber Baumkrankheiten, Schädlingsbefall und Hitzestress sind Themen, die uns im Moment nicht übermäßig interessieren und die wir gern den Zuständigen überlassen: Stadtgärtnern und deren behördlich-botanischen Assistenten. Wen’s dennoch interessiert – Netz und Bibliotheken stellen massenhaft zielführende Einträge und praktische Belehrungen zur Verfügung. Lieber sprächen wir über Fragen der Resilienz und die Rolle nicht einheimischer Baumarten; über Stadt- und Straßenbäume im Klimawandel; über das, wie es stolz genannt wird, „klimafitte Wiener Straßenbaum-Sortiment“; oder darüber, was Bäume mit dem Schwammstadt-Prinzip zu tun haben.* Über die Geschichte der Stadtbegrünung und die Zukunft der Stadtbäume** wird’s vielleicht  demnächst einen eigenen Blog geben – mal sehen.

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* Links:

Exotische Stadtbaumarten; Straßenbaum, Stadtbaum; Stadtbäume im Klimawandel; Klimafittes Wiener Baumsortiment; Schwammstadt-Prinzip; Stadtbäume der Zukunft

** Literatur:

Conrad Amber: Bäume auf die Dächer – Wälder in die Stadt! Projekte und Visionen eines Naturdenkers. Verlag Frankh-Kosmos: Stuttgart 2017

Ich gebe es ja zu – als ich zum ersten Mal von jenem deutschen Schüler hörte, der mit neun Jahren beschloss, dafür zu sorgen, dass weltweit Millionen Bäume gepflanzt würden … und diesen Entschluss nicht nur in einer fulminanten Rede begründete sondern das Vorhaben in den folgenden Jahren auch erfolgreich verwirklichte*, war ich nicht nur begeistert. Sondern auch irgendwie neidig. Ich bin seit meiner Jugend ein eigensinniger Baumfreund. Und Bäumepflanzen gehört zu meiner Lebensphilosophie. Der Junge aus Deutschland war eindeutig mein besseres – weil effizienteres – Alter Ego.

Bäume des Südens. Meine Kontakte mit Bäumen haben sich intensiviert, seit ich viel Zeit in einem einsamen Tal im Hinterland von Málaga, Südspanien verbringe. Meine Baumerfahrungen sind mediterran gefärbt. Bäume sind für mich vor allem Wesen, die ihre Arme im harten Licht des Südens ausbreiten: Schattenspender. Meister des Umgangs mit der kostbaren Ressource Wasser. Erst seit wenigen Jahren ist mir klar geworden, dass das größte Verdienst meiner stämmigen Compañeros in ihrer Bedeutung für das große Ganze liegt. Meine Compañeros sind Helden der Klimapolitik. Meister des CO2-Handlings, weil sie dieses Treibhausgas freundlicher- beziehungsweise nützlicherweise der Luft entziehen und in ihren Blättern, Ästen, Stämmen und Wurzeln festhalten. Oder so ähnlich.

Die Sache mit dem CO2. Ich bin kein Botaniker. Aber Baumfreund mit Interesse für ökologische Zusammenhänge. Als solcher lese ich mich ein: Fachlich fundierte Studien** bieten mir eine Faustformel an, die besagt, dass ein Hektar Wald pro Jahr sechs Tonnen CO2 bindet. Das wären je nach Standort und Bepflanzung zwischen 10 und 25 Kilogramm pro Jahr und Baum. Bäume im Süden – mit Ausnahme der tropischen Primärwälder, versteht sich (die stehen uneinholbar an der Spitze) – binden weniger CO2 (zwischen 10 und 15 Kilogramm), ihre nördlichen Verwandten mehr.***

Ein aufgeforstetes Tal. Wer unser stilles Tal im andalusischen Hinterland besucht, kann, wenn er denn möchte, stundenlang unter Bäumen wandeln oder friedlich in ihrem Schatten schlummern. Das war nicht immer so. Vom heutigen Baumbestand (die Anzahl der Bäume bewegt sich im hohen vierstelligen Bereich) wurden drei Viertel von uns gepflanzt. Ursprünglich entsprach der Bewuchs der typischen offenen mediterranen Landschaft (Macchia, Maquis, Monte bajo), wie man sie vom Sommerurlaub kennt: vereinzelte alte Bäume – vor allem Steineichen und Oliven –, dazwischen Grasland und Hartlaubgehölze wie Ginster, Lorbeer, Erdbeerbaum und Oleander. Diese Landschaft gibt es noch immer. Aber sie hat jetzt neue Nachbarn – die Bäume unseres eigens aufgeforsteten subtropischen Parks.

Suptropische Parklandschaft auf der Finca Los Gamos © G.Liedl

Tue Gutes und rede darüber. Der Baumliebhaber rechnet zusammen … Eine tropisch-subtropische Parklandschaft mit Palmenhain; Olivenhaine und Zitruspflanzungen und von Mandelbäumen bestandene Abhänge; neu aufgeforstete Föhren- und Zypressenwäldchen; alte Steineichen und Ölbäume zwischen Hartlaubgewächsen; ein von Bäumen gesäumtes Bachbett … das ergibt eine ordentliche Bilanz. Selbst wenn wir die geringere CO2-Absorptionskraft der mediterranen Bäume in Rechnung stellen (weil sie nicht so groß werden; weil sie langsamer wachsen), so haben sie doch den unbestreitbaren Vorteil gegenüber ihren nördlichen Brüdern und Schwestern, immergrün zu sein, also ganzjährig assimilieren zu können. Dementsprechend zufrieden stellend fällt das Ergebnis aus.

Rund 90 Tonnen CO2 bindet unser stilles Tal Jahr für Jahr, was selbst dann, wenn wir pro Jahr durchschnittlich fünf Flüge aus unserer nördlichen in die südliche Heimat in Rechnung stellen, einen stattlichen Überschuss zu unseren Gunsten ergibt (84 Tonnen).  

Ganz abgesehen von den anderen Assets der grünen Compañeros – beschattete Böden und ein verbessertes Mikroklima; Bewahrung der Bodenfeuchtigkeit und weniger Erosion; unten mehr Humusbildung, oben mehr Insektenleben und ergo dessen zahlreiche Vögel in großer Artenvielfalt.

Das mit dem Bäumepflanzen war vielleicht doch nicht die dümmste Idee meines Lebens.****

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*Anmerkung: Der Schüler Felix Finkbeiner hatte 2007 mit neun Jahren die Umweltschutzorganisation „Plant-for-the-Planet“ gegründet. Nach Jahren des Reisens durch die ganze Welt, nach Begegnungen mit Entscheidungsträgern wie zum Beispiel dem früheren amerikanischen Vizepräsidenten und Klimaaktivisten Al Gore, vor allem aber weil es ihm gelang, Millionen Jugendliche zu mobilisieren, sind bis heute überall auf unserem Planeten Hunderte Millionen von Bäumen neu gepflanzt, gepflegt und großgezogen worden. Und wie er selbst sagt: solange er lebe, werde er dafür sorgen, dass diese gigantische Aufforstungsmaschine, in Betrieb genommen und gesteuert von Kinderhänden, nicht zum Stillstand komme.

Fakten und Daten: Felix Finkbeiner ist der Sohn des Unternehmers und Club of Rome-Mitglieds Frithjof Finkbeiner und der Textilingenieurin Karolin Finkbeiner. 2006 bis 2015 besuchte er die Munich International School in Starnberg, 2018 schloss er sein Studium im Fach Internationale Beziehungen mit einem Bachelor an der Universität London ab. Seit 2018 Studium an der ETH Zürich (Department für Umweltwissenschaften). Die von ihm gegründete Organisation „Plant-for-the-Planet“ mit 130 Mitarbeitern und 70.000 Mitgliedern in 67 Ländern ( Stand 2017) hatte nach 10 Jahren ihres Bestehens bereits über 1.200 Ausbildungsworkshops organisiert. Kritik an dieser Organisation, etwa wegen Intransparenz und geschönter Erfolgsstatistiken, hat ihr Gründer stets vehement zurückgewiesen.  (Dazu: Plant for the Planet)

** Link: Waldwissen

*** Link: Bäume im Klimawandel

**** Monica Tomaschek: Eine Finca in Andalusien. Der lange Weg zum Garten Eden. MyMorawa: Wien 2022

Siehe auch BLOG # 12 vom 5. Dezember 2022: „Postscriptum zu Sharm el-Sheikh“

Dass von den etwa 8,7 Millionen Arten, die nach mehr oder weniger plausibel untermauerten Schätzungen den Blauen Planeten bewohnen, rund eine Million in den nächsten Jahrzehnten aussterben könnten, wenn Homo sapiens so weiter macht wie bisher, wissen wir schon lange. Dass diese wichtige Erkenntnis jetzt auch auf der Welt-Umweltkonferenz in Montréal die Runde macht, ist daher per se nicht schlecht und könnte uns gefallen. Leider ist hier der Konjunktiv angezeigt. Denn sieht man sich die in Montréal vorgeschlagenen Maßnahmen an, muss man schon sehr dickfellig sein, um nicht daran zu verzweifeln. Schwer vorstellbar, dass den bedrohten Arten damit tatsächlich effektiv unter die Arme gegriffen wäre (Konjunktiv). Selbst im wenig wahrscheinlichen Fall, dass diese Maßnahmen wirksam umgesetzt würden (abermals Konjunktiv).    

