Dazu auch BLOG # 40 vom 22. März 2024: „In Bauernkriegen siegen selten die Bauern“; BLOG # 29 vom 5. Juli 2023: „Sind Förster die besseren Bauern? Bundesforste, Bär & Co“; BLOG # 23 vom 18. März 2023: „Sagt nicht 'Bauern' zu ihnen...“
Wenn man als Gradmesser von „Naturbelassenheit“ das Ausmaß und die Intensität menschlicher Eingriffe und landschaftlicher Veränderungen hernimmt (gegenüber einem denk- bzw. vorstellbaren Zustand, wie er sich – theoretisch – ohne Anwesenheit des Menschen herausgebildet haben würde), so stellt sich der von Deutschsprachigen bewohnte Alpenraum als erstaunlich, um nicht zu sagen erschreckend ÜBERAUSGEBEUTET heraus. Das schlägt sich nicht zuletzt in der Mentalität der lokalen Bevölkerung nieder, welche – und das ist historisch gut belegt – schon immer durch große Intoleranz gegenüber scheinbarer oder tatsächlicher Konkurrenz seitens der anderen, wild lebenden Nutzer der montanen oder submontanen Biotope aufgefallen ist. Besonders bezeichnend: der Hass und die Vernichtungswut dieser deutschsprachigen Bergbewohner gegenüber tierischen Beutegreifern (Adler, Wolf, Bär, Luchs), aber auch so harmlosen, ja nützlichen Mitlebewesen wie den Geiern, vom Jagdwild ganz zu schweigen (trauriges Beispiel: der von diesen Bergbewohnern ausgerottete Alpensteinbock).
Dagegen sind vergleichbare Landschaften, etwa des mediterranen Südens, aber auch die ebenfalls nicht von Deutschsprachigen besiedelten Balkanländer bzw. Länder Osteuropas erstaunlich „naturbelassen“ oder doch durch ziemlich naturverträgliche Nutzungsformen geprägt und ausgezeichnet, inklusive einer interessanten Koexistenz von Mensch und Beutegreifer. Deutlich wird der kulturelle oder sozusagen ethnische Aspekt dieser Unterschiede dort, wo der Alpenraum nicht von Angehörigen des, wie er genannt sei: mitteleuropäischen Kulturkreises sondern von Menschen besiedelt und genutzt wird, die der romanisch-mediterranen Zivilisation angehören. Um den hier gemeinten Zusammenhang plakativ herauszuarbeiten: Wo hatte sich der im übrigen Alpenbogen ausgerottete Steinbock denn erhalten? Im nordwestlichen Italien, oberhalb des romanisch-mediterran geprägten Aostatals, in einer hochalpinen Region, die den ebenso schönen wie passenden Namen „Gran Paradiso“ trägt...
Bösartige Kommentatoren könnten die Sache so darstellen, dass das Signum „deutscher Tüchtigkeit“ (und, wie Andere das Argument rassistisch ausweiten könnten, der „germanischen“ Mentalität) DIE ÜBERAUSGEBEUTETE NATUR IST.
Was ist diesen „Germanen“ im Lauf ihrer Geschichte zugestoßen, das so einschneidend, so prägend war, um aus barbarischen Naturanbetern manchmal fanatische, in jedem Falle aber fleißige Naturzerstörer zu machen? Die müde Antwort des aufgeklärten Philosophen: „Christentum und Feudalgesellschaft...“
„So lakonisch kann man das nicht stehen lassen!“ – „Sie haben recht. Das bedarf einer Erklärung. Wofür ich wohl ein wenig ausholen muss.“ – „Ihre Umwege kennen wir, daran sind wir schon gewöhnt. Holen Sie ruhig aus.“
Auf der Ebene des Individuums. Was es genauer anzusehen gilt, ist der Gegensatz von Arbeit unter Aufsicht und Arbeit in Eigenverantwortung. Es geht um den Begriff des Arbeitsstolzes, um das Ethos des hart Arbeitenden. Wo wir gleich einmal auf ein interessantes Faktum stoßen: Der Begriff „Schinderei“ kommt aus der alpinen Holzfällersprache und bezieht sich ursprünglich auf die Bearbeitung und Zurichtung gefällter Bäume ...
