Wie schädlich ist ‚schädlich'? Noch einmal Noxious Wildlife

Gottfried Liedl am 9. August 2023

Das war ja zu erwarten gewesen. Wegen „Bagatellisierung des Artensterbens“ – so ein aufgebrachter Naturfreund, dem meine harsche Kritik am Begriff Noxious Wildlife, ‚Schädling‘, zu weit ging – wurde ich ordentlich gebasht. And rightly so. „Wie – du gibst ihm recht?“ – „Ja. Beziehungsweise: nein. Also irgendwie.“

Natürlich haben die Argumente derjenigen, die das Gefahrenpotenzial betonen, wie es unkontrolliert verbreiteten nicht-einheimischen Arten innewohnt, einiges für sich. Die Ausrottungsgeschichte zeigt aber, dass es in erster und letzter Instanz nicht die ‚schädlichen‘ Arten als solche waren und sind, welche ein vorgefundenes ökologisches Gleichgewicht stören oder gar zerstören, sondern die Menschen, die den Neuankömmlingen den Einstieg ins Ökosystem erst ermöglicht haben.

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wie groß, wie definitiv ist der angerichtete Schaden? Zweitens: Lässt er sich wiedergutmachen – und um welchen Preis?

„Geschichte lebt.“ Von der bloß scheinbaren Stabilität der Ökosysteme. In meiner Schulzeit gab man uns ein Buch zu lesen, das trug den Titel „Geschichte lebt“. Darin wurde die Hypothese aufgestellt, dass Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken. Nicht jedem Ereignis wohnt die Kraft der Fernwirkung inne, nur Schlüsselereignisse verfügen über sie. Nach solchen ‚besonderen Voraussetzungen‘ gilt es also zu suchen im Rahmen ökologiehistorischer Fragestellung – getreu der Maxime: „Vor den Schlussfolgerungen das Verstehen, vor dem Verstehen die Analyse.“

Das gilt auch für die Ausrottungsgeschichte. Wann, wo und unter welchen besonderen Umständen wirken sich Umwelt-verändernde Akte des Homo sapiens auf das Netzwerk des Lebens aus – und wie einschneidend, wie nachhaltig, wie umfassend, wie folgenschwer sind sie? Zweitens der Versuch, zu verstehen: Nicht überall sind die Auswirkungen ein und desselben Eingriffs gleich einschneidend, nachhaltig, umfassend, folgenschwer. Daher drittens der Akt des Schlussfolgerns: Wenn es keine einheitlichen Regeln zu geben scheint, nach denen sich das Drama der Umweltveränderung überall und zu allen Zeiten identisch zeigt – und zu diesem Schluss kommen Historiker, Historikerinnen unweigerlich, sobald sie sich beobachtend durch Zeit und Raum bewegen –, kommt auch in der Ausrottungsgeschichte nur selten vor, was Marcel Mauss (1872–1950) ein Fait social total genannt hat, ein in sich abgeschlossenes Ereignis mit eindeutiger, vorhersagbarer und feststehender Wirkung hinsichtlich des Ganzen und all seiner Teile (Marcel Mauss: Die Gabe / Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaiques Link).

Es kommt nicht nur darauf an, was, sondern auch wo es geschieht. Von der ökologischen Divergenz.  Impact ist nicht gleich Impact. Seit dem kreativen, Ökologie-affinen Ansatz des Amerikanisten Alfred W. Crosby (1931–2018)* hat sich der Blick geweitet. Bis dahin unbezweifelte Annahmen erscheinen in neuem Licht. Vor allem die sogenannte Entdeckungsgeschichte, die man besser Eroberungsgeschichte nennt und von der die Ausrottungsgeschichte ein wichtiger Zweig ist, hat sich gegen die Verlockungen und Versuchungen des Determinismus („wie es kam, so musste es kommen“) ein Stück weit immunisiert.