Was könnte helfen? Folgende Ursachen für das Artensterben werden genannt: Verlust von Lebensraum; Veränderungen in der Landnutzung; Jagd und Wilderei (warum beides in einem Atemzug genannt wird, ist zwar nicht ganz einsichtig, klingt aber gut); last not least werden auch Neobiota, nicht einheimische Tiere und Pflanzen als Ursachen für Artenschwund aufs Tapet gebracht.

Aus dem Maßnahmenpaket, das geeignet sein soll, Abhilfe zu schaffen, ragen einige Vorschläge heraus.

Wer sind die Armen? Das Hauptargument der Befürworter eines Biodiversitätsfonds – „Die Zerstörung, Übernutzung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen ist geboren aus der Not armer Bevölkerungen“ – wird bis zum Abwinken wiederholt. Schuld sind also die Armen. Also nicht die Großgrundbesitzer mit ihrem unstillbaren Hunger nach immer ausgedehnteren neuen Flächen, sobald sie die alten ausgesaugt und ausgelaugt haben. Und auch nicht die Holzhändler und Prospektoren. Die Bergbau- und Öl-Lobbyisten. Nein. Schuld am brennenden Regenwald sind die gierigen Kleinbauern. Die im übrigen für eine moderne Agrarwirtschaft zu dumm sind.

Und ‚Naturschützer‘ nach Art des Hauses stoßen ins gleiche Horn: „Die armen Landlosen … die herzlosen Ökologen … die asozialen Regenwaldschützer … Jaguare sind ihnen wichtiger als der Mensch …“ Ohne zu registrieren, dass sie damit exakt das unterschwellige Narrativ der Agrarier, Landentwickler, Fortschritts-Verkünder (inklusive Handlanger aus Verwaltung und Politik) wiederholen. Diese Agenten eines sozial maskierten Fortschrittsdiskurses aber werden besagten Biodiversitätsfonds verwalten. Wie war das nochmal mit dem Bock als Gärtner?

Es geht um effektiven Schutz. Wovor sich die in Montréal Versammelten schon wieder drücken, ist die Beantwortung der simplen Frage: Wie schützt man Natur? Abermals wird die Frage verschoben und auf die beliebte, weil harmlose Ebene der Kompensationen gehievt. Anders gesagt – der reale Krieg gegen den Blauen Planeten wird geleugnet, die Machtfrage nicht gestellt. Statt dessen ‚lindert‘ man die Kriegsfolgen …

Wenn ich „Machtfrage“ sage, meine ich natürlich die Eigentumsfrage. Wir sind wieder bei Adam Smith. Bei den Nationalökonomen und ihrer Missachtung der Allmende. Nein, sagt die moderne Ökonomie. Güter, die ‚allen‘ gehören, lassen sich nicht schützen. Solche Güter müssen daher in die Obhut Einzelner übergehen. Die unsichtbare Hand des Marktes macht‘s wieder gut.

Nachtrag und Fazit. Auf der Ebene der Nationen ändert sich durch Verträge, die bloß die Kosten der Naturzerstörung ‚gerecht‘ auf alle verteilen, nichts an den Ursachen des allgemeinen Raubbaus. Nur wenn den Nationen und jenen, die sich hinter dem Begriff verstecken, die alleinige Verfügungsgewalt über Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berge, über den Boden, die Landschaften, Naturgegenstände und Naturphänomene aller Art entzogen würde, könnte sich auch die Frage des Schutzes neu stellen und, wer weiß, sogar effektiv lösen lassen. Könnte. Konjunktive, wohin man blickt.

P.S. Wie man Geld im Sinne der Natur gut anlegt, sprich jene belohnt, die tatsächlich Natur-Schutz betreiben, hat zuletzt die Verleihung des Energy Globe Awards (am 30. November in Wien) gezeigt.

Die 1999 vom oberösterreichischen Energie-Vorreiter Wolfgang Neumann gestiftete Auszeichnung erhielten diesmal – eingereicht waren 30.000 Projekte aus 183 Ländern – Agrarpioniere aus Indien (Bodenverbesserung im Reisanbau mit Hilfe von Enzymen); innovative Stromversorger aus Ruanda (Stichwort: Green energy); Menschen aus Brasiliens Öko-Szene (für ein spezielles Rycycling-Programm samt Trinkwasserbereitung); sowie eine Gruppe Techniker aus China, der eine Wiederverwendungsmethode für Kohlenstoffemissionen aus landwirtschaftlichen und industriellen Prozessen gelang.

In der Kategorie ‚Jugend‘ wurden Menschen aus Australien geehrt, die in mittlerweile 129 Ländern Jugendliche in Umweltfragen ausbilden. Einen Sonderpreis teilten sich elf Projekte für klimafreundliches Kochen. Allesamt Best Practice-Beispiele für Umweltschutz durch und für die Zivilgesellschaft.

„Besser geht’s nicht …“ - - - Stimmt. Besonders im Vergleich mit Montréal.

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Die Reihe zum Blog: Ökologiegeschichte. Ein Reader zum interdisziplinären Gebrauch

Bisher bei Turia + Kant erschienen:

Band 1 – Gottfried Liedl: Das Anthropozoikum

Ansehen

Erweiterte Neuauflage von Band 1 (Teilbände 1.1., 1.2., 1.3.):

Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen

Ansehen

Teilband 2/1 – Gottfried Liedl, Manfred Rosenberger (Hg.): Zivilisationen

Ansehen

Teilband 2/2 – Gottfried Liedl, Manfred Rosenberger (Hg.): Naturdinge, Kulturtechniken

Ansehen

In seinem Gastkommentar (KURIER vom 10. Dezember 2022, Seite 24) verwendet der Unternehmensberater Klaus Atzwanger den harschen Begriff „Ökodiktatur“. Das Wort springt ins Auge. Und weil es von einem Unternehmensberater stammt, denkt der Leser, der sich mit Vorurteilen auszukennen meint, natürlich sofort: ‚Wieder so ein Wirtschaftsfuzzi, der uns vorrechnet, was Umweltschutz die Gesellschaft | die Wirtschaft | den Staat (Zutreffendes ankreuzen) kostet‘.

Wie man sich irren kann. Nach Dafürhalten des Kommentators  „… ist es wesentlich, sich zu vergegenwärtigen, wie kurz wir vor einer sogenannten Ökodiktatur stehen. Und diese Ökodiktatur wird nicht dadurch entstehen, dass radikal grüne und ökologisch orientierte Regierungen Maßnahmen setzen, … wie Leugner der Klimakrise gerne behaupten, sondern eine Ökodiktatur wird von der Umwelt selbst erzwungen, indem uns Wetterkatastrophen und andere ökologische Katastrophen wie zum Beispiel Nahrungsmittelausfälle aufgrund gekippter Artenvielfalt vor radikale Beeinträchtigungen unserer Lebensgrundlage stellen werden.“ Ein ebenso unverhoffter wie kluger Zuruf aus einer Ecke, aus der man (= der Freund, die Freundin einer gesunden, artenreichen Umwelt) es nicht erwartet hätte. Jedoch, jedoch. Entsprechende Erwartungen respektive Befürchtungen werden leider erfüllt, wenn man sich von der Privatmeinung auf die Ebene der Politik begibt.

Umweltschutz nach Art des Hauses. Auch wenn er ‚nur‘ ein Beispiel ist, eine Momentaufnahme, spricht er doch Bände. Gemeint ist der Budgetbericht der Niederösterreichischen Landesregierung für das Jahr 2023.* Der Vergleich macht uns sicher …

Für Umweltschutz sind Aufwendungen von in Summe 41.733.000 Euro vorgesehen. Ist das viel oder wenig? Die Antwort findet sich unter der Rubrik Straßen- und Wasserbau, Verkehr, man liest und staunt über die stolze Summe: 698.521.200 Euro.

Übersetzt man sich das Ganze in die Sprache des Gesunden Menschenverstandes, so lautet das Fazit: Für den (Nieder)Österreichischen Volkssport Bodenversiegelung macht die Öffentliche Hand sage und schreibe siebzehn mal mehr Steuergeld locker als für das, was von besagtem Volkssport betroffen, um nicht zu sagen bedroht ist – die Natur, der Boden, die Artenvielfalt. Oder anders herum: das größte Bundesland der vorgeblichen Öko-Musterrepublik schämt sich nicht, an Aufwendungen für das Stiefkind Natur gerade einmal 6 Prozent dessen vorzusehen, was es für ihr Lieblingskind alias heimliches Umweltideal, die zubetonierte Landschaft bereitstellt.

Aber tun wir nicht so, als wären wir überrascht.

