Wie wertvoll sind Antilopen? Auch eine Art Kulturgeschichte: Oryx, Taurotragus & Co.

Gottfried Liedl am 10. April 2024

Dazu auch BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022: Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2“

Als Liebhaber der mehrwertigen Logik bin ich von der folgenden Bemerkung fasziniert.

„Paradoxerweise ist die in der Wildnis nicht mehr vorkommende Säbelantilope die zweithäufigste in Zoos gehaltene Antilope; nur die Hirschziegenantilope ist noch häufiger vertreten. Insgesamt gibt es weltweit etwa 3.500 Tiere. […] Halbwilde Herden leben außerdem in Israel und auf der tunesischen Insel Djerba. Anfang 2012 gab es über 6.000 Säbelantilopen auf texanischen Jagd-Farmen“ (Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Biologie-seite.de).**

In Sachverhalten wie diesen offenbart sich nicht nur ein für die moderne Zivilgesellschaft typischer ‚Eigensinn‘ sondern die ganze evolutionäre Ambivalenz der Spezies Homo sapiens. Und zwar auf eine Weise, die, wie ich gerne zugebe, zu den eher sympathischen Spielarten des Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Syndroms gehört. Kein Geringerer als Sigmund Freud hat uns die Beobachtung eines Kinderspiels mitgeteilt, das er „Fort – Da“ nannte. Dabei wird das Kind nicht müde, einen Gegenstand regelmäßig aus seinem Gesichtsfeld zu entfernen – ihn ‚unsichtbar‘ zu machen, ihn zum Verschwinden zu bringen –, nur um ihn genauso eifrig und geduldig, mit allen Anzeichen des Entzückens, wieder auftauchen, wieder erscheinen zu lassen. Ich finde, das ist auch ein gutes Bild, um das höchst eigenartige Verhalten des Menschen, das er den Reichtümern der Natur gegenüber einzunehmen pflegt, symbolisch darzustellen. Wie es scheint, bereitet es ihm ein – perverses? – Vergnügen, ja eine Art Genugtuung, 'aus dem Vollen zu schöpfen'; oder, weniger euphemistisch ausgedrückt: den Reichtum an Naturschätzen, wo immer er auf sie stößt, hemmungslos zu plündern ('Fort'). Aber dann gibt es auch noch jenes offenbar ebenfalls zur Condition humaine, zum Wesen des Menschen gehörende Bemühen, den allerdings meist nur mehr kläglichen Rest - - - genau, zu retten, zu (wie es so schön heißt) 'erhalten' (als ob das 'Erhalten' nicht genau darin bestanden hätte, auf das Plündern zu verzichten...).

Zerstörtes erhalten – zur Paradoxie einer ‚Rettung in letzter Minute‘. Wir haben hier also das seltsame Paradox einer Menschheit, die zuerst gedanken- und skrupellos vernichtet, was ihr der mit Naturgegenständen überreich gedeckte Tisch bietet, um dann die kümmerlichen Reste wie Pretiosen zu hüten und aufzubewahren und sie als meist schon tote, manchmal ‚gerade noch‘ am Leben gebliebene Reminiszenzen vergangenen Überflusses in allen möglichen Wunderkammern, Museen oder zoologischen Gärten auszustellen. Diesen doch einigermaßen verqueren und auf die Spitze getriebenen Symbolismus hat uns der Freud’sche Hinweis auf ein Kinderspiel, das exakt jene Bewegung des Wieder-Hervorholens eines zuvor mutwillig zum Verschwinden Gebrachten zum Gegenstand hat, in qualitativer Hinsicht oder triebökonomisch (wenn der Ausdruck gestattet ist) zu verorten erlaubt. Quantitativ, also bezüglich einer Ethik als Kalkül – beziehungsweise wenn es um die Frage geht, was warum wieviel wert ist – haben wir damit aber noch nicht sehr viel, um nicht zu sagen gar nichts gewonnen. Dieses Feld gilt es im folgenden zu beackern.

In einer solchen ethischen Wertlehre (nennen wir sie ruhig so) stößt man nämlich sofort wieder auf Paradoxien. Denn anders als im Reich der Natur, sei es bei der Nahrungsaufnahme oder anderen Vitalfunktionen, entspricht im Reich des Symbolisch-Ökonomischen nicht automatisch die größte Zahl auch dem höchsten Wert (so wie etwa die Länge des Lebens proportional ist zur Gesamtzahl der Schläge des Herzens). Nein. In der Welt des symbolisch-ökonomischen Wertens und Bewertens herrschen verkehrtproportionale Zustände. Was häufig ist, hat wenig Wert. Seltenes dagegen ist kostbar.

Das bereitet Freundinnen und Freunden der Natur Kopfzerbrechen. Wenn des Menschen Lieblingsbeute das jeweils Seltenste ist und er Objekte, die zu ihrer (Re-)Produktion die längste Zeit benötigen, besonders begehrt, dann fallen gerade die spektakulärsten Naturgegenstände wie Wale und tropische Urwaldriesen genau in diese Kategorie: „Ihre Bestände können sich nicht schnell genug regenerieren, um eine dauerhafte und zugleich lohnende kommerzielle Nutzung zu ermöglichen – doch ausgerechnet solche Arten sind besonders begehrt und ermöglichen hohe Profite. Denn obwohl die Ausrottung der Wale das Ende des Walfangs bedeutet, kann nach wirtschaftlicher Logik der Erlös eines heute erlegten Wals morgen auf der Bank liegen und Zinsen tragen, während ein Wal immer nur ein Wal bleibt“ (Atlas 1987, Seite 34; Zitat leicht verändert und gekürzt).*

Ob man, den kanonischen Texten der Psychologie folgend, die Triebausstattung der Spezies Homo sapiens als Ursache nimmt; oder ob man den Pferdefuß an einer nur im übertragenen Sinne ‚triebhaften‘ Figur entdeckt haben will, nämlich an der Figur des Homo oeconomicus (gewissen Denkern zufolge ist Ökonomie die ideale Verlängerung der Triebe des Menschen und das Kapital deren perfekte „Wunschmaschine“: Deleuze | Guattari 1979, Seite 7 ff.),* ist an und für sich nicht so wichtig. Am Ende zählt als Anthitese der Triebe das Realitätsprinzip, begleitet vom politisch-ökonomischen, seltener moralisch-ökologischen Katzenjammer. Wenn die Wunschmaschine knirschend und krachend zum Stillstand gekommen ist, erweist sich jenes energisch-lustbetonte ‚Fort’ – anders als im Kinderspiel, wo es in der Gestalt eines periodisch zurückkehrenden, optimistischen ‚Da‘ wieder aufgehoben wird – als höchst unangenehme Karikatur seiner selbst: Es hat sich in ein trübes und trauriges ‚Nicht-mehr‘, besser gesagt in ein ‚Nicht-mehr-Da‘ verwandelt.