Crosby konnte zeigen, dass sich ein und derselbe faktenhistorische Vorgang – zum Beispiel die Eroberung eines Territoriums – in der Alten Welt ganz anders vollzieht als in der Neuen Welt nach deren ‚Entdeckung‘ durch die Europäer: nämlich unter ökologischen und epidemiologischen Aspekten genau konträr. In diesem, wie Crosby ihn nennt, Columbian Exchange (Austausch von Menschen, Tieren und Pflanzen „ab der Zeit des Columbus“, sprich seit dem ominösen Datum 1492) scheint sich die Europäische Expansion von den Eroberungen und Rückeroberungen, wie sie in der Alten Welt, also auf dem Eurasiatisch-Afrikanischen ‚Superkontinent‘ seit vielen Jahrtausenden üblich waren und immer noch sind, verblüffend deutlich zu unterscheiden. Die Ökologie der Alten Welt erscheint durch das Auf und Ab der Menschheitsgeschichte ungleich weniger stark in Mitleidenschaft gezogen, als dies in den wenigen hundert Jahren europäischer Besiedlung Nord- und Südamerikas der Fall war, wo der ursprüngliche Floren- und Faunenbestand vielfach so stark überformt, verändert oder zerstört wurde, dass eine Rekonstruktion der Situation vor Columbus fast nicht mehr möglich ist (Crosby: Columbian Exchange, Seite 211 f.; Link).*

Je isolierter ein Ökosystem ist, desto geringer seine Resilienz.  Auf dieser Annahme hat Crosby seine Akklimatisationstheorie errichtet, indem er zu zeigen versuchte (mit teilweise hoher, teilweise weniger hoher Plausibilität), dass die Ökosysteme Nord- und Südamerikas aufgrund ihrer Jahrtausende währenden Abgeschiedenheit vom Rest der Welt dem Input neuer Spezies erliegen mussten; die ‚Neuen‘, aus ihrer viel ‚weltoffeneren‘ Entwicklungsgeschichte heraus biologisch anpassungsfähiger, resilienter und weniger stressanfällig (sprich weniger anfällig für Krankheiten und Seuchen), ‚outperformten‘ die Einheimischen.

Historiker wie Richard H. Grove verknüpften Crosby’s biologistische Sicht mit der älteren Imperialismus-Theorie und machten – durchaus im Einklang mit Erkenntnissen der ökologischen Forschung – das ‚Inseltheorem‘ zu einem brauchbaren Werkzeug der Geschichtswissenschaft.* Grove konnte zeigen, dass die ersten europäischen Kolonien, insofern sie Stützpunkt- oder Inselkolonien waren, als Orte massiver ökologischer Degradation zugleich Brennpunkte eines hocheffizienten Artentransfers darstellten und ergo dessen als echte Hotspots der Ausrottungsgeschichte anzusehen sind. Genau da beginnt es problematisch zu werden – nicht für die Historiographie sondern für die angewandten Umweltwissenschaften.

Die Insel als umweltpolitisches Paradigma. Die Schicksale von Pflanzen und Tieren, die auf Inseln vorkommen, so stellt die Wissenschaft fest und zuletzt auch wieder der Naturfilmer, Volksbildner und Umweltexperte David Attenborough* (ich beziehe mich gern auf ihn, weil ich ihn schätze, ja verehre), zeigen verblüffende Ähnlichkeiten untereinander. Sehr oft handelt es sich um Arten oder Unterarten, die endemisch sind, also nur lokal vorkommen. Zu ihren nächsten Verwandten auf dem Festland weisen sie auffallende genetische Unterschiede auf – die Palette reicht von verminderter Immunstärke bis zum Verlust lebens- und arterhaltender Fertigkeiten (etwa der Flugfähigkeit bei Vögeln) und Instinkte wie Feindvermeidung, Tarnung etc. Das bekannteste Beispiel ist der berühmte Dodo von Mauritius, eine plumpe Taube, die weder fliegen konnte, noch über ein ausgeprägtes Flucht- oder Tarnverhalten verfügte … und prompt ausgerottet wurde. Ebenfalls keine Seltenheit bei Inselpopulationen sind auffällige Zwerg- oder Riesenformen (größere Tiere verzwergen, kleine Tiere entwickeln sich zu Giganten).