Vom Land der Kreisverkehre, Autobahnzubringer, Einkaufszentren und Häuselbauer war nichts Anderes zu erwarten.**

P.S. Damit nicht nur schwarz gemalt werde, hier noch ein kleines Highlight aus der Welt der Wissenschaft. Seltene Erden, so unverzichtbar im postindustriellen Zeitalter (Industrielle Revolution 2.0.), machen die Welt bekanntlich nicht automatisch zu einem besseren Ort. Im Gegenteil. Die dabei entstehende Abhängigkeit von allerlei Lieferanten mit zweifelhaftem Ruf –  Hotspots der Menschenrechtsverletzung wie China lassen grüßen – wird noch getoppt durch die enorm umweltschädlichen Verfahren, die bei der Förderung dieser Rohstoffe zum Einsatz kommen.* Zwei Meldungen aus der Fachwelt lassen jetzt aufhorchen. Positive Meldungen, wohlgemerkt.

Erstens eine neue, weniger umweltschädliche Fördermethode. Entwickelt wurde das Verfahren, welches den Säureeinsatz beim Schürfprozess reduzieren hilft, ausgerechnet in China. Die Welt ist voller Grautöne und Übergänge. Der zweite diesbezügliche Silberstreif am Horizont erschien im kleinen Österreich. Experten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) entwickelten zusammen mit Kollegen aus Cambridge und Mailand eine Methode zur künstlichen Herstellung von Neodym, einer jener Seltenen Erden, deren Förderung besonders umweltschädlich ist. Das im Labor produzierte Eisen-Nickel-Gemisch Namens Tetrataenit besitzt ähnliche Eigenschaften und bietet vergleichbare Anwendungsmöglichkeiten wie Neodym – mit bedeutend kleinerem ökologischen Fußabdruck. Wer sagt’s denn. Nicht alles muss schiefgehen auf unserem Blindflug ins postindustrielle Zeitalter. Manche Löcher stopft die Wissenschaft ganz ohne dass sie dafür neue aufreißen muss.

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* Links: NÖ Budget 2023; Seltene Erden

** Link, Nachtrag und Anmerkung zum Weltmeister Österreich im Bodenverbrauch - diesmal ein Beispiel aus Wien (Verbauung des Donaufeldes im 21. Bezirk): Download

Symbolpolitik ist sicher der beliebteste Sport unserer Zeit. Konferenztourismus (das wissen wir in Wien sehr gut) ist eine Cash Cow, die – wir bleiben beim gewählten Bild – dem Sport nur wenig nachsteht. Und Umweltfragen sind für Konferenztourismus perfekt geeignet.

Zur Zeit geht in Montréal, Kanada, die Konferenz zum Schutz der Biodiversität über die Bühne. Übrigens die fünfzehnte ihrer Art. Und weil es ja um herzeigbare Ergebnisse geht – schön gesetzte Zeichen und Symbole im Abschluss-Communiqué –, hat man als nette Deadline das halbwegs ferne, aber nicht allzu ferne Jahr 2050 ausgewählt. Bis dahin soll die Welt „im Einklang mit der Natur leben“ (wer denkt sich solchen Schwachsinn eigentlich aus? Man mag nicht glauben, dass es die Politiker selbst sind; eher möchte man davon ausgehen, dass hier das beliebte Subunternehmer-Prinzip bedient und eine lokale Fremdenverkehrs-Agentur mit der Ausformulierung betraut wurde).

Die Welt, wie sie ist. Als „Zwillingskrise“ der Klimaerwärmung wird das Artensterben gern bezeichnet. Oder als das sechste Massensterben der Erdgeschichte. Oder als unvermeidliche Auswirkung des Anthropozäns (Anthropozoikums), des „Erdzeitalters des Menschen“. Während der letzen 50 Jahre sind drei Viertel der Landfläche des Planeten derart stark verändert worden, dass bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten akut vom Aussterben bedroht sind. So steht es jedenfalls in dem Bericht, den 150 Wissenschaftler aus 50 Ländern, unterstützt von weiteren 310 Experten als Zusammenfassung von rund 15.000 Einzelstudien für das IPBES (die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) herausgegeben haben.    

Augenscheinlich haben die seit 30 Jahren laufenden Bestrebungen von UN-Institutionen, das Artensterben zu bremsen, wenig genützt.

Aber jetzt wird alles anders. In Montréal begnügt man sich keinesfalls mit der maximalen Deadline 2050. Vielmehr fügt man einen ‚realistischen‘ Zwischenstopp ein: 2030. In diesem Jahr sollen 30 Prozent der Land- und Wasserflächen des Planeten unter Schutz gestellt sein. 30 Prozent klingt gut. Und passt auch irgendwie in die Zahlenspielerei (30 Prozent – 2030). Nach so vielen Fehlschlägen sagt man sich wahrscheinlich: „Warum nicht mal ein wenig Zahlenmagie, damit endlich was weitergeht?“

Im Ernst. 30 Prozent klingt doch gut. In Österreich – dem Weltmeister im Bodenversiegeln – sind derzeit etwa 15 Prozent des Landes Schutzgebiete (zum Beispiel Natura 2000). Ich persönlich halte es daher für konsequent, dass die Alpenrepublik dann lieber gleich auf Event- und Tagungstourismus setzt. Wir waren schon immer dem Zeitgeist eine Nasenspitze voraus. Der EU-Schnitt an geschützten Gebieten beträgt übrigens 19 Prozent.

Alles Roger in Cambodscha? Der Zeitungsbericht nimmt das Ergebnis von Montréal messerscharf vorweg: „Die Vorzeichen … sind durchwachsen: Schon im Vorfeld wurde von gewissen Spannungen, vor allem politisch-diplomatischer Natur, … berichtet“ (KURIER vom 5. Dezember 2022, Seite 6). Gern hätte man die Hoffnung nicht ganz aufgegeben. Gern glaubte man an die schönen Versprechen, die mit Sicherheit wieder abgegeben werden. Versprechen? Wirklich? Dass die Konferenz unter dem Vorsitz Chinas stattfindet, klingt eher wie eine Drohung.

„Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ (Brüder Grimm). Keine Frage. Ein solches international herzeigbares And they all lived happily ever after haben wir von Montréal mit Sicherheit zu erwarten. Als Grundstein für die nächste konferenztouristische success story. Blöd nur, dass wenn das Märchenbuch zugeklappt ist und sich die Staubwolke, die dabei aus den vergilbten Seiten aufsteigt, verzogen hat, die Welt haargenau die selbe sein wird.

P.S. Im Geschäftsjahr 2020-21 betrug der Umsatz der hundert größten Rüstungskonzerne 560 Milliarden Euro. Ebenfalls sehen lassen kann sich der Schaden, den die großen Umwelträuber, Wilderer, Tier- und Pflanzenschmuggler anrichten. Er beträgt nach soliden Schätzungen jährlich bis zu 20 Milliarden Euro; der ‚Geschäftszweig‘, dem sich dieser Schaden verdankt, ist nach Drogenhandel, Produktpiraterie und Menschenhandel der viertgrößte seiner Art.  

Sie meinen, solcher Umwelt-Zynismus sei im zivilisierten Mitteleuropa undenkbar? Das vorgebliche Musterland Deutschland (die Naturschutzbewegung dort ist nach der englischen die zweitälteste in Europa), zeigt, dass dem nicht so ist. Erst wird ein Jungbulle der sowohl nach internationaler als auch EU-Gesetzgebung beziehungsweise im Deutschen Naturschutzgesetz streng geschützten Wisente (Bison bonasus, laut Roter Liste eine „potenziell gefährdete“ Tierart) einfach abgeschossen – der illegale Abschuss (im Grenzgebiet zu Polen) blieb ohne Konsequenzen. Dann setzte ein Gericht in Nordrhein-Westfalen noch eins drauf: Nach zehn Jahren Widerstand lokaler Grundbesitzer musste das Projekt zum Schutz frei lebender Wisente dort eingestellt werden – den Agrariern war die Handvoll Tiere (gerade einmal 20 Stück) ein unerträgliches Ärgernis. Und das, obwohl sie üppig entschädigt wurden und die Bevölkerung „den Tieren Unterstützung und Wohlwollen entgegen brachte“ (Heike Holdinghausen: Der Kampf um den Artenschutz: Die Wildnis als Störfall?)* Selbstverständlich fordert jetzt in Montréal die Bundesrepublik Deutschland mit hochmoralischer Geste genau dieses Wohlwollen gegenüber der Umwelt ein … nein, nicht von deutschen Großagrariern, sondern von Afrikanern, Indern und Chinesen.    

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* Link: Der Wisent-Skandal

Hier, im zweiten Teil meiner Überlegungen zu den Lehren, die wir aus Sharm el-Sheikh ziehen müssen, werde ich mich mit der ambivalenten Bedeutung sogenannt ‚westlicher‘ Errungenschaften befassen; also mit Fortschritt, Aufklärung und Wissenschaft. Und warum hier auf Staaten und die internationale Staatengemeinschaft so gar kein Verlass ist. Und man daher auf die vielzitierte, aber auch viel geschmähte Zivilgesellschaft setzen muss.