Nochmals der Gegensatz von Arbeit unter Aufsicht und Arbeit in Eigenverantwortung – wobei man auch die alpine Viehwirtschaft gleich ein wenig besser versteht. Nämlich insofern, als es dort schon immer eine Spannung gab zwischen (relativer) Freiheit und (indirekter) Kontrolle, letztere also verinnerlicht, als Selbstkontrolle, als sozusagen freiwillig auf sich genommene, stolz zur Schau getragene „Schinderei“.
Diese vielleicht aus dem System der Hörigkeit heraus ein wenig besser zu begreifende, fast schon romantische „Verherrlichung des Arbeitsleides im alpinen Selbstbild“ (wie man die Sache in zuspitzender Manier beschreiben könnte) überträgt soziale Verhältnisse auf die Beziehung zur Natur, welche dann vom arbeitenden Individuum vor allem als Ort der „Schinderei“ aufgefasst wurde, nicht als Ort freier Entfaltung; letzterer blieb – ganz ohne Romantik, als Prärogativ ihrer Macht – den Herrschenden vorbehalten. So wurden die Alm, die Alpe, der viel besungene „grüne Forst“ über ihre wirtschaftlichen Funktionen hinaus zum Schauplatz und Austragungsort einer sich gesellschaftspolitisch entladenden Spannung. „Auf der Alm, da gibt's koa Sünd“, dort, wo kein Pfarrer der Sennerin den Schatz madig macht, wo der Herzbube alias „Freischütz“ als folkloristischer Repräsentant der Menschenrechte auftritt...
Mit der Natur? Gegen die Natur? (Nicht) auf den Hund gekommen... Was die (feudale) Herrschaft und ihren prägenden Einfluss auf eine „Mentalität des Naturhasses“ betrifft, so hatten wir ja oben das Thema im Vorübergehen schon gestreift. Natur, wilde Natur ist eine Spielwiese der Herren, eingehegt von rigorosen Verboten und gekennzeichnet durch Entrechtung, Enteignung der einfachen Leute. Überall wird dem Landvolk der freie Zutritt zu den Naturschätzen erschwert, was ehemals Allmende war, Gemeineigentum, wird jetzt – ein Problem. Da schließt sich auch der Kreis zum Thema Neid oder, in naturkundlicher Diktion: zur Konkurrenz der Beutegreifer.
„Und was hat der Hund damit zu tun?“ – „Nicht wenig.“ Symptomatisch für den Hass der Landbevölkerung auf Wildschwein, Bär & Wolf (und auf die Hohen Herren als „Beschützer“ von Wildschwein, Bär & Wolf), ist das Unvermögen, Kompromisse mit der ungezähmten Natur zu schließen. Schuld daran ist ein nur oberflächlich betrachtet ‚kleines‘ Detail – wir sprechen immerhin vom wichtigsten Aspekt alpiner Landschaft, dem lieben Vieh und seinen menschlichen Begleiterinnen und Begleitern –, das Fehlen guter Herdenschutzhunde. Die Feudalherren hatten ihren Untertanen die Haltung dieser gefährlichen, weil wehrhaften Hunde genauso verboten wie das Tragen von Waffen! Damals wie heute gibt es weder in den Alpen noch im übrigen Zentraleuropa irgendeine nennenswerte Rasse echter Herdenschutzhunde, ganz im Gegensatz zu Osteuropa und der Méditerranée. Ohne Herdenschutzhunde – deren Zucht und Haltung nur auf Basis spezifischer fachlicher Kenntnisse und Traditionen erfolgreich ist, ganz zu schweigen von der Kostenfrage – gibt es aber keine naturnahe, naturverträgliche, die Existenz großer Beutegreifer einschließende Viehhaltung.