Fluch oder Segen – der genetische Flaschenhals. All das – und die Abwesenheit von Fressfeinden beziehungsweise Nahrungskonkurrenten – hat dazu geführt, dass sich als Ergebnis solch evolutionärer Engführung hochspezialisierte, phänotypisch extreme, zahlenmäßig eher kleine und lokal begrenzte Inselpopulationen von Arten herausgebildet haben, die anderswo unspezialisierte Formen und zahlenmäßig starke Populationen entwickelt hätten oder auch haben. Dabei sind genetische Flaschenhälse per se nichts Nachteiliges für eine sich dabei umformende oder neu herausbildende Spezies. Das zeigt etwa das Schicksal von Bison bison L., der sich genau auf diese Weise aus recht spezialisierten, bezüglich Umweltbedingungen ziemlich anspruchsvollen Stammformen zu einem der anpassungsfähigsten und kopfstärksten Vertreter der nordamerikanischen Großtierfauna entwickelt hat.

Nicht so die typischen Inselformen. Die wenigen Individuen der Ausgangspopulation – der sogenannte genetische Flaschenhals – sind hinsichtlich der Ausbreitungsmöglichkeit ihrer Nachkommen ohne große Perspektive (eine Insel setzt jeder Massenvermehrung sehr rasch sehr klare Grenzen). Damit aber können die inzuchtbedingten genetischen Nachteile nicht ausgeglichen werden, auch nicht in Jahrhunderten ungestörter Entwicklung – Paradoxon einer Überangepasstheit, so typisch für Bewohner kleiner und kleinster ökologischer Nischen.

„Wir könnten nun wenigstens annehmen, dass Inseltiere [und Pflanzen, G.L.] so gut an ihre jeweilige Umgebung angepasst sind und deren Ressourcen so optimal ausnutzen, dass kein Eindringling es vermag, ihren Platz einzunehmen. Dem ist aber nicht so. Stattdessen wirkt es, als hätten die Insulaner im Schutz ihrer abgelegenen Inseln und fernab des Trubels großer, vielfältiger Gesellschaften die Streitkunst verlernt. Sie können ihre Position gegenüber der neuen Konkurrenz nicht behaupten. Und es scheint, als wären viele Inselbewohner dem Untergang geweiht, sobald die Schutzbarriere ihrer Heimat erst einmal durchbrochen ist“ (Attenborough: Der lebendige Planet, Seite 275).*

Neuseeland & Co. als umweltpolitisches Vorbild? Ökologiehistorisch betrachtet, entspricht der insularen Nische eine einzigartige Typologie evolutionärer Prozesse – mit unverwechselbaren Mustern beim Übergang von Zeiten ökologischen Gleichgewichts (Klimax) zu Phasen des Umbruchs und der Neuordnung. Im Unterschied zum Rest der Welt geht die Evolution auf Inseln oder, allgemein gesprochen, überall dort, wo das Ökosystem Merkmale von Inseln aufweist, einen Sonderweg. Auch in isolierten ökologischen Nischen (einzelne Hochtäler, Überreste ehemaliger Naturlandschaften oder Biome mit besonders schutzwürdigen Populationen bedrohter Arten) kann es zwischen alter und neuer Ordnung, Klimax und Umbruch keine Kompromisse geben, weil schon die Evolution als solche dort keine sanften Übergänge vorsieht. Mit anderen Worten: Inseln und inselähnliche Lebensräume sind prädestiniert für ‚harte‘ Veränderungen nach Art des Columbian Exchange.

Der Name ‚Neuseeland‘ steht hier für die unzähligen großen und kleinen Inselbiome des Blauen Planeten – von den Antillen in der Karibik bis zu Polynesien und den Galápagosinseln im Pazifischen Ozean; auf St. Helena und auf Madagaskar, auf Mauritius oder den Seychellen, von Neuguinea bis Tasmanien oder Neuseeland herrschen überall die typischen, oben skizzierten Bedingungen …  

Diese Inselbedingungen – lassen sie sich auf andere, ‚kontinentale‘ Verhältnisse übertragen? Oder zumindest in diese hinein übersetzen? Wohl eher nicht. Und wenn doch, handelt es sich mit Sicherheit um ‚inselähnliche‘ Situationen nach Art der ebenfalls weiter oben beschriebenen ökologischen Nischen oder Reste ehemals ausgedehnterer Lebensräume. Was bedeutet das für den Umweltschutz im globalen Maßstab?