Zivilgesellschaft und ‚westliche‘ Errungenschaften. Alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kreisläufe beginnen und enden mit der Landwirtschaft, das wussten bereits die Physiokraten des 18. Jahrhunderts,** die ‚la terre‘ oder ‚terroir‘, dem Mutterboden, eine Schlüsselrolle im Gemeinwesen attestierten und ‚laboureur‘, den Landarbeiter, nein: den (im besten Sinn des Wortes) Agrarier an die symbolische Spitze besagten Gemeinwesens setzten.

Freilich war und ist Landwirtschaft nach Art des Hauses – im Sinne der Aufklärung – ambivalent: Vom Wert des Bodens theoretisch reden ist das Eine;  ihn zugleich praktisch im Rausch des Fortschritts zu misshandeln, das Andere. Investitions-gesteuerte Landwirtschaft – big business, Agroindustrie – trifft auf Philosophie; praktische Antworten zur Bedrohung des Bodens geben widerständige ‚laboureurs‘ vulgo Kleinlandwirte weltweit, aber mit Wirksamkeit auf lokaler Ebene, unter teils renaissancistischen, teils visionären Vorzeichen. Ihr Arsenal reicht von Bodengenossenschaft („Ackerland in Bürgerhand“) bis Permakultur. Um bloß zwei Beispiele zu nennen.**

Auch Naturschutz war und ist im ‚Westen‘ stets ambivalent. Den Anfang machte die sogenannte ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ mit ihrer großflächigen Verwüstung und Zerstörung der europäischen Wälder, auf die der jeweilige Landesherr mit einer nicht weniger rigiden Forstpolitik antwortete, nach der Devise: In meinem Wald und unter meinen Hirschen hat der Untertan nichts verloren. Diese Linie lässt sich verlängern bis zu den ‚Bisongesellschaften‘ der USA am Ende des 19. Jahrhunderts und zur ‚Weltherde‘ der Oryx-Antilopen (ein Zuchtprogramm zur Arterhaltung)** in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, nur jetzt mit genau umgekehrten Vorzeichen. Wäre Oryx leucoryx (die Weiße oder Arabische Oryx) auf die internationale Staatengemeinschaft und deren Verträge angewiesen gewesen, diese Weltherde wäre nie zustande gekommen und Oryx leucoryx könnte man heute allenfalls als verstaubte Stopfpräparate in Naturkundemuseen bestaunen. Ebenfalls ein Resultat zivilgesellschaftlicher Selbstermächtigung sind die famosen Buffalo Commons (‚Büffel-Allmenden‘)** im Westen der USA (vgl. Liedl: Das Zeitalter des Menschen, Seite 310 ff.).*

Ambivalent aber genauso wichtig: Wildtiere in privater Züchter- und Liebhaberhand – seit dem 19. Jahrhundert ein echter Aktivposten hinsichtlich der Rettung bedrohter Spezies. Stichwort: Weiterzucht der in ihrer chinesischen Urheimat bereits ausgestorbenen Davidshirsche (Elaphurus davidianus) durch den Herzog von Bedford (nach 1895); Stichwort: Bewahrung des bereits zweimal (im Ersten und im Zweiten Weltkrieg) von der Ausrottung bedrohten Wisents (Bos [Bison] bonasus), des europäischen Verwandten des Indianerbüffels, durch koordinierte Zoohaltung; Stichwort (denn aller guten Dinge sind drei): ‚Exotics‘ auf Texanischen Jagdfarmen. Heute grasen in Texas mehr Oryx-, Säbel- und Mendesantilopen, Damagazellen und Hirschziegenantilopen (‚Blackbuck‘) als in deren ursprünglichen Verbreitungsgebieten.

Afrika in Texas: Säbelantilopen © Lucky 7 Exotics (Homepage)**

Andererseits … Das Beispiel der Buschfeuer und wie man sie permanent nicht verhindert, stellt der Zivilgesellschaft und sogar, wie man gleich sehen wird, den Naturschützern kein gutes Zeugnis aus (den Naturschutzbehörden ohnehin nicht). Waldbrände in Spaniens Süden, meiner zweiten Heimat, wüteten 2022 beinahe ungehindert. Wochenlang wurde man ihrer nicht Herr, nicht zuletzt aufgrund einer verfehlten Umweltschutzpolitik: Man hatte die traditionelle Weidenutzung – eine klassische Allmende – weitgehend untersagt, was zu unkontrollierter Verbuschung des Waldbodens führte, der dann wie Zunder brannte und den vorgeblich so perfekt geschützten Wald ins Verderben riss. Ökofundamentalismus vom Feinsten? Könnte man sagen, wenn man Zyniker wäre und zu Dystopien neigte. Aber ein Fressen für rechtsgerichtete Medien war es allemal.**

Community of Investigators, Gelehrtenrepublik. Keine Frage. Klar sehen wir die Ambivalenz von Aufklärung und Wissenschaftlichkeit: Agro-Business, Ausbeutung der Ressourcen, Verschwendung und Klimakriminalität, falsche Heilsversprechungen à la „We feed the world“ auf der einen Seite; auf der anderen Seite führen Urbanität, Globalisierung des Wissens – mit der Chance, dass sich nicht nur das Big Business vernetzt sondern auch der Naturschutz –, Community of Investigators, Renaissance der Kant’schen Gelehrtenrepublik („Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“) zum Begriff der Verantwortung. Anders gesagt, zu Mut und Resilienz. Den Krieg um die Ressourcen hat man der Zivilgesellschaft aufgezwungen. Im Kampf um das Wohl von Mensch und Natur herrscht keine Wahlfreiheit.

Der Krieg hat längst begonnen. „Der Naturschützer und Freund der Allmende wird … erkennen, dass es ihm nicht frei steht, Krieg zu führen oder nicht, weil dieser Krieg (gegen ihn und Seinesgleichen und alles, was ihm lieb und wert ist) von Naturverwüstern und Menschenverächtern längst geführt wird“ (Das Zeitalter des Menschen, Seite 235).

Der Brasilianer Chico Mendes kämpfte für die Allmende, als die er den Regenwald erkannte. Sein Programm: Naturschutz durch Menschen, die aus diesem Schutz einen Nutzen ziehen. Die Autochthonen des Regenwaldes könnten, so Chico Mendes‘ Schlussfolgerung, mit ihren traditionellen wie zukunftsträchtigen Methoden selbst am besten dafür sorgen, dass der Schauplatz ihrer Wirtschafts- und Lebensweise, der Wald, dem ideellen Gesamteigentümer, der Menschheit, erhalten bliebe. Dafür wurde er vom Großgrundbesitzer Darcy Alves de Silva am 22. Dezember 1988 erschossen.**

P.S. „Vom Wutbürger zum Mutbürger.“ Chico Mendes kämpfte gegen zynische Vernichter und Zerstörer. Wie die Indigenen Amazoniens. Wie alle, die Wälder aufforsten, statt sie zu fällen. Natur ist der öffentlichste Raum, der sich denken lässt. Den versuchen tapfere Iranische Frauen, Mädchen, Jugendliche und Kinder zurück zu erobern. Den Mädchen und Frauen Afghanistans, die ihn bereits besaßen, wurde er wieder genommen. Ihnen hat die Obrigkeit sogar den Besuch von Parks untersagt.

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* Literatur: Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte. Turia + Kant: Wien – Berlin 2022

* Ausstellung: Die sechste Auslöschung. Kritische Tierbilder von Walter Wegger

Download 1

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** Links: Physiokraten; Bodengenossenschaft; Humusakademie; Permakultur; Weltherde; Buffalo Commons; Lucky 7 Exotics; Brände im Süden 1; Brände im Süden 2; Brände im Süden 3; Brände im Süden 4; Chico Mendes

Das Nicht-Ergebnis der Climate Change Confernce (November 2022) in Sharm el-Sheikh (Sharm ash-Shaikh), die 27. derartige Veranstaltung in Serie, konnte niemanden überraschen. Der menschgemachte Klimawandel wird in seiner denkmöglich krassesten Form kommen, dafür sorgt verlässlich die Politik mit ihren an kurzfristigem Machterhalt orientierten Scheinlösungen. Wobei – nicht einmal das mit den Scheinlösungen stimmt noch; ein sich von Mal zu Mal immer ungenierter äußernder Zynismus (Marke Trump, Marke Bolsonaro, Marke Xi Jinping … und dergleichen Markeninhaber werden immer mehr) sagt der – vielleicht ebenfalls nur vordergründig besorgten – Weltöffentlichkeit das Götzzitat.

Warum es so ist, wie es ist. Eigentlich sollte das den denkenden Beobachter, die gebildete Beobachterin nicht überraschen. Zumindest dann nicht, wenn sie mit historischer Expertise ausgestattet sind. Seit sich Homo sapiens aus einem Naturwesen (‚Natur in mir‘) zu einem Kulturwesen (‚Natur um mich herum‘) entwickelt hat und genau so rasch, wie er diesen Prozess bis hin zu dessen globaler Allgemeingültigkeit durchlief, verstärkt sich innerhalb der Spezies auch ein evolutionärer Prozess: Individuen mit Hang zu effizienter und immer effizienterer Aneignung aller möglichen Ressourcen genießen in den aufgeblähten Stammesgesellschaften namens Zivilisation oder Kultur, Nation oder Volk, manchmal euphemistisch sogar Menschheit genannt, gegenüber anderen, nachdenklicheren oder rücksichtsvolleren Varianten einen mächtigen Selektionsvorteil.