„Komm auf den Punkt ...“ – „Zu den Antilopen, die – nicht mehr – da sind?“ – „Ja. Zu diesen.“ Wovon er fasziniert war, das hat der Mensch schon immer nicht so sein zu lassen vermocht, wie es ihm entgegen kam. Dem Faszinosum beizukommen, das Geheimnis seiner Aura zu lüften, ist ihm dabei von höchster Wichtigkeit, weshalb er sich dem betreffenden Gegenstand zügig nähert; anders gesagt, er tritt ihm im Endeffekt fast immer zu nahe. Um im gewählten Bild zu bleiben: Diese Tabu-brechende Distanzverringerung ist das große ‚Da‘. Tiere wurden göttlich verehrt, wozu man ihrer habhaft werden musste, damit man sie später – das unvermeidliche Gegenstück zum ‚Da’, das ‚Fort‘ – Göttern opfern konnte. Der Domestikation geht die Zähmung voraus – aus sozusagen religösen Gründen. Schon damals war das Seltenste – man kann auch sagen: die Ausnahme von der Regel – am wertvollsten. Ein Wildtier zum Beispiel, das sich dem Menschen nähert, das den sich nähernden Menschen nicht flieht, ein 'Da'. Von dem man sich jedoch wieder zu trennen hatte, im Opfer: ein ‚Fort‘. Das Opfer ist den Göttern desto lieber, je kostbarer es ist. Und das Seltenste, das Einzigartige (vielleicht sogar der Letzte seiner Art) ist natürlich am kostbarsten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

So kommt die gezähmte Antilope ins Spiel. Oder der domestizierte Wildstier, das zutrauliche Krokodil, der Ibis, die Katze, der Schakal, der Pavian, der Falke … Im Alten Ägypten lässt man sich die Fülle, die einen umgibt, im wahrsten Sinne des Wortes gefallen, macht man von den in großer Zahl die Wüsten und Steppen der Sahara, die Ufer des Nils und seine Sümpfe bewohnenden Arten physisch und psychisch reichlichen Gebrauch. Wir jedoch haben uns für die Antilopen entschieden, und bei diesen wollen wir bleiben.

Ma-hedj – „Das weiße Wüstentier“. Im Alten Ägypten kannte, verehrte und zähmte man im wesentlichen vier Arten von Antilopen: Kuhantilope (Alcelaphus buselaphus), Mendesantilope (Addax nasomaculatus), Weiße oder Arabische Oryx (Oryx leucoryx) und wenn man den Quellen und Zeugnissen, den erhalten gebliebenen Abbildungen und den Ergebnissen der Archäologie vertrauen kann besonders gern die Säbelantilope, Oryx dammah (Oryx algazel).

Säbelantilopen bei der Fütterung (altägyptisch) | © G.Liedl

Über die Säbelantilope lesen wir, dass sie „im Alten Ägypten zum Wüstenwild zählte und wegen der weißen Farbe als ‚göttliches Tier‘ galt.“** An dieser ‚Göttlichkeit‘ ist nicht zu zweifeln, findet man doch die ältesten Darstellungen dieser Antilope in der berühmten Weltkammer des Sonnenheiligtums von Niuserre (2455 bis 2420 v. Chr.), wo sie den ehrenvollen Beinamen Ma-hedj, „weißes Tier der Wüste“ trägt, wie ihre Hieroglyphe verrät:

Hieroglyphe der Säbelantilope | Quelle: Wikipedia

„Bestimmer des Schicksals“. Dass Oryx dammah eine zentrale Rolle in einem als „Weltkammer“ bezeichneten Kultraum (vgl. Edel 1961; Edel 1964; Edel | Wenig 1974; Helck 1980; Helck 1986)* spielt, einem magischen Zentralort des Sonnen- und Fruchtbarkeitszaubers, inmitten eines ausgedehnten Heiligtums – im „Lustort des Re“,** wie die Inschriften besagen –, unterstreicht ihre herausragende Bedeutung in der frühen Domestikationsgeschichte noch zusätzlich. Die Weltkammer zeigt Säbelantilopen inmitten anderer Wüstentiere, „die jedoch alle als Gemeinsamkeit die ‚Göttlichkeit‘ aufweisen und daher ‚keines Hirten bedürfen‘, sondern die ‚Bestimmer des Schicksals‘ sind“.** Keines Hirten zu bedürfen heißt im Umkehrschluss: seinen Weg selbst finden, ja Andere zu führen. Entscheidend für ihre Position als Anführerin von Lebewesen, die die Wüste bevölkern, und zugleich für ihre Rolle als numinoses Wesen im Fruchtbarkeitskult (was auf den ersten Blick paradox erscheint), sind die biologisch-ökologischen Besonderheiten dieser Spezies: „Als reines Wüstentier lebte die Säbelantilope einst von Mauretanien bis Ägypten in großen Herden, die bis zu tausend Tiere umfassen konnten. Innerhalb der Sahara wanderten sie weit umher und konnten mehrere Monate ohne Wasser überleben. […] In der ‚Weltkammer‘ werden die Zeitpunkte der Brunft (benut) und des Werfens (mesut) jeweils der altägyptischen Jahreszeit Schemu zugeordnet. […] Nach einer durchschnittlichen Tragzeit von 270 Tagen warf die Säbelantilope […] im Monat Renutet (Februar) ein einzelnes Junges [die Brunft fand im Monat Ipet-hemet, am Beginn der Jahreszeit Schemu statt, Setzzeit war an deren Ende, im Monat Renutet; Anm. G.L.]. Da die Monate Ipet-hemet sowie Renutet in der altägyptischen Jahreszeit Schemu lagen [in der dem Sonnengott Re geweihten Jahreszeit; Anm. G.L.], bestätigten sich die Datierungsangaben in den Inschriften der ‚Weltkammer‘“.**