Umweltveränderung als ökologischer Großversuch. Auf Neuseeland und den anderen Inseln, deren paradigmatische Bedeutung für den modernen Umweltgedanken man nicht in Frage stellen muss (wohl aber bisweilen die Übersetzung dieser Bedeutung in die Praxis), spielen sich sowohl Evolution als auch moderne Umweltveränderung und Naturzerstörung gewissermaßen im Zeitraffertempo ab. So hat die Evolution auf Neuseeland eine Artenzusammensetzung entstehen lassen, wo 85 Prozent der etwa 2.300 einheimischen Pflanzen endemisch sind, also ursprünglich nur auf diesen beiden Inseln beziehungsweise deren Nebeninseln vorkamen. Mittlerweile wachsen viele dieser ‚Solitäre‘ über die ganze Welt verstreut in Arboreten und Botanischen Gärten … aber das ist schon eine andere Geschichte, eine, die mit der europäischen Expansion zu tun hat und von der schon öfter die Rede war.**

Vielleicht noch deutlicher als die florale Welt zeigt sich Neuseelands Fauna*** als Erbe eines insularen Sonderwegs. Zu nennen wären mehrere Pinguinarten; der flugunfähige Schnepfenstrauß, besser bekannt unter seinem einheimischen Namen Kiwi – das Wappentier der Insel ist mit gleich fünf Arten vertreten –; aus der Familie der Papageien drei Arten: der flugunfähige Eulenpapagei (Kakapo), der für seine Schlauheit und Intelligenz berühmte Kea und der Waldpapagei (Kaka); weitere, weniger bekannte endemische Arten sind Saumschnabelente, Neuseelandente, Schwarzer Stelzenläufer, Takahe und Wekaralle, die Maori-Fruchttaube, der Maorifalke; aus der Klasse der Säugetiere der vom Aussterben bedrohte Maui-Delfin … und viele andere mehr.

Auch für den anderen, den negativen Aspekt von ‚Insularität‘ (wenn man denn das Phänomen eines ökologisch-historischen Sonderwegs so nennen mag) bietet sich Neuseeland als prominentes Untersuchungsfeld an: Mit einer seit dem Beginn des zweiten Jahrtausends europäischer Zeitrechnung, als die ersten Maori-Boote landeten, kontinuierlich ansteigenden Zahl von ausgerotteten oder ausgestorbenen Spezies erweist sich die Doppelinsel als perfektes Beispiel für den Zusammenhang von menschlicher Siedlungspolitik und radikaler Umweltzerstörung. Ob Chatham-Rabe, Maorikrähe, Haastadler, Südinsel-Riesengans oder der phantastische straußenartige Moa, deren größte (Unter)Art eine Schulterhöhe von (mehr als) zwei Metern erreichte – sie alle waren den neu angekommenen Zweibeinern wehrlos ausgeliefert; vor allem auch deren vierbeinigen Begleitern wie Hund und Schwein; und als sich auch noch die Europäer einstellten, kamen Schafe, Rinder, Rot- und Damhirsche, Gämsen und Thare, Katzen, Wiesel, Ratten und ein ganzer Zoo weiterer Exoten hinzu, die teilweise verwilderten und sich unter den einheimischen Spezies breit machten. Mit ihrem ‚insularen Charakter‘ waren die Autochthonen den Einwanderern hilflos ausgeliefert. „So löste wahrscheinlich auch bei den Moas das Auftauchen von menschlichen Jägern weder Flucht noch Gegenwehr aus.“ Die Experten Worthy und Holdaway meinen dazu nicht unironisch, man dürfe vermuten, „dass die Moa-Jagd eher einem ‚Einkauf im Supermarkt‘ als einer Jagd gleichgekommen sein dürfte“ (Netzeintrag „Moas“, siehe Link).

Den britischen Siedlern im 19. Jahrhundert war die autochthone Flora und Fauna mehr oder weniger gleichgültig; gemäß dem Zeitgeist, der einer ‚Europäisierung der Welt‘ das Wort redete, war ihnen wichtiger, möglichst viel Heimat in die Kolonien mitzubringen. Ziel war nicht nur die authentische Rekonstruktion einer ‚europäischen Natur‘. Es galt auch die globale Präsenz Europas, den Anspruch eines einzelnen Kontinents, über den Rest der Welt zu herrschen, symbolisch auszudrücken – indem man überall, wo man hinkam, durch möglichst spektakuläre, umfassende und tiefgreifende Umgestaltungen der Naturlandschaft eine künstliche Natur, eine Natur aus zweiter Hand erschuf. Diesem Zweck diente ein hemmungsloser Transfer von Tieren und Pflanzen rund um den Globus, vor allem aber von Tieren:****