Wenn man diese Erkenntnis auf den Gang der Weltgeschichte umlegt, sieht man jene Regionen im Vormarsch – allen voran die zuerst Europa, später ‚der Westen‘ genannte –, die sich einer expansiven (‚schneller, höher, weiter‘) und exhaustiven (erschöpfenden) Aneignung von Naturgegenständen (nach dem Modell des Bergbaus, der Extraktion sogenannter Bodenschätze) verschrieben hatten. Nennt man diesen Prozess bei seinem eigentlichen Namen, heißt er auf gut Deutsch AUSBEUTUNG.

Die Lebensmittel – Mittel zum Leben – werden produziert, also wörtlich: ‚hervorgezogen‘, wie Edelmetalle, die man aus dem Erdreich buddelt. Lässt sich nichts mehr ‚hervorziehen‘, zieht der Heuschreckenschwarm weiter. Krisen kompromittieren die Anführer der Horde weniger als man annehmen möchte; vielmehr scheinen sie deren Macht und Autorität zu stärken. Für die Mächtigen waren Krisenzeiten meist gute Zeiten, Ausnahmen (Französische Revolution ff.) bestätigen die Regel.

Einwand: „Andere, vom ‚Westen‘ überwundene, das heißt vernichtete Gesellschaften redeten, wenn‘s um den Lebensunterhalt ging, nicht vom Produzieren sondern vom Empfangen gewisser Gaben der Natur.“ Antwort des Historikers: „Tempi passati.“ Der menschgemachte Klimawandel ist also da und wird auch nicht verschwinden, Punkt.

Mensch, Tier, Pflanze, Boden, Wasser, Luft werden damit zurecht kommen müssen.

Wir, die Menschheit (zugegeben, das klingt pathetisch; wer einen besseren Begriff hat, möge ihn mir sagen, bis dahin bleibe ich bei ‚Menschheit‘), sind die vielen rechtmäßigen ‚Eigentümer‘ (in Anführungszeichen, da wir bloß Nutzungsberechtigte sind) jener WELT-ALLMENDEN, in denen sich Mensch, Pflanze, Boden, Wasser, Luft dem Zugriff einer gierigen in-Wert-Setzungs-Gang ausgeliefert sehen. Die Verantwortung für diese ‚unsere‘ Allmenden sollte daher bei uns liegen.

Frage: Wenn alles kommt, wie es kommen muss – können wir (bei immer widrigeren politschen Bedingungen) für Resilienz, für Widerstandsfähigkeit gegenüber Allmende-Räubern und (bei erschwerten Umweltbedingungen) für Klimafitness dieser Welt-Allmenden sorgen?     

Kein gutes Jahr für Welt-Allmenden. 2022 war für Menschen, Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser, Luft … schlicht katastrophal. Nachdem Corona schon dazu geführt hatte, dass im Windschatten dieser Pandemie Allmende-Aneignungs-und Ausbeutungs-Experten, Großagrarier und die mit ihnen verbündeten Politiker eine ungenierte Wald-, Wasser- und Boden-‚Nutzung‘ (Brasilian Style) betreiben konnten, führten Ukraine-Krieg und Inflation zu weiterer Abkehr von jeder auch nur halbwegs ambitionierten Klimapolitik. Energieträger wie Kohle, Erdöl, Gas, Atomkraft haben derzeit wieder Konjunktur – ihr ‚pfui‘-Image konnten sie jedenfalls ordentlich aufpolieren. Dagegen steht nur die gelinde Hoffnung, die allgemeine Preisexplosion werde dazu führen, dass mit diesen schmutzigen Agenten einer sogenannten Versorgungssicherheit eher sparsam umgegangen werde und man sie sozusagen nur mit spitzen Fingern angreift. Auch dass US-Präsident Joe Biden und seine Demokraten gerade noch rechtzeitig vor den Midterm elections ihr ambitioniertes Energie-, Nachhaltigkeits- und Umweltpaket auf den Weg gebracht haben, steht vielleicht auf der Habenseite (vgl. Bloomberg Green vom 11.11.2022: Biden’s touchdown). Unverbesserliche Öko-Optimisten orakeln angesichts des Preisanstiegs bei ‚schmutziger‘ Energie von einer Beschleunigung in Richtung Energie-Effizienz und sehen in nicht mehr allzuferner Zeit behutsamere, weniger verschwenderische Verhaltensmuster in den am meisten Energie-abhängigen Sektoren Industrie, Verkehr und Wohnen Einzug halten. Wer‘s glauben mag …

Die anderen, die Skeptiker nehmen 2022 anders wahr. Sie erinnern daran, dass dieses Jahr abermals – denn ja, es handelt sich um eine Serie, die offenbar keine Anstalten macht, abzureißen – ein Jahr der Überschwemmungen und Dürren war (Stichwort Pakistan, Süd- und Westeuropa), vor allem aber ein Jahr weltweiter Waldbrände riesigen Ausmaßes.

Waldbrände, Buschfeuer weltweit (Stand 23.7.2022)**

Was tun (für Menschen, Tiere, Pflanzen, Boden, Wasser, Luft)? „Das Thema ‚Allmende‘ ist ein durch und durch politisch-rechtliches. Wir gestatten uns daher ein Gedankenspiel mit der Zielvorstellung einer Rechtsordnung, in der es für global wichtige Ressourcen transnationale Eigentumstitel gibt, an denen alle Nationen nach einem sicherlich nicht ganz einfach zu erstellenden Aufteilungsschlüssel beteiligt sind. Garantieren und überwachen ließen sich diese Eigentumstitel mit einem Vertragswerk, das bei Verstößen automatische Sanktions- und Boykottmaßnahmen vorsähe, bis hin zu international exekutierbarem Schadensersatz. In rein nationaler Verfügungsgewalt stünde nicht mehr, wie das bisher Usus ist, das Eigentum an jenen global bedeutsamen Dingen, sondern lediglich deren Verwaltung: eine nationale Sachwalterschaft über internationale Allmenden unter internationaler Aufsicht.“ (Das Zeitalter des Menschen, Seite 318)*

Soweit die Utopie. Die Wirklichkeit, wie sie sich derzeit geriert – siehe oben (Sharm el-Sheikh) – stellt erstens für derlei Erweiterungen des Völkerrechts keine Anwälte zur Verfügung und bietet zweitens Null Chancen auf politische Durchsetzbarkeit; die Welt-Allmende bliebe also, selbst wenn ihre Implementierung gelänge, totes Recht.

Folglich muss, weil auf der obersten Ebene geschlampt wird, die unterste Ebene die Initiative ergreifen. Nicht wie im oben zitierten Buch als philosophierender Analytiker von der Großen Politik sondern als schon ein wenig desillusionierter Skeptiker, der es billiger gibt, spreche ich hier von der Zivilgesellschaft – von Regionen, Gemeinden, Nachbarschaften abwärts; ich spreche von tätig werdenden Berufs- und Interessensverbänden, von Bürgerinitiativen, kurz von jenen lokalen und kollegialen Zusammenschlüssen, die man sich nicht erst vorstellen muss, weil sie nämlich nachweislich real existieren. „Think globally, act locally“, eine nach allgemeiner Auffassung ziemlich gescheite Strategie.

Im zweiten Teil meiner Überlegungen zu den Lehren, die wir aus Sharm el-Sheikh ziehen müssen, werde ich mich unter anderem mit ‚westlichen‘ Errungenschaften und der Community of Investigators befassen … und was es bedeutet zu sagen: „Der Krieg hat längst begonnen“.

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* Literatur: Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte. Turia + Kant: Wien – Berlin 2022

**Link: Waldbrände

Wien und die Natur … Im Gegensatz zu manch anderer Metropole handelt es sich hier um eine eher glückliche Partnerschaft. Ruhmesblätter aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind die beiden Internationalen Gartenschauen (WIG 64 und WIG 74 – mit jeweils einem neuen Naturpark als bleibender Einrichtung), das Stadtteil-(Grätzel-)Sanierungsprogramm der 80-er Jahre (mit Hinterhofentkernung und Hofbegrünungsaktionen), die Errichtung der Donauinsel, die Erklärung des Wienerwaldes zum Biosphärenpark (gemeinsam mit Niederösterreich), Bemühungen um die Erhaltung einer respektablen Stadtlandwirtschaft und die Schließung des Grüngürtels sowie das Einbringen gemeindeeigener Naturschutzgebiete in den Nationalpark Donauauen.