Die „Urprägung“. Nicht den unwichtigsten Beitrag zur Naturferne hat die Feudalordnung im Stadium ihrer Industrialisierung geleistet; die sie ja nur politisch nicht überlebte, denn wirtschaftlich hat die herrschende Klasse enorm von ihr profitiert. Mit diesem Aspekt bekam die mentale Prägung auf eine Kultur der Naturverachtung bei der Landbevölkerung ihren letzten Schliff. Der Geringschätzung trat jetzt verschärfend zur Seite ein KULT DER ÜBERAUSBEUTUNG, „Effizienz“ genannt. All das erfolgte auf Basis und vor dem Hintergrund einer noch viel allgemeineren „Umwertung der Werte“. Ereignet hatte sich diese Umwertung in den Tiefen der Zeit, lang vor der Apotheose des Feudalsystems. Die Verteufelung der Natur erfolgte nicht spontan und nicht allmählich, auch nicht bottom up sondern top down; im Zuge einer veritablen Kulturrevolution ist sie Germanen und anderen mitteleuropäischen Eingeborenen von christlichen Kolonisatoren aufs Aug gedrückt worden.
Naturliebe und ökologisches Problembewusstsein des regierenden Papstes wären vor 800, 900 oder 1000 Jahren auf blankes Unverständnis nicht nur der Schäfchen sondern auch ihrer Hirten gestoßen. Symbolisch geredet: In den Klöstern der die Wälder rodenden Zisterzienser war der Wolf kein Thema. Nur der heilige Franz von Assisi hat ihm eine Predigt gehalten. Wie mediterran.
Symbolisch geredet: „Die Schäfchen des heutigen Papstes sind gewiss klüger als jene, denen Zisterzienser Fleiß und Gehorsam predigten.“ – „Wer weiß? Vielleicht, wenn sie nicht beim Bauernbund sind ...?“ Symbolisch geredet, versteht sich.
PS zum Hass der Transalpinen (vom Süden aus gesehen) auf Wolf, Bär und Luchs … Vielleicht ist dieser „Hass“ bei den mediterranen Tierhaltern ja per se nicht geringer; vielleicht hat ja bloß die spezifische historische Lage, jene Kombination aus Agrarrevolution, Bevölkerungsexplosion und Überausbeutung der Wälder nördlich des Alpenhauptkamms dazu geführt, dass ein eingespieltes, labiles Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Naturnutzern gekippt ist … und sich besagter „Hass“ quasi als psychologischer Reflex auf die Zunahme des zwischenartlichen Stress herausgebildet hat.
Im „Süden“ waren die Wälder und vergleichbare andere Rückzugsgebiete der großen Beutegreifer viel weniger im Fokus einer Siedlungspolitik (ich sage aber nicht, dass sie weniger ausgebeutet wurden) - und der Clash of Civilizations hielt sich in Grenzen. Da konnten aber auch uralte Freiheitsrechte – etwa die Allmende einer unbeschränkten Jagdausübung – weiterhin ausgeübt werden. Auch ein bezeichnender Unterschied zwischen „Norden“ und „Süden“ – das nur als Anmerkung.
Mit der Häufigkeit ungewollter, unangenehmer Kontakte zwischen den Konkurrenten Beutegreifer | Mensch steigt natürlich auch die psychologische Spannung. Noch anders gesagt: In vielen hundert Jahren (post-)neolithischer WALDWIRTSCHAFT hatte sich eine Convivencia zwischen Tier und Mensch eingespielt, die in der (hoch-)mittelalterlichen Agrarrevolution so rasch zerbrach, dass keinem der Beteiligten genügend Zeit blieb, sich umzustellen und in einen neuen Gleichgewichtszustand zu finden. Im Süden hingegen blieb das uralte, eingespielte Muster der Grauzonen und (halb)durchlässigen Grenzen zwischen AGER UND SALTUS intakt. Die tierischen und menschlichen „Fronterabewohner“ (Frontera ist die romanische Bezeichnung für eine durchlässige Grenze, eine Grauzone) hatten gelernt, miteinander auszukommen (oder hatten zumindest ausreichend Platz, einander aus dem Weg zu gehen). In so einer Konstellation machen Herdenschutzhunde freilich Sinn – womit wir auch dieses strittige Thema … sagen wir abgehakt hätten.