Wir sind die Krone der Schöpfung
Na, dann is‘ ja gut
Nach uns die Sintflut, nach uns die Sintflut
Seid auf der Hut
Wir sind die Krone der Schöpfung (Die Prinzen)
Gestern Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte von einem Gorilla, der sich auf die Brust schlug und dabei ausrief: „Ich geh‘ jetzt! Auf Nimmerwiedersehen.“ Als ich aufwachte, war mein erster Gedanke: Der Affe hat recht. Gorilla & Co. haben einfach das Pech, in einer Welt zu leben, die ihnen nicht gehört. Als mehr oder weniger geduldeten Untermietern der Menschheit überreicht ihnen jetzt der Gerichtsvollzieher den Räumungsbescheid: „Der Wohnungsbesitzer hat Eigenbedarf angemeldet.“
Als Pendant zum Traum gab‘s eine Lesung. Eine immerhin mit dem Wissenschaftsbuchpreis ausgezeichnete Autorin* stellte in einer renommierten Wiener Buchhandlung ihr neuestes Buch** vor und berichtete über Ergebnisse auf dem Gebiet der Elefantenforschung. Um es kurz zu machen – das Interesse an Loxodonta africana und Elephas maximus, beide Gattungen in großer Gefahr, von unserem Planeten auf immer zu verschwinden, hielt sich in Grenzen … Mehr noch: in der sehr überschaubaren Schar der Anwesenden war die Vortragende mit ihren 47 Jahren die eindeutig Jüngste im Raum, den Altersschnitt der Runde würde man mit 70 Jahren sicher nicht überschätzt haben.
Kein Schwein interessiert sich für Elefanten. Es mag ja sein, dass für ‚die Menschheit‘ und in der so oft bemühten ‚(Kultur-) Geschichte der Menschheit‘ der Elefant ein emblematisches Tier ist. Für jene sehr konkrete Masse, gebildet aus mehr als acht Milliarden Individuen, die heute den Planeten bevölkern, ist er es ganz sicher nicht. Den meisten Erdenbürgern der Spezies Homo sapiens sind die anderen Arten – mit Ausnahme ihrer Eignung, von Homo sapiens verspeist oder sonstwie genutzt werden zu können – volkstümlich gesprochen wurscht (schnuppe, schnurz, piepegal, wayne … you name it). Die Aussage, dass der Elefant „bester Freund, Partner, Forschungssubjekt, Arbeitsgerät, Geldquelle oder Feind […] für einen Menschen sein [kann]“ (Stöger 2023, Seite 16), ist nur unter der Einschränkung wahr, dass es sich bei besagtem 'Menschen' um das Individuum einer Teilmenge handelt, die so klein ist, dass man sie mit der Lupe suchen muss. Nähe zur Natur, Verständnis für Natur oder gar Naturschutz waren stets und sind heute mehr denn je ein Minderheitenprogramm (BLOG # 20: Kaum Chancen für Mutter Erde).
Was Natur den Vielen bedeutet. Wenn der wackere Nachfahre Adams, die typische Evatochter egal wo immer auf diesem Planeten Natur interessant, nett, toll, wichtig oder sympathisch findet, liegt der Skeptiker, die stringent Denkende sicher nicht falsch mit der Vermutung, dass es sich bei solch positiver Einstellung zur Natur um ein höchst interessegeleitetes Verhalten handle. ‚Natur‘ ist dort, wo sie nicht Objekt unlustbehafteter Tätigkeit, vulgo Arbeit ist – also im Idealfall –, Sportgerät oder Kulisse: wandernd, Berge erklimmend beziehungsweise von den Gipfeln derselben per Mountainbike, Snowboard oder Ski zu Tale eilend, ist der aktive, um nicht zu sagen hyperaktive Mensch ganz bei sich; auch dem Einfamilienhausbesitzer sind Wald und Wiese nur Kulisse. Und dann ist da noch jenes kleine Segment der Hominiden, welche die Natur in Besitz genommen haben: als Quelle eines meist nicht unerheblichen, wiewohl prekären Reichtums. Und die Anderen, die Wenigen? Sie mögen sich auf den Kopf stellen, an Brückengeländer ketten oder auf die Straße kleben: die Herzen der Vielen gewinnen sie nicht.
Worüber die Chronik dennoch nicht schweigen sollte. „Jetzt erst recht.“ Manchmal trifft das Gift auf Gegengift. Zwar nur in kleinen Dosen, aber immerhin. Exkurs über drei Maßnahmen gegen die Trägheit des Herzens.
Maßnahme eins betrifft die Schwerkraft der Zeit: Man trachtet danach, Verschwindendes am Verschwinden zu hindern („aufgehaltenes Schwinden“). „Auf dem afrikanischen Kontinent sind erstmals seit einem Jahrzehnt mehr Nashörner als im Vorjahr festgestellt worden. Wie die Weltnaturschutzunion (IUCN) bekannt gab, lebten Ende 2022 fast 23.300 Nashörner in Afrika – und damit 5,2 Prozent mehr als noch 2021. Demnach stieg sowohl die Zahl der Breitmaulnashörner als auch die der Spitzmaulnashörner wieder an. Michael Knight, Wildtierforscher und Leiter der IUCN-Expertengruppe für Nashörner in Afrika, sprach von einer ‚guten Nachricht‘, dank der die Organisation ‚zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder aufatmen‘ könne“ (Richard Klug, ARD Johannesburg).***
„Wieder aufatmen“ könnte nach dieser Lesart auch der Amazonas-Regenwald, sofern Maßnahme Nummer zwei hält, was sie zu versprechen scheint: „Es gibt Dinge, die wir loslassen müssen, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Brasilien eine Agrarmacht ist, weil es große für die Landwirtschaft geeignete Gebiete besitze und der Wald in Ackerland umgewandelt werden könne. Diese Idee muss aufgegeben werden. Null Entwaldung impliziert wirtschaftliche Aktivität nur in Gebieten, die legal genutzt werden können. Wir können nicht weiter nur vom Rohstoffboom leben – auch diese Idee muss aufgegeben werden“ (Marina Silva, brasilianische Umweltministerin in einem Interview mit Bloomberg Green: Bloomberg Green, Newsletter vom 15. September 2023).