Soviel zur Verbindung von Oryx dammah mit dem altägyptischen Sonnengott Re. Ein ganz wichtiger Aspekt – vielleicht sogar der wichtigste – erschließt sich aber aus der Klima- und Ökologiegeschichte. In der einst grünen Sahara, die ja nicht durchgehend, sondern nur jahreszeitlich grün war, fiel der Zeitpunkt, an dem die Kälber gesetzt wurden, mehr oder weniger mit der Regenzeit zusammen. Und noch etwas. Als in riesigen Herden lebendes Wildtier (zumindest dort, wo sie heute wieder vorkommt, etwa im Tschad)*** zeigt Oryx dammah lokale Regenfälle in der Wüste an, indem sie sich in Bewegung setzt und zielsicher dorthin wandert, wo das frische Gras sprießt. Denn sie ist in der Lage, Feuchtigkeit über große Distanzen zu wittern. Dass jenes derart gut an die Fährnisse und Notwendigkeiten des Wüstenlebens angepasste Tier für Menschen in und am Rande der Wüste (denn die Menschen Altägyptens waren sozusagen ‚erst vor kurzem‘ aus der ehemals grünen Sahara ins Niltal gezogen) als „Bestimmer des Schicksals“ galt, ist also logisch.

Gebärende Gazellen und Antilopen in der ‚Weltkammer‘ | Quelle: Wikipedia

Wie zu zeigen war, ergab sich das Naheverhältnis von Oryx dammah zur wichtigsten Gottheit im Alten Reich, dem Sonnengott Re, aus der Fortpflanzungsbiologie dieser emblematischen Wüstenbewohnerin. Das allein würde genügt haben, Oryx dammah an die Spitze einer ganzen Reihe von Tieren in Menschenhand zu hieven. Dass sie auch noch als Namen gebendes Tier einem eigenen Gau vorsteht, dem Antilopengau (im Norden, also an der Spitze Oberägyptens), ist das Tüpfelchen auf dem i.

Zug der Opfertiere (Ausschnitt): Oryx leucoryx, Capra nubiana, Oryx dammah | Quelle: Boessneck 1981, Seite 5*

Wo steht geschrieben, dass man den reich gedeckten Tisch plündern soll? „Der Wildreichtum in der Vielfalt der Arten und in der Menge der Individuen war zweifellos, vor allem im Alten Reich, weitaus größer als in der Neuzeit vor der totalen Ausrottung in unseren Tagen“ (Boessneck 1981, Seite 16).* Mannigfaltig und zahlreich waren die Wildtiere im Alten Ägypten, deren mehr oder weniger artgerechte Haltung aus antiken Bilddenkmälern, aber auch aus zooarchäologischen Untersuchungen hervorgeht – manche Wildtiere wurden mit Stricken, die um den Vorderlauf geknüpft waren, angebunden (was sich an Knochenfunden nachweisen lässt: Boessneck 1981, Seite 9), anderen legte man Halsbänder an, handzahme Individuen durften sich frei bewegen, wie die Löwen der Pharaonen Ramses II. und Ramses III., die ihre Herren in die Schlacht begleiteten (ebd., Seite 26). Wie reich die Natur den Tisch zu Pharaos Zeiten gedeckt hatte, zeigen auch die Tausenden von Tiermumien, die zwar hauptsächlich die gebräuchlichsten Haustiere ‚abbilden‘ (Katzen vor allem … und die berühmten Apis-Stiere) – aber eben nicht nur. Wahrscheinlich wurden Vertreter von mehr als sechzig Wildtierarten mehr oder weniger regelmäßig als Haus- und Heimtiere beziehungsweise unter zooähnlichen Bedingungen gehalten, mehr als vierzig Arten allein aus der Familie der Vögel (a.a.O., Seite 11 f.). Tierkult, kultische Jagd und Jagd zur Versorgung mit Wildbret beförderten nicht nur die Hundezucht – beliebt und oft abgebildet: der überschlanke Windhund, wie er noch heute bei Wüstennomaden in hohen Ehren steht –; auch die Haltung gezähmter und speziell abgerichteter Jagdhelfer aus der freien Wildbahn wäre hier zu erwähnen. Ein im Gegensatz zu den auftrumpfenden pharaonischen Kriegslöwen eher sympathisches Bild boten zum Beispiel die Nilgänse (eine heute dank der Klimaerwärmung bis weit nach Mitteleuropa verbreitete Art), die auch von den einfachen Menschen zu Hause gehalten und bei den beliebten Wasservogel-Jagden in den Papyrussümpfen als Lockvögel eingesetzt wurden (a.a.O., Seite 8). Und so weiter und so fort!