Ganz auf der Höhe der Zeit ist auch die 2021 vom Gemeinderat beschlossene Widmung einer ca. 10 Hektar großen Brachfläche, die als Standort seltener Pflanzen der Magerwiesen-Flora von beträchtlichem ökologischen Wert ist, zur sogenannten Freien Mitte | Stadtwildnis im neuen Wohngebiet Nordbahnviertel.**

Kein Ruhmesblatt dagegen war der Versuch, den Baumbestand des Sternwarte-Parks zu roden (was den damaligen Bürgermeister das Amt gekostet hat) und ist das seit 2016 laufende Projekt, in der Kulturlandschaft Lainzer Tiergarten – einem ehemaligen Kaiserlichen Jagdgebiet – durch Ausrottung mehrerer seit Jahrhunderten dort heimischer Wildarten „naturnahe“ Verhältnisse herzustellen (→ Blogeinträge vom 20. Oktober 2022 und 17. November 2022). Beide Male wurde selbstherrlich ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Statt den Finger am Puls des vermeintlichen Zeitgeists zu haben (im Fall des Sternwarte-Parks war es der technokratisch-fortschrittsaffine, in der Causa ‚Lainzer Tiergarten‘ ist es der fundamentalökologische Zeitgeist), hätte die Stadtregierung lieber den biederen und pragmatischen, vielleicht sogar im Grunde immer noch romantischen Gemeinwillen der Wienerinnen und Wiener bedenken und berücksichtigen sollen. Soviel dazu.

Im letzten Teil meiner Überlegungen zur ‚Umweltstadt Wien‘ soll es aber nicht so sehr um die floristischen und dem Bereich der Fauna zugehörigen Elemente der Stadtlandschaft gehen. In der heutigen Folge zum Vortrag vom 11. 11. möchte ich mich mit der gebauten Umwelt Wiens befassen. Mit anderen Worten: „Wie Wien wohnt“ (Mandl | Sabo 2015).*

Wohnen in Wien. Parallel zur Geschichte der ‚Grünen Stadt‘ (Gartenstadt – Stadt der Parks – Umweltstadt)  hat sich die gebaute Stadtlandschaft als Drei-Stufen-Modell entwickelt. Und auch diesem Modell liegt eine ausgeprägte Periodisierung zugrunde.

Wenn man den Ausgangspunkt der bewohnten Stadtlandschaft im Wien der Adelspaläste und Barockgärten, der Vorstädte mit ihren Hofhäusern und Hofgärten ansetzt, dann bildet die nächste Entwicklungsstufe die Stadtlandschaft des 19. Jahrhunderts (Gründerzeit, Ringstraßenära): Einerseits die ‚großbürgerliche‘ Nachahmung der Adelspaläste entlang der Ringstraße und in den Villenvierteln; andererseits die Antithese dazu, die Zinshäuser mit ihren ansehnlichen Fassaden und den beengten Verhältnissen im eigentlichen Wohnbereich („außen Hui, innen Pfui“: kleine Wohnungen, enge Lichthöfe). Die Synthese – wenn man sie denn so nennen möchte – von großbürgerlichem Wohnkomfort und proletarisch-kleinbürgerlicher Schlichtheit könnte man dann in der Entwicklung einer ‚Werthaltigen Architektur für alle‘ ab den 20-er Jahren des 20. Jahrhunderts sehen – mit anderen Worten, in der Gemeindebau-Architektur des Roten Wien. Nachsatz: Wenn man das heutige Stadtbild kartographisch abbildet; wenn man auf diesem Stadtplan analysiert, wo sich welche Wohnhausformen befinden – und in welchem Erhaltungszustand sie sind; so offenbart sich Wien geradezu als Freilichtmuseum, als ein mehr oder weniger gut konserviertes ‚STADTBILD IN DREI ASPEKTEN‘, worin sich die historische Entwicklung als Patchwork aus Barockem Wien, gründerzeitlichem und Rotem Wien dargestellt findet.

Gründerzeithäuser (violett); Villenviertel (orange); Gemeindebauten (rot)

Baugeschichte. Fünf Aspekte der „gebauten Stadt“ (Mandl | Sabo 2015, Seite 197)* lassen sich an Wiens Baugeschichte ablesen: Stadterweiterung, Stadterneuerung, Stadtverdichtung, Smart City und ‚die Grüne Stadt‘:

Stadterweiterung

19. Jahrh. Gründerzeit | Vorstädte | Vororte | Cottage

20. Jahrh. Rotes Wien | Bauordnung | Grüninsel Gemeindebau

20. Jahrh. Speckgürtel | ‚Auto-Wien‘: Wiental, Mödling – Baden

21. Jahrh. ‚Öffi-Wien‘: Seestadt Aspern usw.

Stadterneuerung

18. Jahrh. Barockstadt Wien | die Adelige Gartenstadt

19. Jahrh. Ringstraße | Wien der Zinshäuser und Fabriken

1950 ff. Wiederaufbau und Wirtschaftswunder

1980 ff. Althaus- und Blocksanierung | Wärmedämmung und Hofentkernung, Hofbegrünung | Spielstraßen, Fernwärme & Co.

Stadtverdichtung

19. Jahrh. Blockbebauung statt Hofhaus

20. Jahrh. Wiederaufbau und Schließung der Baulücken

20. / 21. Jahrh. Dachausbau | Hochhaus-Cluster: Donauplatte etc.

Umwidmung Industriegebiete: Sonnwendviertel, Arsenal & Co.

Smart City

21. Jahrh. Energieneutralität: Erdwärme, Windkraft & Co

Prosumerismus: Das Wohnhaus als Kraftwerk

Klimafitness, Autarkie & Co: Grüne Stadt und City Farm

Die Grüne Stadt

Wohin geht der Weg? New Generation Greenbelt (Sara MacDonald)* und Stadt der kurzen Wege? Grünraumgerechtigkeit? Usw. usf.

Legen wir diesen fünfteiligen Maßstab an die Baugeschichte Wiens an, so gab bzw. gibt es drei mehr oder weniger deutliche Phasen der Erweiterung: Die Gründerzeit im 19. Jahrhundert mit dem Ergebnis der Eingemeindung der Vorstädte, Vororte und des ‚Cottage‘ = Villenviertels im Westen inklusive Grüngürtel (‚Wald- und Wiesengürtel‘); im 20. Jahrhundert ist es die Bautätigkeit des Roten Wien, angestoßen und begleitet von einer radikal erneuerten Bauordnung.

Neue Bauordnung des Roten Wien. Als Antwort auf die Misere der extrem verdichteten Wohnviertel der Gründerzeit mit ihrer Blockbebauung hat die neue, von den Sozialdemokraten geführte Stadtregierung mit einer Änderung der Bauordnung das Prinzip der Auflockerung ins Zentrum der Stadtplanung gerückt. Ohne die Blockbebauung als solche aufzugeben, wurde diese mit dem Prinzip der erweiterten, begrünten Innenhöfe (statt der bisher üblichen Lichthöfe) verknüpft und sozusagen entschärft. Hören wir dazu den Experten.

„Mindestens 50 % der Grundfläche werden freigehalten; Lichthöfe werden grundsätzlich vermieden, nur in äußersten Ausnahmefällen gebaut; der Zugang zu den Häusern erfolgt über den Hof, nicht von der Straße – die Höfe sind Ausdrucksform des Zusammenhalts, durch große Eisentore geschützte Zuflucht; die Höfe werden gärtnerisch gestaltet und als Aufenthaltsraum gewidmet, Kinder sollen statt auf der Straße in den Höfen spielen. Die Hoffassaden werden so sorgfältig wie die der Straße gestaltet, um den Wert des geschützten Bereichs zu unterstreichen“ (Jahn 2014, I, Seite 20 f.)*

Goethehof, Wien Donaustadt (Luftbild 1938): @ Stadt Wien – data.wien.gv.at

Paradigmenwechsel nach 1945? Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist diesbezüglich eher ambivalent. Einerseits ist das die Zeit des Wiederaufbaus und der Erweiterung des ‚Speckgürtels‘ mit den beiden Achsen Wiental und südlicher Wienerwald-Rand, von Perchtoldsdorf und Mödling bis Baden. Man kann von dieser Epoche geradezu als dem ‚Auto-Wien‘ sprechen. Der Stadthistoriker Gottfried Pirhofer beschreibt die typische „autogerechte Stadt“ als „Produkt der internationalen Moderne“; deren Leitbilder sind „mit Mobilität verbunden und richten sich funktionalistisch gegen die gemischte, dichte Stadt, die sie durch die aufgelockerte Stadt bzw. durch Trabantenstädte zu ersetzen trachten. Im Wesentlichen kam als Ergebnis der monofunktionale Wohnbau heraus, wie wir ihn in Wien in der Großfeldsiedlung oder am Rennbahnweg haben“ (Pirhofer 2015, Seite 56). Der Trend zur ‚autogerechten Stadt‘ endete um 1980 und wurde durch eine Philosophie der Stadtsanierung bei gleichzeitiger Nachverdichtung ersetzt: Dachbodenausbauten und Hofbegrünung, die Aufwertung der Bausubstanz, des Wohnwerts und Wohnkomforts der Immobilie, beispielsweise durch eine nachträgliche Wärmedämmung, stellten und stellen aus Sicht der Stadtplanung eine Rückkehr zu kleinteiligeren, Stadtteil-basierten Wohn- und Lebensformen dar. 