Die Umwandlung politischer Theorie in umweltpolitische Praxis zeigt die dritte hier vorzustellende Maßnahme; im Mittelpunkt steht wieder der Amazonas-Regenwald mit dessen autochthonen Bewohnern als ‚Wächtern des Waldes‘: „Der Einsatz hochtechnologischer Überwachungsinstrumente [Drohnen] in einem der tiefsten Winkel des Amazonas-Regenwaldes [Ecuadors] zeigt, wie fortschrittliche Technik genutzt werden kann, um Abholzung und andere illegale Aktivitäten, welche die Ökosysteme schädigen, zu verhindern. Zugleich ist das ein Beitrag zum Schutz traditioneller Lebensweisen. […] In Ecuador besitzen indigene Gemeinschaften Landrechte an großen Teilen des Amazonasgebiets, das die östliche Hälfte des Landes ausmacht“ (Drohnen für den Amazonas: Bloomberg Green, Newsletter vom 22. September 2023).
Wohl wahr, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Gedanken zum Tod der Umweltschutzbewegung. Man kann es auch übertreiben. An einem bestimmten Punkt führt der Appell, gut zu sein, zum Überdruss am Guten. Dreimal täglich Wienerschnitzel, siebenmal die Woche, ist wahrscheinlich eine äußerst probate Methode, Fleischfresser zu Veganern zu machen. Romantischer Überschwang in der Wertschätzung egal welcher Sache führt bei den Wertschätzenden selbst in der Regel zu Messianismus und bei den Missionierten zum Nein, danke-Syndrom. „Die Natur wird’s schon richten. Lass‘ sie nur machen … und mich in Ruhe.“ Vielleicht ist es ja nicht nur logisch sondern auch vernünftig, dass die Vielen dem Trägheitsmoment huldigen und so das Schwungrad des Eiferers bremsen. Dass die Chronik, die das Erinnerungswürdige für die Vielen aufbewahrt, in Bezug auf Missionare und Eiferer eher zum Schweigen tendiert, ist so betrachtet kein Wunder. Obwohl sicherlich kein unumstößliches Naturgesetz, ist auf dem Felde der Geschichte der Widerwille der Chronisten, dem Extremismus ein Gedächtnis zu geben, nützlich, sozial bekömmlich und daher in Ordnung.
Nachsatz: Weniger sozial Bekömmliches (Stichwort: Gier) ist unlängst von der Umweltsprecherin einer österreichischen Partei im Parlament angesprochen worden. Rohstoffverbrauch & Bodenverbrauch, in der Alpenrepublik ohnehin schon weit über EU-Durchschnitt liegend, will einfach nicht geringer werden. „Weil es um ein riesiges Wirtschaftsgut geht, an dem alle auch immer gut verdient haben.“ Der Clou liegt im Wörtchen ‚Alle‘. Der Begriff bedeutet hier die Gesamtheit einer Minderheit, die glaubwürdig und überzeugend (Stichwort: Reichtum) den Vielen zeigt und sagt, wo‘s lang geht.
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* Angela Stöger ist eine österreichische Ethologin, Kognitionsbiologin, Expertin für Bioakustik und Lautkommunikation mit dem Schwerpunkt Elefantenforschung. Sie arbeitet am Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Mammal Communication Lab der Universität Wien.
** Stöger 2023 = Angela Stöger: Elefanten. Ihre Weisheit, ihre Sprache und ihr soziales Miteinander. In Zusammenarbeit mit Patricia McAllister-Käfer. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2023
*** Richard Klug, ARD Johannesburg, Tagesschau, 22.09.2023, 20:00 Uhr: Über das aufgehaltene Verschwinden der Nashörner
Das war ja zu erwarten gewesen. Wegen „Bagatellisierung des Artensterbens“ – so ein aufgebrachter Naturfreund, dem meine harsche Kritik am Begriff Noxious Wildlife, ‚Schädling‘, zu weit ging – wurde ich ordentlich gebasht. And rightly so. „Wie – du gibst ihm recht?“ – „Ja. Beziehungsweise: nein. Also irgendwie.“
Natürlich haben die Argumente derjenigen, die das Gefahrenpotenzial betonen, wie es unkontrolliert verbreiteten nicht-einheimischen Arten innewohnt, einiges für sich. Die Ausrottungsgeschichte zeigt aber, dass es in erster und letzter Instanz nicht die ‚schädlichen‘ Arten als solche waren und sind, welche ein vorgefundenes ökologisches Gleichgewicht stören oder gar zerstören, sondern die Menschen, die den Neuankömmlingen den Einstieg ins Ökosystem erst ermöglicht haben.
Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wie groß, wie definitiv ist der angerichtete Schaden? Zweitens: Lässt er sich wiedergutmachen – und um welchen Preis?
„Geschichte lebt.“ Von der bloß scheinbaren Stabilität der Ökosysteme. In meiner Schulzeit gab man uns ein Buch zu lesen, das trug den Titel „Geschichte lebt“. Darin wurde die Hypothese aufgestellt, dass Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken. Nicht jedem Ereignis wohnt die Kraft der Fernwirkung inne, nur Schlüsselereignisse verfügen über sie. Nach solchen ‚besonderen Voraussetzungen‘ gilt es also zu suchen im Rahmen ökologiehistorischer Fragestellung – getreu der Maxime: „Vor den Schlussfolgerungen das Verstehen, vor dem Verstehen die Analyse.“
Das gilt auch für die Ausrottungsgeschichte. Wann, wo und unter welchen besonderen Umständen wirken sich Umwelt-verändernde Akte des Homo sapiens auf das Netzwerk des Lebens aus – und wie einschneidend, wie nachhaltig, wie umfassend, wie folgenschwer sind sie? Zweitens der Versuch, zu verstehen: Nicht überall sind die Auswirkungen ein und desselben Eingriffs gleich einschneidend, nachhaltig, umfassend, folgenschwer. Daher drittens der Akt des Schlussfolgerns: Wenn es keine einheitlichen Regeln zu geben scheint, nach denen sich das Drama der Umweltveränderung überall und zu allen Zeiten identisch zeigt – und zu diesem Schluss kommen Historiker, Historikerinnen unweigerlich, sobald sie sich beobachtend durch Zeit und Raum bewegen –, kommt auch in der Ausrottungsgeschichte nur selten vor, was Marcel Mauss (1872–1950) ein Fait social total genannt hat, ein in sich abgeschlossenes Ereignis mit eindeutiger, vorhersagbarer und feststehender Wirkung hinsichtlich des Ganzen und all seiner Teile (Marcel Mauss: Die Gabe / Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaiques – Link).