Eine Longue durée der Wildtierhaltung. Es gibt sie nicht nur im Bösen, die ‚Lange Dauer‘ mit ihren zur Volkskultur gewordenen Traditionen eines so und so gearteten Umgangs mit der Natur; nicht nur die Schaukämpfe und Tierhetzen in den Arenen der Römer, deren langer Atem, wenn ich so sagen darf, noch heute durch die Stierkampfarenen der Iberischen Halbinsel weht. Sondern auch die eigenartige, Jahrhunderte währende Tier-Diplomatie ägyptischer Herrscher. Von Ramses bis Kleopatra, von den Mamluken-Sultanen des Mittelalters bis zum ‚modernen‘ Herrscher Mehmed Ali, sendet der Hof als Zeichen seines guten Willens spektakuläre vierbeinige Botschafter – Giraffen, Elefanten, Löwen, Krokodile – an potenzielle Partner. Die einen haben, der ‚Urfigur‘ des Tieropfers treu bleibend, eine hochspezialisierte Kunstform daraus gemacht (abzüglich der kultisch-religiösen Komponente natürlich); sodass der Spanier Ortega y Gasset (und er muss es wissen) geradezu von ese componente primario de la intuición tauromáquica sprechen kann (Ortega y Gasset 1986, Seite 128).* Was also bei den einen „diese ursprüngliche, intuitive Komponente des Stierkampfs“ geblieben ist (tauromaquia, die Kunst des Stiergefechts als Erbin des Tieropfers), zeigt sich bei den anderen nicht weniger artifiziell, jedoch ein gutes Stück lebensfreundlicher. Gewiss ist es vom Tieropfer zur Zootierhaltung (inklusive Tierfang und Tiertransport) ein weiterer Weg als zur Tauromachie. Entscheidend ist das hohe Alter der Expertise (etwa fünf Jahrtausende) – und diese Expertise entstand und entwickelte sich an den Ufern des Nil, allgemein gesprochen im Orient (Liedl 2019, Seite 7 ff.).*

Säbelantilope mit Kalb | Quelle: Wikipedia (kduthler)

Kain oder Abel. Vielleicht verträgt das Thema, nachdem wir die Musterung der archäologischen, zoologisch-kulturanthropologischen Tatsachen und (Quer-)Verweise bis auf weiteres abgeschlossen haben, ja wieder ein wenig Philosophie. Denn über der Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses (und eigentlich ist das ja ‚die‘ Geschichte schlechthin) schwebt immer noch die Frage, wer von den beiden Urgestalten, Abel oder Kain, Dr. Jekyll oder Mr. Hyde in besagter Geschichte am längeren Ast sitzt. Nun, wenn wir uns mit der Freud’schen Kinderspiel-Erzählung nicht komplett vergriffen haben, was entgegen dem Anschein, den unser etwas spröder Einstieg in die Thematik erweckt haben mag, wohl eher nicht der Fall ist, sollte wo schon nicht eine definitive Entscheidung, so doch wenigstens eine vertiefende Darstellung des Problems, und wenn schon nicht das, dann zumindest eine Präzisierung der Frage selbst möglich sein.

Abel oder Kain? Warum wird eigentlich nicht Kain erschlagen, der Sesshafte, sondern Abel, der wandernde Viehhirte? Man mag dem Pflanzer, dem Getreidebauern, dem „im Schweiße seines Angesichts“ (so heißt es doch) das Feld Bestellenden ein derartiges Maß an destruktiver Energie gar nicht zutrauen. Noch so eine Paradoxie in unserer an Paradoxien nicht gerade armen Thematik?

„Dass es sich so verhält, wie es in der Bibel steht, liegt vielleicht daran, dass hier die Welt aus der Sicht der Hirten und nicht aus Sicht der Bauern erklärt wird. Ursprünglich wurden Geschichten wie diese wohl beim Hüten der Herden erdacht und Abends vor den Zelten am Lagerfeuer erzählt – und nicht in den Lehmhütten der Ackerbauern oder Feldbesteller.“ – „Aber objektiv betrachtet, widersprechen sie der Faktengeschichte, wie wir sie kennen: die strotzt vor Überfällen Nichtsesshafter auf Sesshafte. Die ‚Barbaren‘, das sind doch jene, die gut zu Fuß sind oder auf schnellen Pferden reiten, so weiß man es, seit sich Sumerer über die Bewohner des Zagros-Gebirges, Hellenen über die Skythen, Christen des Abendlandes über die Mongolen beklagten.“ – „Weiß man es – oder möchte man es die Welt bloß glauben machen? Um von den eigenen destruktiven Trieben abzulenken? Um sich diese nicht eingestehen zu müssen?“ – „Das ist jetzt aber ein Standpunktwechsel – von der Perspektive des Menschen hin zur Natur.“ – „Und mit Blick auf jene, die halbwegs auf dem Standpunkt der Natur stehen, mit der sie mehr oder minder im Einklang sind.“ – „Also doch Abel? Dessen Ziegen und Schafe so gar keine Schuld trifft an der Zerstörung der Baumsavannen des Zweistromlandes …“ – „Verglichen mit dem ökologischen Fußabdruck, den die Sesshaften seit den ersten neolithischen Brandrodungen hinterließen und immer noch – heute mehr denn je – hinterlassen, sind die Schafe, Ziegen, Rinder, Pferde und Kamele der Umherziehenden – verzeih das plumpe Wortspiel – veritable Unschuldslämmer …“

Wer hat also recht? Nun, selbst die Mythologie der ‚Sesshaften‘ kann nicht anders, als das Goldene Zeitalter in eine Ära zu verlegen, in der es weder Brandrodungen noch das Wenden der Scholle gab, als man weder Hacke und Grabstock, noch die scharfe Pflugschar kannte. Eine Ära, in welcher der Mensch – zwar nur sozusagen, aber immerhin – ‚die Erde in Ruhe ließ‘.

All diese Mythen vom Goldenen Zeitalter stellen eine Natur in den Mittelpunkt, welcher der Mensch, um sein Lebensrecht geltend zu machen, keine Gewalt antun muss. Dass sie reale (ökologie-)historische Zustände spiegeln, kann angenommen werden, wäre aber zu relativieren. Jäger und Sammler reißen nun tatsächlich den Mutterboden nicht auf, dafür kennen sie den Einsatz des Feuers zu allerlei raumschaffenden, den Raum erweiternden, die Umwelt verändernden Zwecken, etwa bei der Treibjagd. Und weil wir gerade von ihr sprechen – hat nicht auch die Jagd zum Verschwinden der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Megafauna kräftig beigetragen? Aber lassen wir die Jäger und ihr Goldenes Zeitalter. Wenden wir uns den Hirten und ihren Herden zu.