Globale Tiertransfers in der Neuzeit © G.Liedl

Fundamentalökologie beruhigt das Gewissen. Die ‚Insellogik‘ enthält, wie Bild zeigt, das Phantasma einer nach Belieben planbaren und frei zu gestaltenden Natur; denn die Inselnatur – das konnte hoffentlich plausibel gemacht werden – ist eine fragile, eine prekäre Angelegenheit. Plakativ gesprochen ist die scheinbar so perfekt ausbalancierte Ökologie der Inseln ein Zustand auf Abruf.

Bleiben wir auf der exemplarischen Doppelinsel Neuseeland. Im 19. Jahrhundert verschifften Acclimatisation Societies englisches Rot- und Damwild, amerikanische Wapitis, indische Himalaya-Thare, Pfaue, Truthühner, Schwäne, Hasen, Marder, Wiesel, Eichhörnchen … und natürlich heimische Singvögel über den Ozean in die Kolonien, vor allem in die ‚weißen‘ Siedlungskolonien. Als Pointe kann angefügt werden, dass 1907 Kaiser Franz Joseph I. eine Gruppe Gämsen offerierte – das Geschenk wurde dankend angenommen, Gämsen bevölkern seitdem nicht nur die Europäischen sondern auch die Neuseeländischen Alpen.

Euphorie schlägt bekanntlich gern in Depressionen um. Aus dem ökologischen Selbstermächtigungstraum des 19. Jahrhunderts gibt es im 20. Jahrhundert ein böses Erwachen. „Als etwa um 1930 das Rotwild in Neuseeland […] zu zahlreich wurde, erklärte man es zum Schädling und hob jegliche Schutzmaßnahmen auf. Im darauffolgenden Jahr begannen dann die ‚Kontrollmaßnahmen‘ der Regierung, und Tausende Hirsche wurden Jahr für Jahr abgeschlachtet. Dabei war man aber nur am Verkauf der Häute interessiert, das Wildbret, wahrscheinlich an die 3.000, 4.000 Tonnen, ließ man im Busch verrotten. Weitere 75.000 Hirsche überließ man kommerziellen Fleischjägern, die allein im Jahre 1967 rund 2.600 Tonnen Wildfleisch nach Europa exportierten. Die Bestandsreduktion wurde aber nicht allein mit Schusswaffen durchgeführt, ein paar Jahre lang versuchte man es auch mit vergifteten Karotten, die man von Flugzeugen abwarf. Eigentlich war diese Methode gegen Gämsen und Thare gedacht, doch fielen ihr auch unzählige Hirsche zum Opfer“ (Whitehead: Encyclopedia of Deer, Seite 53).*   

Was im Inselstaat lange vor der Jahrhundertmitte als gigantischer Freilandversuch in Gang gesetzt worden war – ein unbarmherziger Vernichtungskrieg (noch dazu mit untauglichen Mitteln) gegen einen gar nicht kleinen Teil der lokalen Fauna –, erreichte, als neueste Erkenntnis der Umweltwissenschaften etikettiert, im letzten Drittel des Jahrhunderts Europa, genauer gesagt das deutschsprachige Mitteleuropa, wo der Boden durch eine romantisch getönten Heimat-Ideologie sozusagen immer schon aufbereitet war. Denn auch der Heimatbegriff gehorcht ja der Insel-Logik (wie der Philosoph sagen würde). Etwa ab 1980 wendete sich der Naturschutz von konkreten tages- und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, vom Kampf gegen Umweltschädiger aus Landwirtschaft, Industrie und Politik ab und einer ideologisch getönten Grundsatzdebatte zu – ob und wie die heimatliche Natur von fremden, ergo dessen schädlichen Einflüssen gereinigt werden könne.