Es kommt nicht nur darauf an, was, sondern auch wo es geschieht. Von der ökologischen Divergenz. Impact ist nicht gleich Impact. Seit dem kreativen, Ökologie-affinen Ansatz des Amerikanisten Alfred W. Crosby (1931–2018)* hat sich der Blick geweitet. Bis dahin unbezweifelte Annahmen erscheinen in neuem Licht. Vor allem die sogenannte Entdeckungsgeschichte, die man besser Eroberungsgeschichte nennt und von der die Ausrottungsgeschichte ein wichtiger Zweig ist, hat sich gegen die Verlockungen und Versuchungen des Determinismus („wie es kam, so musste es kommen“) ein Stück weit immunisiert.
Crosby konnte zeigen, dass sich ein und derselbe faktenhistorische Vorgang – zum Beispiel die Eroberung eines Territoriums – in der Alten Welt ganz anders vollzieht als in der Neuen Welt nach deren ‚Entdeckung‘ durch die Europäer: nämlich unter ökologischen und epidemiologischen Aspekten genau konträr. In diesem, wie Crosby ihn nennt, Columbian Exchange (Austausch von Menschen, Tieren und Pflanzen „ab der Zeit des Columbus“, sprich seit dem ominösen Datum 1492) scheint sich die Europäische Expansion von den Eroberungen und Rückeroberungen, wie sie in der Alten Welt, also auf dem Eurasiatisch-Afrikanischen ‚Superkontinent‘ seit vielen Jahrtausenden üblich waren und immer noch sind, verblüffend deutlich zu unterscheiden. Die Ökologie der Alten Welt erscheint durch das Auf und Ab der Menschheitsgeschichte ungleich weniger stark in Mitleidenschaft gezogen, als dies in den wenigen hundert Jahren europäischer Besiedlung Nord- und Südamerikas der Fall war, wo der ursprüngliche Floren- und Faunenbestand vielfach so stark überformt, verändert oder zerstört wurde, dass eine Rekonstruktion der Situation vor Columbus fast nicht mehr möglich ist (Crosby: Columbian Exchange, Seite 211 f.; Link).*
Je isolierter ein Ökosystem ist, desto geringer seine Resilienz. Auf dieser Annahme hat Crosby seine Akklimatisationstheorie errichtet, indem er zu zeigen versuchte (mit teilweise hoher, teilweise weniger hoher Plausibilität), dass die Ökosysteme Nord- und Südamerikas aufgrund ihrer Jahrtausende währenden Abgeschiedenheit vom Rest der Welt dem Input neuer Spezies erliegen mussten; die ‚Neuen‘, aus ihrer viel ‚weltoffeneren‘ Entwicklungsgeschichte heraus biologisch anpassungsfähiger, resilienter und weniger stressanfällig (sprich weniger anfällig für Krankheiten und Seuchen), ‚outperformten‘ die Einheimischen.
Historiker wie Richard H. Grove verknüpften Crosby’s biologistische Sicht mit der älteren Imperialismus-Theorie und machten – durchaus im Einklang mit Erkenntnissen der ökologischen Forschung – das ‚Inseltheorem‘ zu einem brauchbaren Werkzeug der Geschichtswissenschaft.* Grove konnte zeigen, dass die ersten europäischen Kolonien, insofern sie Stützpunkt- oder Inselkolonien waren, als Orte massiver ökologischer Degradation zugleich Brennpunkte eines hocheffizienten Artentransfers darstellten und ergo dessen als echte Hotspots der Ausrottungsgeschichte anzusehen sind. Genau da beginnt es problematisch zu werden – nicht für die Historiographie sondern für die angewandten Umweltwissenschaften.
Die Insel als umweltpolitisches Paradigma. Die Schicksale von Pflanzen und Tieren, die auf Inseln vorkommen, so stellt die Wissenschaft fest und zuletzt auch wieder der Naturfilmer, Volksbildner und Umweltexperte David Attenborough* (ich beziehe mich gern auf ihn, weil ich ihn schätze, ja verehre), zeigen verblüffende Ähnlichkeiten untereinander. Sehr oft handelt es sich um Arten oder Unterarten, die endemisch sind, also nur lokal vorkommen. Zu ihren nächsten Verwandten auf dem Festland weisen sie auffallende genetische Unterschiede auf – die Palette reicht von verminderter Immunstärke bis zum Verlust lebens- und arterhaltender Fertigkeiten (etwa der Flugfähigkeit bei Vögeln) und Instinkte wie Feindvermeidung, Tarnung etc. Das bekannteste Beispiel ist der berühmte Dodo von Mauritius, eine plumpe Taube, die weder fliegen konnte, noch über ein ausgeprägtes Flucht- oder Tarnverhalten verfügte … und prompt ausgerottet wurde. Ebenfalls keine Seltenheit bei Inselpopulationen sind auffällige Zwerg- oder Riesenformen (größere Tiere verzwergen, kleine Tiere entwickeln sich zu Giganten).
Fluch oder Segen – der genetische Flaschenhals. All das – und die Abwesenheit von Fressfeinden beziehungsweise Nahrungskonkurrenten – hat dazu geführt, dass sich als Ergebnis solch evolutionärer Engführung hochspezialisierte, phänotypisch extreme, zahlenmäßig eher kleine und lokal begrenzte Inselpopulationen von Arten herausgebildet haben, die anderswo unspezialisierte Formen und zahlenmäßig starke Populationen entwickelt hätten oder auch haben. Dabei sind genetische Flaschenhälse per se nichts Nachteiliges für eine sich dabei umformende oder neu herausbildende Spezies. Das zeigt etwa das Schicksal von Bison bison L., der sich genau auf diese Weise aus recht spezialisierten, bezüglich Umweltbedingungen ziemlich anspruchsvollen Stammformen zu einem der anpassungsfähigsten und kopfstärksten Vertreter der nordamerikanischen Großtierfauna entwickelt hat.
Nicht so die typischen Inselformen. Die wenigen Individuen der Ausgangspopulation – der sogenannte genetische Flaschenhals – sind hinsichtlich der Ausbreitungsmöglichkeit ihrer Nachkommen ohne große Perspektive (eine Insel setzt jeder Massenvermehrung sehr rasch sehr klare Grenzen). Damit aber können die inzuchtbedingten genetischen Nachteile nicht ausgeglichen werden, auch nicht in Jahrhunderten ungestörter Entwicklung – Paradoxon einer Überangepasstheit, so typisch für Bewohner kleiner und kleinster ökologischer Nischen.