Nomadenweisheit. „Was man nicht vergessen darf: ‚Naturschutz‘ ist in Arabien kein neues Konzept. Das traditionelle ‚Hema‘-System sorgte für einen saisonal kontrollierten Weidegang, wodurch anderes Land als unverbrauchte Reserve verblieb, bisweilen als Jagdgebiet genutzt. Schon in der Mythologie Mesopotamiens ist das uralte Wissen um ökologische Ursachen und Wirkungen präsent“ (Kingdon 1991, Seite 13; dazu Liedl | Feldbauer 2024, Seite 6 ff.; vgl. Liedl 2019a, Seite 4 ff.).

Nicht nur für die klassischen Kamelnomaden des Vorderen Orients gilt das Wort vom „uralten Wissen um ökologische Ursachen und Wirkungen“; auch anderswo – eigentlich überall, wo es Vieh züchtenden Nomaden nicht durch außerökonomische Zwänge, sprich durch die Politik oder andere schicksalhafte Umstände verwehrt ist, ihre traditionelle Lebensweise zu pflegen – zeichnen sich die sogenannten Nicht-Sesshaften durch einen behutsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen aus. Die Umwelt dieser Viehzüchternomaden ist eine einzige große Allmende mit klar definierten Strukturen nach innen – einem Mix aus Weideland, Ruhezonen und Wasserstellen – und ebensolchen Grenzen nach außen, wo die Territorien der Nachbarclans und Nachbarstämme sind. Dass dieser labile Gleichgewichtszustand über alle Veränderungen der Zeit hinweg erhalten bleibe oder nach Störungen so rasch wie möglich wieder hergestellt werde, dafür sorgt eine von Generation zu Generation weitergegebene Sammlung von Handlungsanweisungen und Grundsätzen, was nicht nur das tagespolitische Geschehen sondern auch Verhältnisse von langer und längster Dauer (‚Longue durée‘), mit einem Wort den ökologischen Zustand dieser Allmende im Blick zu behalten erlaubt.

Dass eine so verstandene Umwelt als unteilbares Ganzes begriffen ist (der Ausdruck „ökologische Sensibilität“ ist in diesem Zusammenhang wohl angebracht), geht aus der Behandlung selbst jener Ressourcen hervor, die nicht unmittelbar den Menschen und ihren Herden zugute kommen. Auch der sogenannten wilden Natur gebührt Respekt. So waren die mongolischen Stämme besonders in Phasen demographischen und ökonomischen Aufschwungs, wie zu Zeiten höchster Machtentfaltung unter Dschingis Khan und Nachfolgern, durchaus bereit, ihren Beitrag zur Wiederherstellung überausgebeuteter Landstriche zu leisten; das beinhaltete nicht nur Maßnahmen wie das Anlegen neuer und die Verbesserung alter Weideflächen, sondern auch Jagdverbote in riesigen, als Wildreservate ausgewiesenen Territorien. Und den Schutz des Wolfes, der als Hüter der Gesundheit ihrer Pferdeherden galt.

Vielleicht ist es ja spekulativ anzunehmen, dass sich im immer noch sehr naturnahen Kosmos der Nomaden-Viehzüchter das Erbe einer langen Inkubationszeit, das Vermächtnis aus einer Grauzone zwischen Jäger- und Hirtendasein als besonderes Natur- und Umweltverständnis erhalten haben könnte  – wie gesagt, das mag sich spekulativ ausnehmen, ganz unplausibel ist es nicht. Weil gerade vom Wolf bei den Mongolen die Rede war – aus der arabischen Ecke des Nomaden-Universums tönt es ganz ähnlich … auch hier ist das Tier noch ganz auf Augenhöhe mit dem Erzähler: „Nachdem wir das Feuer hatten auflodern lassen, besuchte uns ein Wolf. Dem warf ich ein Bratenstück zu, um mich nicht einer Grobheit schuldig zu machen gegenüber einem, der sich mir vertrauensvoll näherte. Da kehrte er, mit dem Braten im Maul, frohgemut um und schüttelte den Kopf wie ein plündernder Krieger, der mit seiner Beute glücklich nach Hause eilt“ (Muraqqish al-Abbar: Das Gespräch mit dem Wolf, vgl. Liedl 2019b, Seite 4 ff.).

Das kontrastiert doch einigermaßen mit einer gewissen ökonomisch erfolgreichen, ökologisch verheerenden Naturauffassung, die als eine der tragenden Säulen im geistigen Überbau moderner Industriegesellschaften eine lange Geschichte hat; eine Geschichte, die sich bis in die Anfänge des sogenannten Abendlandes zurückverfolgen lässt.

Der reich gedeckte Tisch wird abgeräumt. Bezüglich des Verschwindens von Oryx dammah & Co. – das Leitmotiv dieses Blogs – lassen sich prinzipielle Überlegungen anstellen, die es möglich machen, die ‚westlich-abendländische‘ Naturauffassung in einem Atemzug sowohl globalhistorisch als auch umweltpolitisch zu interpretieren.****** Geschwindigkeit, Rhythmus und die geographische Verteilung der Phänomene sind viel zu augenfällig aufeinander bezogen, um nicht sogleich stutzig zu machen. Um den Globus läuft eine Welle ökologischer Verarmung, und als untrügliches Indiz begleitet sie massivster Artenschwund. Ihren Ausgang nahm diese Welle schon während des Mittelalters (abendländischer Zeitrechnung), nämlich genau im Brennpunkt der neuen Denkungsart, in den – man beachte die Anführungsstriche – ‚fortschrittlichen‘ Territorien einer expandierenden Feudalgesellschaft. Ökologisches Indiz ist die zugleich mit den Wäldern verschwundene Großwildfauna – Bär, Wolf, Luchs; Ur, Wisent, Elch. Überall sonst auf der Welt, ja sogar an den südlichen Rändern Europas (was umso bemerkenswerter ist, als diese ‚Ränder‘ selbst wieder Zentren sind, hinter denen uralte Zivilisationen stehen) hatte sich ein ökologischer Zustand erhalten, der immer noch ‚reich‘ genannt werden durfte, geprägt von einer Ursprünglichkeit und Artenfülle, für die es keinen besseren Zeugen gibt als den ‚jungfräulichen‘ Kontinent Amerika mit seinen Bisons, Elchen, Wapitis, Weißwedel- und Maultierhirschen, Pronghorn-Antilopen und Dickhornschafen, Bergziegen und Karibus mit all den Beutegreifern im Schlepptau: Braun- und Schwarzbär, Grizzly und Eisbär, Timberwolf und Kojote, Puma, Rotluchs, Waschbär und Fuchs … Dazu die Riesenschwärme der Wandertaube, die Sandkraniche und Trompeterschwäne, Präriehühner, Kragenhühner, Hasel- und Truthühner … und da hätte man nur das wichtigste jagdbare Wild erfasst, das den Autochthonen als Lebensgrundlage diente und von ihnen auf nachhaltige Weise genutzt wurde. Bis die Europäer kamen …