Umweltschutz – grundsätzlich oder pragmatisch? Schon die frühesten Beispiele für eine ‚überfremdete‘ Natur sind eingebettet in das Theorem der Faunen- und Florenfälschung, womit man einer auch im Nationalsozialismus gängigen Wortwahl folgt. Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus), Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) und Waschbär (Procyon lotor) – alle drei Arten stammen aus Nordamerika – wurden stellvertretend für eine ganze Entwicklung, eine Veränderung, einen Trend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt: Sie standen und stehen für die Störung einer perfekten, weil stabilen natürlichen Ordnung. Schon mit ihrer bloßen Existenz widersprechen sie dem Idealbild dessen, was Land und Leuten erst ihre wahre Identität verleiht: der unverrückbaren natürlichen Ordnung, wo alles seinen angestammten Platz hat, was im Gegenzug jede Veränderung durch irgendwie neu Hinzukommendes ausschließt. Natur steht im Gegensatz zur künstlich-volatilen Welt der Ökonomie (Wirtschaft und Politik, Industrie, Wissenschaft, Welthandel usw.), man kann sich auf sie verlassen. Dauerhaft und stetig, repräsentiert sie den Boden, die Erde, Luft und Wasser, majestätische Berge, Landschaften im Jahreskreis – mit einem Wort: Heimat. Projektion nennt das der Psychologe.    

Grundsätze mögen wichtig sein. Der Weisheit letzter Schluss sind sie nicht. Die Wirklichkeit – und wir bleiben bei den gewählten drei Beispielen – sieht nämlich so aus, dass schon im 19. Jahrhundert Flüsse und Bäche durch ihre hemmungslose Nutzung im Geist der Industriellen Revolution derart ruiniert waren, dass die einheimische Fauna – im Fall der mitteleuropäischen Gewässer waren dies Flusskrebs (Astacus astacus L.) und Bachforelle (Salmo trutta fario)  – daraus verschwanden. Die ‚landfremden‘ Nachfolger, Signalkrebs und Regenbogenforelle, zeichneten sich durch eine höhere Toleranz gegenüber schlechter Wasserqualität und Verschmutzung aus. Die Krise, in der sich die Gewässer Mitteleuropas befanden, war in positiver Umkehrung der Beweis der Resilienz, über die jene neuen Arten verfügten. Ökologisch gesprochen haben Regenbogenforelle und Signalkrebs niemanden verdrängt, sondern nur in Besitz genommen, was an aufgegebenen Lebensräumen und Nischen zur Verfügung stand.

Schon wahr, werte Ökologinnen und Ökologen: Heute, wo die Gewässergüte teilweise wiederhergestellt ist, mag es so scheinen, als wären Regenbogenforelle und Signalkrebs ‚schuld‘ am Verschwinden von Bachforelle und Flusskrebs. Richtigerweise sollte man sagen: die beiden haben ihre Chance genutzt und geben jetzt, wo sich die heiklen Europäer wieder hineinreklamieren möchten in ihre ökologischen Nischen, diese nicht freiwillig auf. Und sie verteidigen ihre Position mit den geeigneten biologischen Waffen: so ist der amerikanische Signalkrebs Träger der Krebspest, gegen die er selbst immun ist, nicht aber der europäische Flusskrebs, und die mit Klimawandel & Co. besser zurechtkommende Regenbogenforelle hat höhere Vermehrungsraten als ihre europäische Konkurrentin.

Ähnliche Dispositive wird man auch bei vielen anderen Alien Species entdecken; so konnte sich unser drittes Beispiel, der Waschbär, in den von konkurrierenden Beutegreifern weitgehend frei gemachten Revieren niederlassen (die Zeit seines Aufstiegs fällt mit der Hochblüte der ‚Raubzeug‘-Bekämpfung zusammen, als etwa dem Fuchs großflächig mit allen Mitteln, selbst durch Vergasen seiner Baue zu Leibe gerückt wurde, und der Fischotter ausgerottet war).     

Dabei wäre die pragmatische Lösung dieses bloß vermeintlichen Dilemmas einfach, wie sie ja auch auf der Hand liegt. Man unterstelle möglichst viele der als problematisch empfundenen Neuankömmlinge (deren Ankunft in freier Wildbahn ja meist ohnedies schon viele Jahrzehnte, manchmal sogar über ein Jahrhundert zurückliegt) der Jagdgesetzgebung, dem Fischereirecht oder anderen vergleichbaren Regelungen – sie unterlägen damit automatisch dem Grundsatz lokal abgestimmter Kontrolle bei nachhaltiger Nutzung ihres ökologischen und wirtschaftlichen Potenzials: Krebse und Forellen sind, wie man hört, stark nachgefragte Delikatessen; und der Waschbärpelz (ich weiß, hier betrete ich vermintes Terrain ...) zierte früher die Schultern so mancher schönen Dame. Im Gegensatz zu einer Insel sind die Landschaften Mitteleuropas keine isolierten Ökosysteme; sind die dort lebenden Pflanzen und Tiere an den ständigen Wandel, das Kommen und Gehen alter und neuer Weggefährten gewöhnt, seit Tausenden von Jahren. Wäre es anders, sie wären längst nicht mehr da.