Andererseits haben sich im 21. Jahrhundert die Schwerpunkte abermals verschoben; aber mit einer typischen Einschränkung. Einer Renaissance der Trabantenstadt, wie sie uns etwa im Konzept der ‚Seestadt‘ begegnet, folgt nicht automatisch die Wiederkehr der ‚autogerechten Stadt‘, sondern eine verstärkte Entwicklung in Richtung öffentliche Verkehrsmittel. Öffi-Wien statt Auto-Wien, um den entscheidenden Unterschied salopp auf den Punkt zu bringen.

Stadterneuerung, Stadtverdichtung, Smart City und ‚die Grüne Stadt‘. Wenn man den Anspruch bedenkt, der in der Bezeichnung SMART CITY steckt, sollte man keinesfalls vergessen, dass sich als Vorstufen einer solchen Entwicklung Inkubationszeiten von mehreren Jahrzehnten beobachten lassen. Die ÖKOLOGISIERUNG DER STADT nimmt schon in den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts Fahrt auf. Mit dem Konzept der Althaus- und Blocksanierung inklusive geförderter Fassadensanierungen (zur Verbesserung der Wärmedämmung) sowie Hofentkernungs- und Hofbegrünungsprojekten, Schaffung von Fußgängerzonen, Spielstraßen und einer Ausweitung des Fernwärmenetzes wird erstmals seit den innovativen Projekten der Zwischenkriegszeit wieder im großen Stil die Stadtlandschaft verändert.

In einer kritschen Phase der ‚Grünen Stadt‘? Wie es weitergehen könnte … Mit jedem neuen Anlauf zur Stadtverdichtung sind gravierende Probleme für das Grün in der Stadt zu erwarten. Bekannt und wieder im Kommen ist eine Methode der VERRINGERUNG des absoluten Grünanteils aufgrund von Verbauung, die sich hinter der ‚Behübschung‘ durch sogenannte POCKET PARKS, also pseudo-begrünte Kleinflächen, versteckt. Eine solche Restfläche nannte man früher in Wien übrigens ‚Beserlpark‘. Auf der anderen Seite bedrohen die neuen Stadterweiterungsprojekte nördlich der Donau nicht nur stadtnahe Agrarflächen, sie haben, wie es scheint, auch die lang versprochene Schließung der GRÜNSPANGE (Ergänzung des Wald- und Wiesengürtels zwischen Bisamberg und der Lobau) zum Stocken gebracht.

Eine weitere Frage, die sich gegenwärtig stellt – ob das Potenzial für Stadterneuerung und|oder Anpassung an die Klimaziele im Althausbestand aus der Gründerzeit beziehungsweise bei den Immobilien aus der Zeit des Wiederaufbaus (50-er, 60-er und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts) nicht schon ausgereizt ist. Diese Frage wird wohl endgültig erst dann beantwortet sein, wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung auch für allfällige Fördermaßnahmen (Maßnahmen zur Steigerung der Klimafitness, wie etwa Erdwärme-Projekte) sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich abgeschlossen sein wird. Und das kann dauern.

Bis die Erhaltung einer vernünftig dimensionierten Stadtlandschaft, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bebauung, Grünanteil, Verkehrsflächen und einem lebensfähigen urbanen Agrarsektor (von dessen Bedeutung man die Stadtplaner wohl noch überzeugen wird müssen) unter den neuen Voraussetzungen gesichert ist, wird wohl, wie man in Wien sagt, noch viel Wasser die Donau hinunter fließen.

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* Literatur:

Harald A. Jahn: Das Wunder des Roten Wien. 2 Bände. Phoibos Verlag: Wien 2014;

Evelyn Mandl | Ferenc Sabo: Wie Wien wohnt. Gestern | heute | morgen. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2015 Link;

Gottfried Pirhofer: Der Stadthistoriker (Interview). In: Evelyn Mandl | Ferenc Sabo: Wie Wien wohnt. Gestern | heute | morgen. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2015, Seite 54–57;

Sara MacDonald et al.: Rethinking the governance and planning of a new generation of greenbelts (2020);

Viola Rosa Semper | Charlotte Schwarz: Verlockende Oasen. Parks, Grünräume und malerische Gärten in Wien. Falter Verlag: Wien 2021;

Gabriele Hasmann | Sabine Wolfgang: Das wilde Wien. Grüne Oasen & urbane Wildnis in der Großstadt entdecken. Styria Verlag: Wien - Graz 2022

** Link: Freie Mitte | Stadtwildnis

** Das aktuelle Thema: Raus aus Gas

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Nachtrag vom 25. Jänner 2023 … Wer einen „Grünen Ring um den Ring“ will – und wer sich wieder mal ziert.

Es mutet an wie die Antwort auf eine nicht gestellte Frage. Wegen der U-Bahn-Baustelle stehen auf der sogenannten Zweierlinie (Lastenstraße) im Bereich des 8. Wiener Gemeindebezirks derzeit nur zwei Fahrspuren zur Verfügung. Standen vor Baubeginn von der insgesamt 41 Meter breiten Verkehrsfläche gleich 18 Meter – fast ein Drittel – dem Automobil zur Verfügung, während sich Grünflächen, Rad- und Gehwege mit dem Rest zu begnügen hatten, muss sich der vierrädrige Götze jetzt mit lediglich einer Spur pro Fahrtrichtung begnügen. Und siehe da – das gebetsmühlenartig befürchtete Verkehrschaos war ausgeblieben, der Verkehr verminderte sich um 50 Prozent. „Guat is‘ gangen, nix is‘ g‘schehn“ …

Die Wiener Grünen, deren ökologisches Verantwortungsbewusstsein merklich gestiegen ist, seit sie aus der Stadtregierung geflogen sind, sehen „hier keine Baustelle, sondern eine historische Chance“ (Parteichef Peter Kraus anlässlich der Präsentation einer Studie zur klima- und bürgerfreundlichen Umgestaltung des derzeitigen Baustellenbereichs). Das gestern vorgestellte Projekt geht davon aus, dass es auch in Zukunft bei jeweils einer Fahrspur bleibt; die Versiegelung soll von derzeit 84 auf 72 Prozent gesenkt und der gewonnene Raum mit 8.000 m2 neuer Grünfläche aufgewertet werden, sodass sich der Grünanteil im Bezirk von 16 auf 27 Prozent erhöhen würde. Der für das vorgestellte Projekt verantwortliche Studienautor Rupert Halbartschneider betont die Bedeutung rechtzeitigen Handelns und gezielter Vorbereitung – für ein Projekt dieser Größenordnung („aus einem Guss“) müsse man zeitnah alle Beteiligten an einen Tisch bringen.

Nun ja. Die Reaktion der Anderen ist erwarteter Weise überschaubar. „Die SPÖ steigt auf die Bremse“ (KURIER vom 25.1.2023). Zur Zeit scheint Grünpolitik, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, bei den Regierenden nur dann interessant zu sein, wenn sie mit möglichst viel Einsatz von Technik und Beton zustande kommt. Das Pflanzen von Bäumen (im gegenständlichen Projekt immerhin stolze 358 Stück) schafft halt weniger Arbeitsplätze.

Und zusätzliche Einnahmen (ich meine natürlich Steuern, nicht Wahlspenden – was habt ihr denn gedacht?) generiert es auch nicht.  

Als ich unlängst von der Absberggasse im 10. Bezirk zum Stephansplatz spazierte, wurde mir auf verblüffende Weise etwas klar. Praktisch die ganze Strecke legte ich unter Bäumen zurück. Der Weg führte mich vom neuen Helmut Zilk Park im Sonnwendviertel durch das Arsenal mit seinem herrlichen alten Baumbestand zum Schweizer Garten, dort machte ich einen Abstecher in den Barockgarten des Belvedere, von wo es – nach einem stärkenden Zwischenstopp im Bierlokal des Schwarzenberg Parks – weiter ging.

Der nächste Halt galt leider keinem Musterbeispiel für umweltbewussten Urbanismus – im Gegenteil. Beim Betreten des Schwarzenbergplatzes erwartete den müden Wanderer eine veritable ökologische Ohrfeige, beziehungsweise nein, es muss anders heißen. Die Ohrfeige ist dem großen Platz am Fuße des kleinsten Weingartens Wiens seinerzeit verpasst worden vom spanischen Architekten Alfrede Arribas, der ihn in den Jahren 2002–2003 zum weitläufig bodenversiegelten, plump auftrumpfenden Hitzepol-Monster 'gestylt' hat. Eine umweltpolitische Respektlosigkeit, die mir beim Anblick des Hochstrahlbrunnens (eingeweiht zu Ehren der 1. Wiener Hochquell-Wasserleitung) gleich noch einmal so ärgerlich wurde. Kein Ort, um zu verweilen. Nach einer weiteren baumlosen Durststrecke wartete endlich die edel belaubte Doppel-Allee der Ringstraße auf mich, von wo es nur mehr ein Katzensprung war zum Stephansdom mit seinem an die Seitenwand angelehnten – nomen est omen – Götterbaum.

Eine Option wäre auch der Umweg über den Rennweg hinauf zum Botanischen Garten gewesen, von dort durch die Ungargasse zum Stadtpark, dann ein kurzer Blick – nein, nicht auf den Herrn Lueger sondern auf die majestätische Platane dahinter. Den unvermeidlichen Schlusspunkt würde dann das in Ehren ergraute Künstler-, Intellektuellen-, Touristen- und Pensionistencafé Prückel gebildet haben.