So radikal deren Erschöpfungs- und Vernichtungsfeldzug war, so kurz ist auch die Zeit, die es brauchte, bis der Planet seines schönsten Schmucks, der Artenvielfalt, beraubt war. Gerade einmal zwanzig Jahre benötigten die nordamerikanischen Bisonschlächter, um den Bestand von 30 – 60 Millionen (die Schätzungen schwanken) auf ein paar Dutzend Tiere zu bringen. Und was die stolze Säbelantilope betrifft, das Tier des ägyptischen Sonnengottes, so war aus den vielen Tausenden, die noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Sahara durchstreiften, um die Jahrtausendwende eine glatte Null geworden: „Durch unkontrollierte Jagd, die zuletzt von Autos und Flugzeugen aus erfolgte, wurde die einst häufige Säbelantilope in der Wildnis vollkommen vernichtet. […] Ausgedehnte Suchexpeditionen in den Jahren 2001 bis 2004 konnten keine lebende Säbelantilope mehr sichten, sodass die IUCN [International Union for Conservation of Nature] den Status der Art auf in der Wildnis nicht mehr vorkommend ändern musste“ (Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Wikipedia).** Nicht wo der Fuß des Nomaden hintritt, wächst kein Gras mehr, sondern ...

Taurotragus derbianus: Das Tier und der Mensch | © Prague Zoo

Taurotragus & Co. Erinnern wir uns an das Motto der Triebökonomie: „Was häufig ist, hat wenig Wert. Seltenes dagegen ist kostbar.“ Dieses ‚Motto‘ kann aber auch als die Beschreibung der Gedanken gelesen werden, die dem Verschwender am Ende des Tages durch den Kopf gehen. Die Weißen (Europäer, Amerikaner) haben ein halbes Jahrtausend aus dem Vollen geschöpft. Jetzt, wo der Boden sichtbar wird, sind einige Vertreter des merkwürdigsten zivilisatorischen Konglomerats, das die Geschichte der Menschheit hervorgebracht hat, besorgt. Nun sei die Zeit gekommen, Kassasturz zu machen, sagen sie. Der „Bioplanet“ (Ahmetoglu et al. 2019),* so sagen sie, besteht aus sehr viel anorganischer und mittlerweile nicht mehr so viel, dafür aber reichlich ramponierter lebender Materie, die sich noch dazu, wie sie sagen, zum Großteil aus Individuen einer einzigen beziehungsweise einer Handvoll Arten zusammensetzt: Homo sapiens mit seinen Nutzpflanzen und Haustieren. Wenig verwunderlich, dass diese Besorgten im Sinne der verkehrtproportionalen Wertlehre (siehe oben) die Überreste einer ehemals ungeheuren Artenfülle als Kostbarkeit wahrnehmen:

„Die Westliche Riesen-Elenantilope (Tragelaphus derbianus derbianus, Gray, 1847) kommt nur im Nationalpark Niokolo Koba im Südosten Senegals vor und ihre Zahl ist äußerst gering. Halbwild werden sie auch in den Reservaten Bandia und Fathala im Westen Senegals gehalten. Die Westliche Riesen-Elenantilope ist eine der größten Antilopen der Welt und zugleich eine der am stärksten gefährdeten Arten unseres Planeten“ (Eintrag ‚Antelope Conservation‘ auf derbianus.cz, Zitat gekürzt).****

Die aus Lehrenden und Akademikerinnen der Fakultät für tropische Agrarwissenschaften an der Tschechischen Universität für Biowissenschaften in Prag bestehende NGO, von deren Homepage das Zitat stammt, befasst sich seit der Jahrtausendwende erfolgreich mit der Nachzucht von Taurotragus derbianus derbianus und ist dabei, durch Auswilderung und Wiederansiedlung das letzte Vorkommen dieser westafrikanischen Unterart der Riesen-Elenantilope in freier Wildbahn zu erhalten. Den größten Teil des heutigen Bestandes, mehr als 150 Tiere, bilden die in zwei privaten senegalesischen Wildreservaten (Fathala und Bandia) gehaltenen Exemplare aus dem Nachzucht-Programm. Von dem um 1990 auf 700 –800 Stück geschätzten Bestand im Niokolo-Koba Nationalpark leben heute vielleicht noch 100 Tiere. Den Ernst der Lage kann man einem anderen aktuellen Netzeintrag entnehmen:

„Dramatische Bestandsrückgänge erlitten alle Huftiere, die Pferdeantilope von mehr als 6000 im Jahre 1990 auf aktuell etwa 700, die Westafrika-Kuhantilope von 5000 auf 150, die Kob-Antilope von 24.000 auf aktuell etwa 100, Defassa-Wasserbock von über 3000 auf 10 sowie der Afrikanische Büffel von 8000 auf weniger als 500. Erloschen sind der westlichste Bestand der Westafrikanischen Giraffe (Giraffa camelopardalis peralta) sowie des Elefanten. Unsicher ist, inwieweit nationale wie internationale Schutzmaßnahmen Erfolg haben werden. Die Probleme der ungebremsten Wilderei mit schweren Waffen, die Jagd auf Bushmeat sowie der Vogelfang sind unter den gegebenen Umständen nicht gelöst“ (Eintrag ‚Nationalpark Niokolo-Koba‘ auf Wikipedia, Zitat gekürzt).****