„Wir könnten nun wenigstens annehmen, dass Inseltiere [und Pflanzen, G.L.] so gut an ihre jeweilige Umgebung angepasst sind und deren Ressourcen so optimal ausnutzen, dass kein Eindringling es vermag, ihren Platz einzunehmen. Dem ist aber nicht so. Stattdessen wirkt es, als hätten die Insulaner im Schutz ihrer abgelegenen Inseln und fernab des Trubels großer, vielfältiger Gesellschaften die Streitkunst verlernt. Sie können ihre Position gegenüber der neuen Konkurrenz nicht behaupten. Und es scheint, als wären viele Inselbewohner dem Untergang geweiht, sobald die Schutzbarriere ihrer Heimat erst einmal durchbrochen ist“ (Attenborough: Der lebendige Planet, Seite 275).*
Neuseeland & Co. als umweltpolitisches Vorbild? Ökologiehistorisch betrachtet, entspricht der insularen Nische eine einzigartige Typologie evolutionärer Prozesse – mit unverwechselbaren Mustern beim Übergang von Zeiten ökologischen Gleichgewichts (Klimax) zu Phasen des Umbruchs und der Neuordnung. Im Unterschied zum Rest der Welt geht die Evolution auf Inseln oder, allgemein gesprochen, überall dort, wo das Ökosystem Merkmale von Inseln aufweist, einen Sonderweg. Auch in isolierten ökologischen Nischen (einzelne Hochtäler, Überreste ehemaliger Naturlandschaften oder Biome mit besonders schutzwürdigen Populationen bedrohter Arten) kann es zwischen alter und neuer Ordnung, Klimax und Umbruch keine Kompromisse geben, weil schon die Evolution als solche dort keine sanften Übergänge vorsieht. Mit anderen Worten: Inseln und inselähnliche Lebensräume sind prädestiniert für ‚harte‘ Veränderungen nach Art des Columbian Exchange.
Der Name ‚Neuseeland‘ steht hier für die unzähligen großen und kleinen Inselbiome des Blauen Planeten – von den Antillen in der Karibik bis zu Polynesien und den Galápagosinseln im Pazifischen Ozean; auf St. Helena und auf Madagaskar, auf Mauritius oder den Seychellen, von Neuguinea bis Tasmanien oder Neuseeland herrschen überall die typischen, oben skizzierten Bedingungen …
Diese Inselbedingungen – lassen sie sich auf andere, ‚kontinentale‘ Verhältnisse übertragen? Oder zumindest in diese hinein übersetzen? Wohl eher nicht. Und wenn doch, handelt es sich mit Sicherheit um ‚inselähnliche‘ Situationen nach Art der ebenfalls weiter oben beschriebenen ökologischen Nischen oder Reste ehemals ausgedehnterer Lebensräume. Was bedeutet das für den Umweltschutz im globalen Maßstab?
Umweltveränderung als ökologischer Großversuch. Auf Neuseeland und den anderen Inseln, deren paradigmatische Bedeutung für den modernen Umweltgedanken man nicht in Frage stellen muss (wohl aber bisweilen die Übersetzung dieser Bedeutung in die Praxis), spielen sich sowohl Evolution als auch moderne Umweltveränderung und Naturzerstörung gewissermaßen im Zeitraffertempo ab. So hat die Evolution auf Neuseeland eine Artenzusammensetzung entstehen lassen, wo 85 Prozent der etwa 2.300 einheimischen Pflanzen endemisch sind, also ursprünglich nur auf diesen beiden Inseln beziehungsweise deren Nebeninseln vorkamen. Mittlerweile wachsen viele dieser ‚Solitäre‘ über die ganze Welt verstreut in Arboreten und Botanischen Gärten … aber das ist schon eine andere Geschichte, eine, die mit der europäischen Expansion zu tun hat und von der schon öfter die Rede war.**
Vielleicht noch deutlicher als die florale Welt zeigt sich Neuseelands Fauna*** als Erbe eines insularen Sonderwegs. Zu nennen wären mehrere Pinguinarten; der flugunfähige Schnepfenstrauß, besser bekannt unter seinem einheimischen Namen Kiwi – das Wappentier der Insel ist mit gleich fünf Arten vertreten –; aus der Familie der Papageien drei Arten: der flugunfähige Eulenpapagei (Kakapo), der für seine Schlauheit und Intelligenz berühmte Kea und der Waldpapagei (Kaka); weitere, weniger bekannte endemische Arten sind Saumschnabelente, Neuseelandente, Schwarzer Stelzenläufer, Takahe und Wekaralle, die Maori-Fruchttaube, der Maorifalke; aus der Klasse der Säugetiere der vom Aussterben bedrohte Maui-Delfin … und viele andere mehr.
Auch für den anderen, den negativen Aspekt von ‚Insularität‘ (wenn man denn das Phänomen eines ökologisch-historischen Sonderwegs so nennen mag) bietet sich Neuseeland als prominentes Untersuchungsfeld an: Mit einer seit dem Beginn des zweiten Jahrtausends europäischer Zeitrechnung, als die ersten Maori-Boote landeten, kontinuierlich ansteigenden Zahl von ausgerotteten oder ausgestorbenen Spezies erweist sich die Doppelinsel als perfektes Beispiel für den Zusammenhang von menschlicher Siedlungspolitik und radikaler Umweltzerstörung. Ob Chatham-Rabe, Maorikrähe, Haastadler, Südinsel-Riesengans oder der phantastische straußenartige Moa, deren größte (Unter)Art eine Schulterhöhe von (mehr als) zwei Metern erreichte – sie alle waren den neu angekommenen Zweibeinern wehrlos ausgeliefert; vor allem auch deren vierbeinigen Begleitern wie Hund und Schwein; und als sich auch noch die Europäer einstellten, kamen Schafe, Rinder, Rot- und Damhirsche, Gämsen und Thare, Katzen, Wiesel, Ratten und ein ganzer Zoo weiterer Exoten hinzu, die teilweise verwilderten und sich unter den einheimischen Spezies breit machten. Mit ihrem ‚insularen Charakter‘ waren die Autochthonen den Einwanderern hilflos ausgeliefert. „So löste wahrscheinlich auch bei den Moas das Auftauchen von menschlichen Jägern weder Flucht noch Gegenwehr aus.“ Die Experten Worthy und Holdaway meinen dazu nicht unironisch, man dürfe vermuten, „dass die Moa-Jagd eher einem ‚Einkauf im Supermarkt‘ als einer Jagd gleichgekommen sein dürfte“ (Netzeintrag „Moas“, siehe Link).