„Schon merkwürdig,“ dachte ich beim Gehen, „wie das Klischee von der Wirklichkeit eingeholt wird.“ Zum Rhythmus der Schritte gesellte sich im Schädel ein Mantra-artiges „Grünes Wien, Grünes Wien …“ Anscheinend ist dieses Mantra in der kulturellen DNA meiner Heimatstadt fest verankert. „Im Prater blüh’n wieder die Bäume…“;  „Wenn der weiße Flieder wieder blüht…“;  „Drunt‘ in der Lobau …“ Und wo ließen die Proletarierinnen und Proletarier ihren ersten Maiaufmarsch stattfinden? Erraten – im Prater.*   

Gartenstadt trifft Aufklärung. Im 18. Jahrhundert erhob sich ein vielstimmiger Chor, der sein teils wohlklingendes, teils kakophonisches Lied vom neuen Menschen erschallen ließ. In diesem Lied schwangen auch neuartige Naturlaute mit. Was John Locke und David Hume, Adam Smith und die Physiokraten,* Diderot, Voltaire, Rousseau und die übrige enzyklopädische Gang theoretisch erörterten, fand als Aufgeklärter Absolutismus („Alles für das Volk, nichts durch das Volk“) seinen aristokratisch-praktischen Niederschlag.

In Wien sah das dann so aus, dass die Herren der Barockstadt ihre Gärten auch den Untertanen zur Verfügung stellen zu sollen meinten. Allen voran der Kaiser. Ohnehin kein Freund der Jagd, öffnete er die herrschaftlichen Reviere Prater und Augarten dem p.t. Publikum umso lieber, als dieses respektvoll, gesittet und höflich – gewissermaßen mit ständig gezogenem Hut – den von allerhöchster Stelle angebotenen Naturgenuss in Empfang nahm. Oben wie unten war man aufgeklärt, will heißen: Vom Wert der Natur für Moral, Ernährung und Volksgesundheit überzeugt.

Als einen „Schätzer“ der Menschheit ließ sich Joseph II. auf der Gedenktafel am Eingang zum Augarten feiern. Diese neue Wertschätzung der Natur als Teil der Wertschätzung des Menschen musste sich in Wien die Schauplätze dafür nicht erst schaffen; die Barocke Gartenstadt, eingebettet zwischen Wald- und Wasserlandschaft, verfügte über jede Menge unverbauter Räume, die sich zu obrigkeitlich verordneter volkshygienischer Nutzung anboten.

Aufklärung trifft Romantik trifft Sozialreform. Bezüglich Sehnsucht der Wienerinnen und Wiener nach Grün ließ sich die Barocke Gartenstadt ohneweiteres mit physiokratischen Erkenntnissen und romantischen Gefühlen verbinden. Eine solcherart gefestigte Tradition erweist auch im beginnenden Biedermeier, nach den aufwühlenden Erfahrungen der Napoleonischen Kriege ihre Beharrungskraft. Und das auch kulturell überhöht – von Schuberts nicht nur im häuslichen Freundeskreis sondern auch in freier Natur dargebotenen Liedern bis zu Beethovens Pastorale, wo die Natur nicht als Hintergrund von Landpartien sondern als sie selbst verherrlicht wird.  

Was das ‚Grün in der Stadt‘ betrifft, so lassen sich in der Donaumetropole drei Schichten – drei historische Erneuerungs- und Verbesserungsschübe in Richtung ökologisch ausgewogener städtischer Umwelt entschlüsseln:

Im 5- bis 10-jährigen Rhythmus während der ‚aristokratischen‘ Phase, im 10-jährigen während der ‚bürgerlichen‘ Phase beziehungsweise im Abstand von 10 bis 20 Jahren seit der ‚proletarischen‘ Ära beobachtet man eine zwar langsamer werdende, doch niemals ganz zum Stillstand kommende, kontinuierliche Begrünungspolitik im urbanen Raum:

Adel verpflichtet

1766 Prater

1775 Augarten

1779 Schlosspark Schönbrunn

Die Gärten der Bürger

1819–23 Volksgarten

1857–65 Stadtpark, Rathauspark

1871–74 Errichtung des riesigen Zentralfriedhofs

1888 Türkenschanzpark

1905 Wienerwald unter Schutz gestellt

1906 Einweihung des Schweizer Gartens

1919 Öffnung des Lainzer Tiergartens

Das grüne Rote Wien

1935 Kauf des Pötzleinsdorfer Schlossparks**

1957 Kauf des Schwarzenbergparks

1967, 1974 Internationale Gartenschau WIG

1972–1988 Errichtung der Donauinsel

2003 ff. Seestadt, Sonnwendviertel, Stadtwildnis Wien & Co.

Sprießendes Grün. Bemerkenswert ist der Zuwachs an öffentlichem Grün im verbauten Stadtgebiet. Von 1819 bis 2020 wuchs Wiens Parklandschaft jährlich um rund 12 Hektar, das sind rund 17 Fußballfelder. Von jedem beliebigen Punkt der Stadt beträgt die weiteste Distanz zur nächsten größeren Grünfläche im Durchschnitt drei, maximal fünf Kilometer. 

Noch ein Wort zur GRÜNEN POLITIK DES ROTEN WIEN. Auch da lebt die Longue durée, die Lange Dauer der Barocken Gartenstadt und des Aufgeklärten Absolutismus in gewisser Weise weiter. Im Gemeindebau der Zwischenkriegszeit herrschte das sozialdemokratische Credo mit seinen drei Grundsätzen Naturverbundenheit, Bildungsbeflissenheit und Gemeinschaftssinn. Sodass man geradezu vom Roten Wien inmitten einer bäuerlich-kleinbürgerlichen Umgebung sprechen könnte … Aber wen wundert’s? Hatten doch nicht wenige Wiener Proletarier immer noch Verwandtschaft auf dem Lande. Aber statt in die Kirche und anschließend zum Kirchenwirt ging man Sonntags – in die Lobau … in den Wienerwald … nach Sievering zum Heurigen. 

Zeitgeist. Wenn wir die Ökologisierung der Millionenstadt Wien im 19. und 20. Jahrhundert wirklich verstehen wollen, müssen wir unseren Blickwinkel erweitern und uns ansehen, welche umweltpolitischen Forderungen und Folgen die Weltanschauung anderswo hervorbrachte:  

Ökologisierung des Lebens in der Stadt

1742 Öffnung des Tiergartens Berlin für die Bevölkerung

1783 Bois de Boulogne für das Pariser Publikum geöffnet

1851 Weltausstellung im Hyde Park, London

1859 Eröffnung des Central Park, New York

Naturgenuss

1862 Österreichischer Alpenverein

1863 Schweizer Alpen-Club

1869 Deutscher Alpenverein

1895 Aufruf in der ‚Arbeiter-Zeitung‘ zur Gründung der Naturfreunde Österreichs

1896 Gründung der Wandervogelbewegung

1912 Erste Pfadfindergruppe Österreichs in Wien

1925 Rote Falken in Wien

Wiederum fällt auf, wie nahtlos sich die Österreichische Sozialdemokratie (in ihren urbanen Stützpunkten, den Industriegebieten und den großen Städten) dem ideologischen Gesamtbild einfügt und ein letztlich in der Romantik wurzelndes Naturverständnis weiter pflegt und hochhält. So entsprechen dem bürgerlichen ‚Alpenverein‘ die proletarischen ‚Naturfreunde‘; auf die bürgerlichen Jugendbewegungen ‚Wandervögel‘ und ‚Pfadfinder‘ antwortet die Sozialdemokratie umgehend mit ihrer eigenen Wandervogel-Bewegung, den ‚Roten Falken‘. Der kleinbürgerlichen Reformbewegung, den Gartenstädten und Reihensiedlungen wird mit dem Dorf-in-der-Stadt-Konzept namens Gemeindebau entgegengetreten. Dieses kann nämlich ebenfalls als ‚Wohnen im Grünen‘ gelesen werden …  natürlich minus 'BÜRGERLICHER INDIVIDUALISMUS' und zuzüglich 'PROLETARISCHE SOLIDARITÄT'. (Wird fortgesetzt)

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* Anmerkungen:

Erster Maiaufmarsch. Das war im Jahr 1890. Weil die Behörden jede Kundgebung vorab untersagt hatten, organisierte die sozialdemokratische Führung einen – Praterspaziergang. Etwa 100.000 Menschen nahmen daran teil.

Physiokraten. Mitglieder einer von François Quesnay (1694–1774) gegründeten ökonomischen Schule, welche die Natur als einzige Quelle des Volkswohlstandes ansah (physiocratie, wörtlich ‚Kraft der Natur‘).

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** Anmerkung Pötzleinsdorfer Schlosspark. Ja, auch wenn die Rote Stadtregierung 1934 nach der Niederschlagung der Schutzbunderhebung abgesetzt war, der Geist der  kleinbürgerlich-proletarischen Reformbewegung lebte weiter.