Abspann: Der Kreis schließt sich. Im Orient, wo alles begann, wo die Menschheit erstmals das ‚Wild der Wüste‘ zähmte und, jedenfalls nach Expertenmeinung, die frühesten ökologischen Prüfungen zu bestehen hatte, scheint sie heute, ökologisch gewendet und | oder geläutert, zu ihrer zivilisatorischen Sendung zurückzufinden. Nun, vielleicht ist es nicht gerade die Menschheit als solche, die das tut, wohl aber der eine oder andere prominente (und jedenfalls mehr als nur begüterte) Vertreter derselben. Von einem solchen Vorbild, das sein nicht unbeträchtliches Vermögen für das Gute einsetzt, heißt es:

„Den Wildpark Al Bustan hat er aus Liebe zu den Tieren eingerichtet. Und als seinen ganz persönlichen Beitrag zur Arterhaltung. An keinem anderen Ort spürt er seine Verantwortung intensiver als hier.“ ***** Der Park ist auf die Nachzucht gefährdeter Arten spezialisiert – neunzig Prozent des Tierbestandes sind Spezies, die auf der Roten Liste stehen. Das faunistische Who is Who des Tierfreundes aus den Vereinigten Arabischen Emiraten  geht von erfolgreich nachgezüchteten Geparden (Acinonyx jubatus) über Okapis (Okapia johnstoni), den stark bedrohten Arabischen Thar (Arabitragus jayakari) bis zur Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbianus) und anderen bedrohten Antilopen- und Gazellenarten, darunter die in freier Wildbahn wahrscheinlich bereits ausgestorbenen Sömmerringgazellen (Nanger soemmerringii) aus dem Sudan (siehe dazu auch BLOG # 3 vom 13. Oktober 2022).

Hier schließt sich der Kreis. Vor mehr als 4000 Jahren hat ein genau beobachtender Künstler bei der opulenten Ausgestaltung der Grabkammer des Ptah-hotep aus Sakkara minutiös wiedergegeben, was dem Verstorbenen wichtig genug war, um für ihn auch im Jenseits unverzichtbar zu sein. Neben Jagd, Fisch- und Vogelfang in den Papyrussümpfen des Nil ließ sich der hohe Verstorbene auch seinen Privatzoo in die Anderwelt transferieren – mit Säbel- und Mendesantilopen, Steinböcken und Gazellen. Gazellen wie die an ihrem weißen Spiegel klar als solche erkennbare – Sömmerringgazelle:

Eine Herde Sömmerringgazellen in Al Bustan | © Al Bustan Zoological Centre

Sömmerringgazelle mit Wärter, altägyptisch | Quelle: Justi 1885, Seite 70*

Ein Fanal. Zu denken, dass das Verbreitungsgebiet dieses in riesigen Wanderherden zwischen Nil, Atbara und den Vorbergen des Äthiopischen Hochlandes hin und her ziehenden Wildtiers einst bis nach Oberägypten reichte – und dass die anmutige Gazelle heute, am Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends, ohne den Eigensinn eines Tierfreundes vom Persischen Golf vielleicht für immer von der Erde verschwunden wäre, wie so viele andere prächtige Geschöpfe aus der Kollektion des großen Meisters...

Aber wie die Geschichte zeigt, hat in der Realität wie in der Kunst nicht immer der Tod das letzte Wort. Auch nicht der Tod einer Tierart.

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*Literatur:

Ahmetoglu et al. 2019 = Özlem Ahmetoglu | Stephanie Fischer | Katinka Holupirek | Laura Joppien | Andrea Lammert | Andrea Rudolf: Der Bioplanet. Die spektakulärsten Naturreservate weltweit. Kunth Verlag: München 2019.

Atlas 1987 = Lee Durrell | Internationaler Naturschutzverband (IUCN) (Hg.): Gaia – Die Zukunft der Arche. Atlas zur Rettung unserer Erde. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1987.

Boessneck 1981 = Joachim Boessneck: Gemeinsame Anliegen von Ägyptologie und Zoologie aus der Sicht des Zooarchäologen. Vorgetragen am 12. Juni 1981. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften | C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung: München 1981.

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Deleuze | Guattari 1979 = Gilles Deleuze | Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 1979 [Paris 1972].

Edel 1961 = Elmar Edel: Zu den Inschriften auf den Jahreszeitenreliefs der „Weltkammer“ aus dem Sonnenheiligtum des Niuserre. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Nr. 8. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1961.

Edel 1964 = Elmar Edel: Zu den Inschriften auf den Jahreszeitenreliefs der "Weltkammer" aus dem Sonnenheiligtum des Niuserre, Teil 2. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Nr. 5. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1964.

Edel | Wenig 1974 = Elmar Edel | Steffen Wenig: Die Jahreszeitenreliefs aus dem Sonnenheiligtum des Ne-user-re (= Mitteilungen aus der Ägyptischen Sammlung. Band 7). Tafelband. Akademie-Verlag: Berlin 1974.

Helck 1980 = Wolfgang Helck: Jahreszeitenreliefs. In: Wolfgang Helck | Eberhard Otto (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Band 3: Horhekenu – Megeb. Harrassowitz: Wiesbaden 1980, Spalte 241.

Helck 1986 = Wolfgang Helck: Weltkammer. In: Wolfgang Helck | Eberhard Otto (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Band 6: Stele – Zypresse. Harrassowitz: Wiesbaden 1986, Spalte 1215.

Justi 1885 = Ferdinand Justi: Geschichte der Orientalischen Völker im Altertum. Mit Illustrationen und Karten. Historischer Verlag Baumgärtel: Berlin 1885.

Kingdon 1991 = Jonathan Kingdon: Arabian Mammals. A Natural History | Thaddiyāt ul-djazīra l-‘arabiya. Bahrain – London – San Diego 1991.

Liedl 2019a = Gottfried Liedl: Faszinosum Fernhandel (Einbegleitung). In: Peter Feldbauer: At-Tiğāra. Handel und Kaufmannskapital in der islamischen Welt des 7.–13. Jahrhunderts. Mandelbaum Verlag: Wien 2019, 7–29.