Den britischen Siedlern im 19. Jahrhundert war die autochthone Flora und Fauna mehr oder weniger gleichgültig; gemäß dem Zeitgeist, der einer ‚Europäisierung der Welt‘ das Wort redete, war ihnen wichtiger, möglichst viel Heimat in die Kolonien mitzubringen. Ziel war nicht nur die authentische Rekonstruktion einer ‚europäischen Natur‘. Es galt auch die globale Präsenz Europas, den Anspruch eines einzelnen Kontinents, über den Rest der Welt zu herrschen, symbolisch auszudrücken – indem man überall, wo man hinkam, durch möglichst spektakuläre, umfassende und tiefgreifende Umgestaltungen der Naturlandschaft eine künstliche Natur, eine Natur aus zweiter Hand erschuf. Diesem Zweck diente ein hemmungsloser Transfer von Tieren und Pflanzen rund um den Globus, vor allem aber von Tieren:****
Globale Tiertransfers in der Neuzeit © G.Liedl
Fundamentalökologie beruhigt das Gewissen. Die ‚Insellogik‘ enthält, wie Bild zeigt, das Phantasma einer nach Belieben planbaren und frei zu gestaltenden Natur; denn die Inselnatur – das konnte hoffentlich plausibel gemacht werden – ist eine fragile, eine prekäre Angelegenheit. Plakativ gesprochen ist die scheinbar so perfekt ausbalancierte Ökologie der Inseln ein Zustand auf Abruf.
Bleiben wir auf der exemplarischen Doppelinsel Neuseeland. Im 19. Jahrhundert verschifften Acclimatisation Societies englisches Rot- und Damwild, amerikanische Wapitis, indische Himalaya-Thare, Pfaue, Truthühner, Schwäne, Hasen, Marder, Wiesel, Eichhörnchen … und natürlich heimische Singvögel über den Ozean in die Kolonien, vor allem in die ‚weißen‘ Siedlungskolonien. Als Pointe kann angefügt werden, dass 1907 Kaiser Franz Joseph I. eine Gruppe Gämsen offerierte – das Geschenk wurde dankend angenommen, Gämsen bevölkern seitdem nicht nur die Europäischen sondern auch die Neuseeländischen Alpen.
Euphorie schlägt bekanntlich gern in Depressionen um. Aus dem ökologischen Selbstermächtigungstraum des 19. Jahrhunderts gibt es im 20. Jahrhundert ein böses Erwachen. „Als etwa um 1930 das Rotwild in Neuseeland […] zu zahlreich wurde, erklärte man es zum Schädling und hob jegliche Schutzmaßnahmen auf. Im darauffolgenden Jahr begannen dann die ‚Kontrollmaßnahmen‘ der Regierung, und Tausende Hirsche wurden Jahr für Jahr abgeschlachtet. Dabei war man aber nur am Verkauf der Häute interessiert, das Wildbret, wahrscheinlich an die 3.000, 4.000 Tonnen, ließ man im Busch verrotten. Weitere 75.000 Hirsche überließ man kommerziellen Fleischjägern, die allein im Jahre 1967 rund 2.600 Tonnen Wildfleisch nach Europa exportierten. Die Bestandsreduktion wurde aber nicht allein mit Schusswaffen durchgeführt, ein paar Jahre lang versuchte man es auch mit vergifteten Karotten, die man von Flugzeugen abwarf. Eigentlich war diese Methode gegen Gämsen und Thare gedacht, doch fielen ihr auch unzählige Hirsche zum Opfer“ (Whitehead: Encyclopedia of Deer, Seite 53).*
Was im Inselstaat lange vor der Jahrhundertmitte als gigantischer Freilandversuch in Gang gesetzt worden war – ein unbarmherziger Vernichtungskrieg (noch dazu mit untauglichen Mitteln) gegen einen gar nicht kleinen Teil der lokalen Fauna –, erreichte, als neueste Erkenntnis der Umweltwissenschaften etikettiert, im letzten Drittel des Jahrhunderts Europa, genauer gesagt das deutschsprachige Mitteleuropa, wo der Boden durch eine romantisch getönten Heimat-Ideologie sozusagen immer schon aufbereitet war. Denn auch der Heimatbegriff gehorcht ja der Insel-Logik (wie der Philosoph sagen würde). Etwa ab 1980 wendete sich der Naturschutz von konkreten tages- und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, vom Kampf gegen Umweltschädiger aus Landwirtschaft, Industrie und Politik ab und einer ideologisch getönten Grundsatzdebatte zu – ob und wie die heimatliche Natur von fremden, ergo dessen schädlichen Einflüssen gereinigt werden könne.
Umweltschutz – grundsätzlich oder pragmatisch? Schon die frühesten Beispiele für eine ‚überfremdete‘ Natur sind eingebettet in das Theorem der Faunen- und Florenfälschung, womit man einer auch im Nationalsozialismus gängigen Wortwahl folgt. Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus), Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) und Waschbär (Procyon lotor) – alle drei Arten stammen aus Nordamerika – wurden stellvertretend für eine ganze Entwicklung, eine Veränderung, einen Trend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt: Sie standen und stehen für die Störung einer perfekten, weil stabilen natürlichen Ordnung. Schon mit ihrer bloßen Existenz widersprechen sie dem Idealbild dessen, was Land und Leuten erst ihre wahre Identität verleiht: der unverrückbaren natürlichen Ordnung, wo alles seinen angestammten Platz hat, was im Gegenzug jede Veränderung durch irgendwie neu Hinzukommendes ausschließt. Natur steht im Gegensatz zur künstlich-volatilen Welt der Ökonomie (Wirtschaft und Politik, Industrie, Wissenschaft, Welthandel usw.), man kann sich auf sie verlassen. Dauerhaft und stetig, repräsentiert sie den Boden, die Erde, Luft und Wasser, majestätische Berge, Landschaften im Jahreskreis – mit einem Wort: Heimat. Projektion nennt das der Psychologe.
