Welt-Allmende

Gottfried Liedl am 9. Januar 2023

Siehe auch BLOG # 10 vom 1. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann“; sowie BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2“.

In unserer gegenwärtigen Weltordnung hat nur dasjenige einen Wert, erfreut sich nur dasjenige eines Rechts auf Schutz und Schonung, was „jemandem gehört“. Wobei Letzteres noch weiter präzisiert werden muss: Dass mir „etwas gehört“, darf ich, genau genommen, nur behaupten, wenn ich der Eigentümer dieses ‚Etwas‘ bin; etwas bloß zu besitzen reicht nicht aus, um vor dem Hohen Gericht der kapitalistischen Ordnung zu bestehen. Das zeigen die unzählbaren Fälle einer rücksichts- und sanktionslosen Enteignung von Besitzern vermeintlich ‚herrenloser‘ Güter, wie sie uns als Geschichte einer sogenannten Zivilisation vulgo Eroberergesellschaft bis zum Abwinken überliefert worden sind.

„Ja, aber es wäre doch schön, wenn Menschen das Seiende bedingungslos wertschätzten und respektierten – gewissermaßen als es selbst!“ – „Genau: es wäre schön …“ Wovon das imaginäre Zwiegespräch handelt, ist exakt unser Thema – die Allmende, etwas, das ‚allen‘ gehört und daher von ‚allen‘ respektiert zu werden hat. Nimmt man den Begriff ernst, denkt man also beim Wort „alle“ tatsächlich an alle Menschen – an die Menschheit, wenn der pathetische Ausdruck gestattet ist –, dann landet man unweigerlich dort, wovon mein heutiger Beitrag handelt: bei der Welt-Allmende. Ein großes Wort – das uns eine Menge Arbeit macht. Definitionsarbeit, versteht sich.

Die Welt-Allmende, ein Definitionsversuch. Die geneigte Leserin, der geduldige Leser mögen mir gestatten, den Eingangs gesponnenen Gedankenfaden wieder aufzunehmen und zu fragen, was man damit meint, wenn man sagt, etwas sei ein herrenloses Gut. Niemandem zu gehören kann ja per se nicht schlecht sein – haben wir doch gelernt, dass Unabhängigkeit ein Synonym sei für Freiheit. Was aber, wenn es sich dabei um eine ganz spezielle Spielart von ‚Freiheit‘ handelt – um Vogelfreiheit? Das gute deutsche Wort bezeichnet eine Freiheit, die dem Vogel, der sie hat, alles andere als Glück bringt. Es meint das Recht jedes Beliebigen, besagten ‚freien Vogel‘ zu verfolgen, zu fangen und nach Lust und Laune zu behandeln, in letzter Instanz: zu töten. Dieser ‚freie Vogel‘ war zu Zeiten, als das Wort entstand, ein echter Vertreter unseres Untersuchungsgegenstandes. Er war eine typische Allmende.

Ein erster Schluss könnte lauten – und tatsächlich wurde er auch massenhaft gezogen: Was niemandem gehört, ist vogelfrei, sprich zu jedermanns sanktionsloser Verfügung. Was niemandem gehört, gehört also nur theoretisch allen, praktisch demjenigen, der schnell genug ist, den freien Vogel allen anderen wegzuschnappen.

„Wie ärgerlich ist das denn! Was allen gehört, gibt es in Wirklichkeit gar nicht? Nur der Möglichkeit nach? …“ – „Du sagst es … und bist damit in bester Gesellschaft. In Gesellschaft jener nämlich, die schon immer behauptet haben, die Allmende sei eine haltlose Vorstufe zu dem, was einzig Bestand hat: Privateigentum.“* – „Es sei denn, wir weisen den Verfechtern des Privateigentums nach, dass sie selbst gar nicht wollen können, was sie als Idealzustand behaupten: dass jedes Phänomen von Wert, um von Bestand zu sein, einen Eigentümer haben muss.“ – „Du denkst an die Luft zum Atmen?“ – „Zum Beispiel.

Drei Bereiche, die keinem Einzelnen gehören dürfen, wenn sie ihrer Bestimmung gerecht werden sollen. So könnte es Kant formuliert haben. Wir anderen, eher pragmatisch Denkenden, reimen uns die drei kritischen Bereiche aus der Lebenserfahrung zusammen (mit Hilfe des Gesunden Menschenverstandes). Dass die Aufzählung vollständig sei, behaupten wir freilich nicht.