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Liedl 2019b = Gottfried Liedl: Der Islam und seine nomadischen Träger: Koranische Naturethik, Pflanze und Tier im Denken der Eliten. In: Religionen unterwegs, 25. Jg. Nr. 1 (März 2019), 4–16.

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Liedl | Feldbauer 2024 = Gottfried Liedl | Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Ausschnitte: 1. Räume und Landschaften; 2. Das Vermächtnis islamischer Landwirtschaft. Online-Version (2024).

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Ortega y Gasset 1986 = José Ortega y Gasset: Sobre la caza, los toros y el toreo. Ed. por Paulino Garagorri. Alianza Editorial: Madrid 1986 (Madrid 1960).

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**Säbelantilope, Netzeinträge:

Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Biologie-seite.de

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Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Wikipedia

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Eintrag ‚Säbelantilope (Altes Ägypten)‘ auf Wikipedia

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Eintrag ‚Sonnenheiligtum des Niuserre‘ auf Wikipedia

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Eintrag ‚Bou-Hedma-Nationalpark‘ auf Wikipedia

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***Zur Rückkehr der Säbelantilope:

Eintrag ‚Tschad: 600 Säbelantilopen in freier Wildbahn‘

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Eintrag ‚Tschad: Auswilderung der Säbelantilope auf gutem Weg‘

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****Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbianus), Netzeinträge:

Eintrag ‚Nationalpark Niokolo-Koba‘ auf Wikipedia

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Eintrag ‚Antelope Conservation‘ auf derbianus.cz

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*****Ein orientalischer Tierfreund (Der Wildpark Al Bustan):

90% of the animals at the 17-hectare Al Bustan Zoological Centre are endangered“: Gulf News, 1. Juni 2013

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******Versuch einer Erklärung. Vielleicht ist er ja weniger Ausdruck einer Condition humaine – ein allgemein menschlicher Zug –, als vielmehr das Charakteristikum unserer 'westlich-abendländischen' Zivilisation: jener Drang, den reich gedeckten Tisch der Natur zu plündern ... oder, um das gebrauchte Bild noch einmal aufzufrischen: dem 'Da' ein triebhaftes 'Fort' entgegen zu setzen. So formuliert – als eine Psychologie des Naturgebrauchs sozusagen – mag es uns als Eintrittspforte zum Problem seine mehr oder weniger guten Dienste leisten. Wir sollten aber auch ernst nehmen, was der große Braudel über die gesellschaftliche Wirklichkeit gesagt hat: dass die Gesellschaft als integratives Ganzes aufzufassen sei, in welchem sich einerseits die gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen ständig gegenseitig beeinflussen, andrerseits die Grenzen zwischen ihnen „fließend wie Wasser“ seien (Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, Kapitel 5). Im Falle der Ökologiegeschichte des 'Abendlandes' heißt das aber, dass die beschriebene Condition auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse herunter gebrochen werden muss. Was hat es unter diesen Voraussetzungen mit jenem unzweifelhaft feststellbaren 'Hass', mit dieser Zerstörungs- und Vernichtungswut der Europäer auf sich? Ist diese Wut denn tatsächlich das Kennzeichen 'der' Europäer? Ist sie nicht vielleicht ein Kennzeichen, dessen Natur weniger psychologisch als vielmehr soziologisch aufgeklärt werden könnte und sollte? Anders gesagt, handelt es sich dabei nicht um ein, wie es im Soziologenjargon heißt, klassenspezifisches Phänomen? Jene Europäer, die beispielsweise in der Neuen Welt unter den wilden Tieren und Pflanzen wie Berserker wüteten, hatten die nicht eben erst die Fesseln eines strengen Feudalregimes abgestreift, wo ihnen von der Obrigkeit jeglicher Gebrauch natürlicher Ressourcen außerhalb der engen Grenzen der Feldarbeit bei Leibesstrafe untersagt war? Die jedoch andrerseits taten- und machtlos zusehen mussten, wenn das Wild der hohen Herren ihre Felder verwüstete und ihre Ernten vernichtete? Von dieser durch Forstgesetze und Jagdverbote um ihre angestammten Nutzungsrechte gebrachten ländlichen Bevölkerung war wenig Empathie für eine Natur zu erwarten, die ihnen von der herrschenden Klasse – je nach Blickwinkel – aufgedrängt oder vorenthalten wurde. Der Verweis auf eine allgemeine Condition humaine oder, spezieller, européenne greift da anscheinend zu kurz. Was wiederum nichts an der Tatsache eines in ökologischer wie auch politisch-wirtschaftlicher Hinsicht deutlich erkennbaren europäischen Sonderwegs ändert. So gesehen stimmt der Wink mit dem Zaunpfahl, dass es sich um eine 'Condition', eine strukturelle Angelegenheit handeln müsse.

Außerdem hat sich jene Besonderheit seit etwa einem halben Jahrtausend so konsequent über den ganzen Globus verbreitet, dass sie nun in der Tat 'die Menschheit als solche' (zumindest den Charakter von ausnehmend vielen Menschen) zu prägen scheint. Die Kurve des Verschwindens natürlicher Schätze (um den Ausdruck zu wiederholen, der das Drama zwischen Ökologie und Ökonomie auf den Punkt bringt) korreliert mit dem Siegeszug besagter 'westlich-abendländischer' Zivilisation. Einen Populationsschwund von 69 % seit 1970 – also das Schrumpfen der Individuenzahl wilder, sprich nicht domestizierter Tier- und Pflanzenarten auf weniger als die Hälfte – gab das renommierte Nachrichtenportal Bloomberg Green, sich auf eine wissenschaftliche Studie berufend, erst unlängst bekannt (Bloomberg Green, Newsletter vom 10.4.2024). In diese Zahl muss auch die Vernichtung dreier Wildtierarten im Naturschutzgebiet Lainzer Tiergarten eingerechnet werden (siehe dazu BLOG # 4, BLOG # 5). Peinlich für eine Großstadt, die sich ihres Umwelt-Engangements zu rühmen pflegt – und eine Beschämung der Wiener Lokalpatrioten, sofern sie Naturliebhaber sind.