Grundsätze mögen wichtig sein. Der Weisheit letzter Schluss sind sie nicht. Die Wirklichkeit – und wir bleiben bei den gewählten drei Beispielen – sieht nämlich so aus, dass schon im 19. Jahrhundert Flüsse und Bäche durch ihre hemmungslose Nutzung im Geist der Industriellen Revolution derart ruiniert waren, dass die einheimische Fauna – im Fall der mitteleuropäischen Gewässer waren dies Flusskrebs (Astacus astacus L.) und Bachforelle (Salmo trutta fario) – daraus verschwanden. Die ‚landfremden‘ Nachfolger, Signalkrebs und Regenbogenforelle, zeichneten sich durch eine höhere Toleranz gegenüber schlechter Wasserqualität und Verschmutzung aus. Die Krise, in der sich die Gewässer Mitteleuropas befanden, war in positiver Umkehrung der Beweis der Resilienz, über die jene neuen Arten verfügten. Ökologisch gesprochen haben Regenbogenforelle und Signalkrebs niemanden verdrängt, sondern nur in Besitz genommen, was an aufgegebenen Lebensräumen und Nischen zur Verfügung stand.
Schon wahr, werte Ökologinnen und Ökologen: Heute, wo die Gewässergüte teilweise wiederhergestellt ist, mag es so scheinen, als wären Regenbogenforelle und Signalkrebs ‚schuld‘ am Verschwinden von Bachforelle und Flusskrebs. Richtigerweise sollte man sagen: die beiden haben ihre Chance genutzt und geben jetzt, wo sich die heiklen Europäer wieder hineinreklamieren möchten in ihre ökologischen Nischen, diese nicht freiwillig auf. Und sie verteidigen ihre Position mit den geeigneten biologischen Waffen: so ist der amerikanische Signalkrebs Träger der Krebspest, gegen die er selbst immun ist, nicht aber der europäische Flusskrebs, und die mit Klimawandel & Co. besser zurechtkommende Regenbogenforelle hat höhere Vermehrungsraten als ihre europäische Konkurrentin.
Ähnliche Dispositive wird man auch bei vielen anderen Alien Species entdecken; so konnte sich unser drittes Beispiel, der Waschbär, in den von konkurrierenden Beutegreifern weitgehend frei gemachten Revieren niederlassen (die Zeit seines Aufstiegs fällt mit der Hochblüte der ‚Raubzeug‘-Bekämpfung zusammen, als etwa dem Fuchs großflächig mit allen Mitteln, selbst durch Vergasen seiner Baue zu Leibe gerückt wurde, und der Fischotter ausgerottet war).
Dabei wäre die pragmatische Lösung dieses bloß vermeintlichen Dilemmas einfach, wie sie ja auch auf der Hand liegt. Man unterstelle möglichst viele der als problematisch empfundenen Neuankömmlinge (deren Ankunft in freier Wildbahn ja meist ohnedies schon viele Jahrzehnte, manchmal sogar über ein Jahrhundert zurückliegt) der Jagdgesetzgebung, dem Fischereirecht oder anderen vergleichbaren Regelungen – sie unterlägen damit automatisch dem Grundsatz lokal abgestimmter Kontrolle bei nachhaltiger Nutzung ihres ökologischen und wirtschaftlichen Potenzials: Krebse und Forellen sind, wie man hört, stark nachgefragte Delikatessen; und der Waschbärpelz (ich weiß, hier betrete ich vermintes Terrain ...) zierte früher die Schultern so mancher schönen Dame. Im Gegensatz zu einer Insel sind die Landschaften Mitteleuropas keine isolierten Ökosysteme; sind die dort lebenden Pflanzen und Tiere an den ständigen Wandel, das Kommen und Gehen alter und neuer Weggefährten gewöhnt, seit Tausenden von Jahren. Wäre es anders, sie wären längst nicht mehr da.
Und was ist mit dem ökologischen Gleichgewicht? Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, den Verfechtern einer von ‚Störfaktoren‘ und Fremdeinflüssen gesäuberten Natur ihre Sorge um besagte Natur abzunehmen. Wer im Zusammenhang mit lebenden Wesen Kriegsmetaphern gebraucht, von notwendiger ‚Bekämpfung‘, gar ‚Vernichtung‘ spricht, kann nicht als Naturfreund gelten. Nicht in meiner Welt.
„Aber das sind doch Experten, die sich auf Erkenntnisse von Menschen stützen, die sich in Sachen Naturwissenschaft auskennen.“ – Nach diesem Argument ist auch der Vivisecteur ein Freund der Tiere und der Natur: in Sachen Naturwissenschaft ist er zweifellos ein Auskenner. Zugegeben, das klingt reichlich simpel und einigermaßen naiv. Sorry, Girls & Boys: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ (Martin Luther).
Sir David Attenborough hat einmal gesagt (man könnte auch Konrad Lorenz zitieren, der sich ähnlich geäußert hat): „Aus meiner Sicht ist die Natur die größte Quelle der Begeisterung, die größte Quelle der Schönheit und die größte Quelle der Erkenntnis. Sie ist die wichtigste Quelle von vielem, was das Leben lebenswert macht.“
In dieser Natur gibt es keine ‚guten‘ und ‚bösen‘ Lebewesen. Nur Lebewesen.
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* Literatur:
David Attenborough: Der lebendige Planet. Wie alles mit allem vernetzt ist [Living Planet. The Web of Life on Earth]. Franckh – Kosmos Verlag: Stuttgart 2022
Simon Franz Canaval: Globalisierung der Naturnutzung am Beispiel einer Jagdwildart (Dama dama). Diplomarbeit, Universität Wien: Wien 2014
Simon Franz Canaval: The Story of the Fallow Deer: An Exotic Aspect of British Globalisation. In: Environment and Nature in New Zealand (ENNZ), Vol. 9 | 2 (2014)
Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport, Connecticut 1972; deutsche Ausgabe:
Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 – 1900. Darmstadt 1991 (Cambridge 1986)
Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997
Sophia Perdikaris / Allison Bain / Sandrine Grouard / Karis Baker / Edith
Gonzalez / A. Rus Hoelzel / Holly Miller / Reaksha Persaud / Naomi Sykes: From Icon of Empire to National Emblem: New Evidence for the Fallow Deer of Barbuda. The Journal of Human Palaeoecology Volume 23: 1, 2018, Seite 47–55
G. Kenneth Whitehead: The Whitehead Encyclopedia of Deer. Shrewsbury 1993
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** Zur europäischen Expansion: BLOG # 17; BLOG # 18; BLOG # 23; BLOG # 27
*** Endemische Tiere Neuseelands – Link
**** Zu einem Beispiel des Bedeutungswandels im ökologischen Akkulturationsprozess – Damwild auf der Antilleninsel Barbuda: Perdikaris et al. 2018, Seite 47 ff.; Canaval 2014
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Was wirklich schädlich ist. Ein Zitat als Postscriptum. „Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Deshalb müssen wir offenlegen, wer daran interessiert ist, dass alles so weiterläuft wie bisher. Keiner wird mit seiner Bambuszahnbürste und seinem Jutebeutel diese Welt retten können. Was wir brauchen, ist gute Politik“ (Eckart von Hirschhausen, Arzt und Kabarettist; zitiert nach KURIER freizeit, vom Samstag, 12. August 2023, Seite 26).