  • Erster Bereich – Sphäre der Lebenselexiere. Atemluft, Trinkwasser und alles, was die Erde fruchtbar macht, können in keines Einzelnen ausschließlichem Eigentum stehen – dann nämlich, wenn Privateigentum so definiert ist, dass ich damit verfahren kann, wie es mir beliebt. Niemand, der logisch denkt, kann ernsthaft wollen, dass es Einzelnen erlaubt sei, mit Atemluft, Trinkwasser und Frucht bringendem Mutterboden zu tun und zu lassen, wie es ihnen beliebt. Ein Verrückter mit Allmachtsphantasien könnte auf so manchen Einfall kommen.
  • Zweiter Bereich – Sphäre der Lebewesen. Dass die Sklaverei ein Widerspruch in sich sei, hat mittlerweile den Stellenwert einer Binsenweisheit. Nicht dass sich die Menschheit auch praktisch-politisch daran hielte; aber dass Glück, Gesundheit, Gleichheit, Sicherheit und Freiheit Menschenrecht – in anderen Worten: Welt-Allmende – seien, dem offen zu widersprechen, fällt nur mehr den Wenigsten ein. So weit, so ‚gut‘ … Was aber ist mit den anderen Lebewesen? Den Pflanzen, den Tieren? Je näher sie dem Menschen stehen (was eine Definitionsfrage ist), desto mehr werden sie an oben genannten Rechten partizipieren. Heute sind sie immer noch beides – Zweck (Selbstzweck) und Mittel. Anstatt an der Welt-Allmende, deren Segnungen genießend, zu partizipieren, stellen sie als „Naturgegenstände“ selbst – und das auch nur im Idealfall – Welt-Allmenden dar. Idealfall heißt: Wer auf der Roten Liste steht (wessen Ende als Individuum zugleich das Ende seiner Art bedeuten würde), gilt als dem Privateigentum vorerst entzogen. Unter diesem Aspekt kann das Lebensrecht der Art als Teil der Welt-Allmende angesehen werden (oder sollte es wenigstens nach dem Willen derer, die die Roten Listen führen, sein).

Das gilt auch hinsichtlich der Schönheit von Natur. Nicht nur weil sie Fischstäbchen liefern, sind die Meere unser aller Erbteil (was schon wieder pathetisch formuliert, deswegen aber nicht falsch ist). Und Wale, die größten Lebewesen, welche jemals auf dem Blauen Planeten gelebt haben, sollten überhaupt keinem Nützlichkeitskalkül unterliegen; sie sind – mit Kant zu reden – erhaben; grandiose Vertreter dessen, was der Philosoph aus Königsberg das „Naturschöne“ genannt hat. Dass Zugvögel (und andere wildlebende Tiere) schon per definitionem kein Privateigentum sein können, scheint zwar akzeptiert, und die Öffentlichkeit in Gestalt des Staates zeigt hier mit mehr oder weniger großem Nachdruck Verantwortungsbewusstsein … Allerdings, eine echte Welt-Allmende sind sie nicht.** Auch das sogenannte Weltnaturerbe der UNESCO „tut ja nur so, als ob“. Mangels gesetzlichen Durchgriffsrechts nämlich.

  • Dritter Bereich – Sphäre der Kultur als Phänomen und Lebenselexier. Man denkt dabei an jene eindrucksvollen Ensembles, wie sie als UNESCO Weltkulturerbe aufgelistet, wiewohl kaum geschützt sind. Wozu auch Kulturgegenstände zweiter Ordnung zählen, beispielsweise Landschaften; aber auch Lebensweisen und alle Formen des spezifschen Umgangs mit Natur.

Nachsatz und Resümee. Die hybriden Formen des Umgangs mit Natur, wie sie dem Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheinen – Ergebnis ist ein Kultur- respektive Naturgegenstand zweiter Ordnung – erlauben es, Kunstschönes und Naturschönes in einem Atemzug zu nennen. Kunstschönes und Naturschönes sind die beiden Seiten ein- und derselben Medaille. Ein Text in zwei Sprachen, die sich ständig ineinander übersetzen.

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*Literatur:

Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons. In: Science 13 Dec 1968, Vol. 162, Issue 3859, 1243–1248;

Elinor Ostrom: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge University Press: Cambridge – New York – Melbourne – Madrid – Kapstadt 1990

** Anmerkung:

Wie weit man noch davon entfernt ist, den natürlichen Reichtum als Welt-Allmende zu verstehen – geschweige denn sich zu durchschlagskräftigen Maßnahmen aufzuraffen –, zeigt ein Blick in unseren eigenen europäisch-mediterranen Vorgarten. Nicht nur stehen „Neptuns Gärten“ selbst durch Küstenverbauung, Meeresverschmutzung und Überfischung unter größtem Druck, auch im Luftraum darüber und an seinen Gestaden ist das Mittelmeer Schauplatz einer rücksichtslosen, nein: ruchlosen Plünderung. Plünderung dessen, was mit Fug und Recht eine Welt-Allmende genannt zu werden verdiente … und wenn nicht das, dann doch Allmende der Europäerinnen und Europäer. Vor den Augen besagter Europäerinnen und Europäer werden von Geschäftemachern und ihren sich selbst wohl zu ‚armen Hungerleidern‘ hochstilisierenden sogenannten ‚Jägern‘ in Malta, Zypern, Syrien, Libanon und Ägypten jährlich mindestens 25 Millionen Zugvögel illegal geschossenen oder gefangen.

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