Und was ist mit dem ökologischen Gleichgewicht? Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, den Verfechtern einer von ‚Störfaktoren‘ und Fremdeinflüssen gesäuberten Natur ihre Sorge um besagte Natur abzunehmen. Wer im Zusammenhang mit lebenden Wesen Kriegsmetaphern gebraucht, von notwendiger ‚Bekämpfung‘, gar ‚Vernichtung‘ spricht, kann nicht als Naturfreund gelten. Nicht in meiner Welt.

„Aber das sind doch Experten, die sich auf Erkenntnisse von Menschen stützen, die sich in Sachen Naturwissenschaft auskennen.“ – Nach diesem Argument ist auch der Vivisecteur ein Freund der Tiere und der Natur: in Sachen Naturwissenschaft ist er zweifellos ein Auskenner. Zugegeben, das klingt reichlich simpel und einigermaßen naiv. Sorry, Girls & Boys: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ (Martin Luther).

Sir David Attenborough hat einmal gesagt (man könnte auch Konrad Lorenz zitieren, der sich ähnlich geäußert hat): „Aus meiner Sicht ist die Natur die größte Quelle der Begeisterung, die größte Quelle der Schönheit und die größte Quelle der Erkenntnis. Sie ist die wichtigste Quelle von vielem, was das Leben lebenswert macht.“

In dieser Natur gibt es keine ‚guten‘ und ‚bösen‘ Lebewesen. Nur Lebewesen.

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* Literatur:

David Attenborough: Der lebendige Planet. Wie alles mit allem vernetzt ist [Living Planet. The Web of Life on Earth]. Franckh – Kosmos Verlag: Stuttgart 2022

Simon Franz Canaval: Globalisierung der Naturnutzung am Beispiel einer Jagdwildart (Dama dama). Diplomarbeit, Universität Wien: Wien 2014

Simon Franz Canaval: The Story of the Fallow Deer: An Exotic Aspect of British Globalisation. In: Environment and Nature in New Zealand (ENNZ), Vol. 9 | 2 (2014)

Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport, Connecticut 1972; deutsche Ausgabe:

Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 – 1900. Darmstadt 1991 (Cambridge 1986)

Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997

Sophia Perdikaris / Allison Bain / Sandrine Grouard / Karis Baker / Edith
Gonzalez / A. Rus Hoelzel / Holly Miller / Reaksha Persaud / Naomi Sykes: From Icon of Empire to National Emblem: New Evidence for the Fallow Deer of Barbuda. The Journal of Human Palaeoecology Volume 23: 1, 2018, Seite 4755

G. Kenneth Whitehead: The Whitehead Encyclopedia of Deer. Shrewsbury 1993

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** Zur europäischen Expansion: BLOG # 17; BLOG # 18; BLOG # 23; BLOG # 27

*** Endemische Tiere Neuseelands – Link

**** Zu einem Beispiel des Bedeutungswandels im ökologischen Akkulturationsprozess Damwild auf der Antilleninsel Barbuda: Perdikaris et al. 2018, Seite 47 ff.; Canaval 2014

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Was wirklich schädlich ist. Ein Zitat als Postscriptum. „Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Deshalb müssen wir offenlegen, wer daran interessiert ist, dass alles so weiterläuft wie bisher. Keiner wird mit seiner Bambuszahnbürste und seinem Jutebeutel diese Welt retten können. Was wir brauchen, ist gute Politik“ (Eckart von Hirschhausen, Arzt und Kabarettist; zitiert nach KURIER freizeit, vom Samstag, 12. August 2023, Seite 26).

Darf ich ergänzen? Was wir brauchen, ist gute Politik. Spätromantik mit autoritärer Schlagseite eher nicht.