Darf ich ergänzen? Was wir brauchen, ist gute Politik. Spätromantik mit autoritärer Schlagseite eher nicht.
Schon vor Jahrzehnten hat der Biologe Josef H. Reichholf den Schwachpunkt des modernen Umweltschutzes und der ökologischen Denkungsart dechiffriert und überzeugend dargelegt, dass hierfür die Entstehungsgeschichte dieser Bewegung und der ihr zugrunde liegenden Theorie verantwortlich ist. Denn ja, diese Wissenschaft ist auch eine Ideologie.
Der Begriff Ökologie geht auf den Mediziner und Zoologen Ernst Haeckel (1834–1919) zurück. Als Volksbildner und vehementer Propagandist des Darwinismus hatte er das Wort in die Bildungssprache eingeführt, von wo es dann in die Umgangssprache gelangte. Doch Haeckel unterlief dabei ein Fehler. Mit der im Grunde romantischen Annahme eines stabilen ‚Naturhaushalts‘, für den der Begriff Ökologie bei ihm stand, verschleierte und verwässerte er das revolutionär Neue an Darwins Lehre: die Dynamik und Unabgeschlossenheit natürlicher Vorgänge. Dieses Haeckel’sche Missverständnis klebt bis heute am Wort, Begriff und Konzept der Ökologie als Umweltwissenschaft.
„Als Ernst Haeckel den Blick auf das Naturganze lenkte und erstmals vom ‚Naturhaushalt‘ sprach, konnte man sich darunter noch nicht viel vorstellen. Haushalt klang so ordentlich und geregelt […]. Lebewesen und Umwelt in vollendeter Harmonie – das […] findet auch heute noch viele Anhänger“ (Reichholf o.J. [1988], Seite 14).*
Während sich die ursprüngliche Forschungslandschaft entwickelte und veränderte, tat das die Ideologie nicht. Die Wissenschaft selbst vertritt heute ein pragmatisches, ergebnisoffenes Welt- und Naturbild. Parallel dazu entfaltet sich ein hybrider öffentlicher Diskurs, der sich zwar ständig auf die Ökologie als Wissenschaft beruft, ideologisch aber an einer Weltanschauung festhält, von der sich die Forschung selbst längst verabschiedet hat.
Was ist Fundamentalökologie? Versuch einer Annäherung. Nochmals der nüchterne Befund des Forschers, welcher feststellt, dass Eingriffe in den Naturhaushalt „keine neue Erfindung des Menschen [sind], sondern […] ein Urprinzip des Lebens“ bilden. Und dann ein Satz von großer Tragweite: „Die Natur stellt die Bühne dar, auf der das Spiel des Lebens abläuft. Die Spieler werden beständig ausgetauscht und erneuert“ (Reichholf o.J. [1988], ebd).
Diese Feststellung ist ein Schlag ins Gesicht jedes besorgten Hüters des natürlichen Gleichgewichts; „beständig ausgetauschte und erneuerte Spieler“ auf der Bühne des Lebens sind nämlich genau nicht, was Fundamentalökologie von ihrer Umwelt erwartet.
Nicht immer waren Umweltbewegungen so fixiert auf das – um etwas Heiterkeit in die unheitere Angelegenheit zu bringen – ökologische Reinheitsgebot. Noch in den 1960-er, 1970-er Jahren, als sich die Konturen eines Natur-, Tier-, Landschafts- und Umweltschutzes schärften (Anti-Atomkraft-Bewegung; Neuinterpretation von ‚Fortschritt‘ – der Club of Rome; Auftauchen neuer Umweltschutzorganisationen wie zum Beispiel Greenpeace…), war man pragmatisch eingestellt. Im Fokus der Kritik stand auch damals schon das aus dem Ruder gelaufene Tun des Menschen; doch obwohl diese Kritik emotional unterfüttert scheinen mochte, war sie im Grunde rational: angepeilt wurde das Machbare, im Vordergrund standen reformistisch-praktische und auf technische Innovation vertrauende Konzepte. Das grosso modo erfolgreiche Projekt einer umweltverträglicheren Schwerindustrie (Stichwort ‚Saurer Regen‘, Waldsterben, Abgasreinigung) mag man auf die Habenseite stellen. Weniger glücklich entwickelten sich die, wie man sie nennen könnte, postmodernen Narrative rund um Tropenwald, Klimapolitik, Artenschutz.
Es war dies auch die Geburtsstunde der Tierethik: Traditioneller Tierschutz radikalisierte sich in Anti-Jagd-Bewegungen, Pelztier-Befreiungsaktionen, Kampagnen gegen Tierfabriken, Zirkusse, Zoos … Bewegungen, die sich rasch politisierten und ganze Wissenschaftszweige in die Pflicht nahmen. Die Vermutung, dass es hier eine Sollbruchstelle gibt, hat einiges für sich. Einerseits begann sich die Umweltbewegung ethisch-moralisch aufzuladen. Andererseits stand sie unter dem Eindruck übermächtig scheinender Blöcke ‚alter Mächte‘ – einer den Klimawandel leugnenden Rohstoffindustrie samt passender Energiewirtschaft, einer expansiven, globalisierten, Investment-getriebenen, biotechnisch geboosteten und freihandelspolitisch abgesicherten Agroindustrie – Teile der Umweltbewegung regredierten und verfielen in eine romantische Schockstarre. Ein wesentlicher Impetus – der aufklärerisch-rationale nämlich – kam ihnen dabei abhanden. Ersetzt wurde er durch das alte romantische Bild einer Heimkehr, eines Glücks, das in der Vergangenheit liegt; einer heilen Welt, einer ursprünglichen Natur, die es wieder herzustellen galt.
Romantic Dreamworld. Im Fokus dieser Regression steht nicht mehr der Mensch; auch nicht der Mensch-in-der-Natur; oder eine Mensch-Natur-Interaktion. Das wäre noch viel zu viel Aufklärung, Optimismus, Fortschrittsglaube. Die pessimistisch-nihilistische Romantik des 19. Jahrhunderts – The Dark Side of the Romantic Dreamworld (Shortt 2018, Seite 5 ff.)* – hat sich erfolgreich in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts gerettet. Neu daran ist freilich, dass sich ihr unduldsamer „Ökokritizismus“ (Shortt) einen Anschein von Darwinismus gibt. Nur dumm, dass sie dabei die Evolution mit dem Ordnungsprinzip einer ‚Natur im Gleichgewicht‘ verwechselt.
Statt böser Mensch: böse invasive Arten. Gesetzt den Fall, die (Wieder)Herstellung eines solchen ‚Gleichgewichts‘ wird trotzdem versucht – welches Kriterium könnte einen gravierenden Eingriff, wie es die Bekämpfung, vielleicht sogar Ausrottung einer ‚ortsfremden‘ Spezies oder die Änderung einer ganzen Artengemeinschaft ist, rechtfertigen? Über die Sinnhaftigkeit dieses Eingriffs in ein gegebenes Ökosystem kann wohl nur dessen biologische Bilanz Auskunft geben: Ist der natürliche Reichtum (aber kann man das Phänomen einer ausgeglichenen Bilanz überhaupt so nennen?) am Ende größer oder kleiner? Nicht immer, aber doch sehr oft lässt sich biologischer Reichtum an der Artenvielfalt messen; zumindest spiegelt diese auf quantifizierbare Weise auch das andere wichtige Kriterium wider, die Standorteignung einer bestimmten Floren- und Faunengemeinschaft … also wie gut diese an die Voraussetzungen ihrer Umgebung angepasst ist. Hat sich die Stabilität des Ganzen durch den Eingriff verändert? Zum Besseren? Zum Schlechteren? Allein auf Basis des Gegensatzes einheimisch – fremd (autochthon – invasiv) kann biologischer Reichtum jedenfalls nicht quantifiziert werden. Als biologisch-ökologisches Erklärungsmodell ist dieser Antagonismus offensichtlich nicht viel wert.
Im Lichte der Evolution … Des Menschen größtes Vergehen gegen das Leben ist die Ausrottung anderer Lebensformen. Das Verdikt passt auch auf die Puristen des Naturschutzes, die sich vor allem dafür interessieren, „wie Natur sein sollte“. Diese können niemals mit Sicherheit angeben, welchen Teil genau sie den „Genom-Netzwerken“ (Wagner 2015, Seite 248 ff.)* entnommen haben werden, wenn sie vermeintlich Unpassendes – beispielsweise sogenannte Neozoen, die sie dann Noxious Wildlife, ‚Schädlinge‘ nennen – aus der Natur entfernen.
Könnte Mutter Natur sprechen (und fände sie es nicht langweilig, sich in akademischer Diktion auszudrücken), würde sie möglicher Weise so argumentieren: „Auf das gesamte Netzwerk bezogen sind es vielleicht gerade die als störend empfundenen Varianten und Kombinationen, die in einer Krise, die man nicht vorausgesehen hatte, für die Stabilisierung ökologischer Zusammenhänge gesorgt haben würden.“ Das klingt plausibel.
Krisen und Resilienz. Beweise für die Richtigkeit obiger Feststellung liefert die Geschichte unserer Wälder. Ein bewaldetes Europa gibt es erst seit dem Ende der letzten Eiszeit (wobei fraglich ist, ob wir uns nicht bloß in einer Zwischeneiszeit, einem warmzeitlichen Intervall befinden). In den letzten 10.000 Jahren, also seit dem Abschmelzen der großen Eispanzer, ging die Wiederbewaldung des Kontinents ihren durchaus inhomogenen und von zahlreichen Krisen geprägten Weg. Dabei ließ sie ein wellenförmiges Muster aus Verdichtung und Ausdünnung erkennen; der den Kontinent bedeckende Pflanzenteppich entstand nicht in einer einzigen, geradlinigen ‚Aufwärtsbewegung‘ sondern schubweise, mit bisweilen ziemlich paradoxen Wendungen und Verwerfungen.
Eine Geschichte wechselhafter Konjunkturen also … Das Sprunghafte und Unvorhersehbare einer Flora und Fauna im Umbruch (noch dazu als Folge einer gigantischen Klimaänderung; und wenn man hier von ‚Wiederbewaldung‘ spricht, ist das nur eine grobe, allzu grobe Vereinfachung) – diese konjunkturelle Unvorhersehbarkeit in der ökologischen Neugestaltung eines ganzen Kontinents … darf mit seiner, erdgeschichtlich gesehen, äußerst kurzen Dauer von lediglich 10.000 Jahren als Evolution im Zeitraffer verstanden werden. Für Neuromantiker mit Faible für ‚stabile Naturhaushalte‘ – für die Fundamentalökologie – mag die Vorstellung einer Natur, die sich so gar nicht entscheiden kann, wohin die Reise geht, und die vor allem nicht zu wissen scheint, wann sie am Ziel ist, ein Ärgernis sein. Im Narrativ der Ökologiegeschichte ist sie aber höchst real, denn sie bildet dessen gut dokumentierten Inhalt.
Verlorener Reichtum. Die folgende Feststellung könnte nachdenklich stimmen. „Vor den Eiszeiten herrschte fast überall auf der Nordhalbkugel ein wärmeres Klima als heute. Die Wälder Nordeuropas und Nordamerikas bargen eine nahezu tropische Fülle von Baumarten. Neben den Bäumen, die heute noch in diesen Wäldern wachsen, gediehen Walnuss, Hickory, Bergahorn, mehrere Palmenarten, Zeder und Ginkgo. […] Diese Bäume hatten [in Europa] keine Chance, in den Warmzeiten mit Gletscherrückgang, die im Pleistozän häufig mit Kaltzeiten abwechselten, [nach ihrem Eiszeit-bedingten Verschwinden] an den Ursprungsort zurückzuwandern. Nördlich der Berge wurden sie ausgelöscht“ (Johnson 1983, Seite 304).*
Im Gegensatz zu Nordamerika, wo alle großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen und den Rückzugsweg nach Süden nicht verstellen, haben sich in Europa mit seinen ost-westlich verlaufenden Bergketten beim Vorrücken des Eises für die Pflanzen auf ihrer ‚Flucht‘ nach Süden unüberwindliche Hindernisse aufgetürmt. Von sich aus wäre Europas Waldlandschaft arm (und ist es ja auch heute noch, jedenfalls im Vergleich mit dem Fernen Osten oder Nordamerika) – ein kläglicher Rest einstiger Fülle und Pracht.
Der Mensch greift ein. Weil Europas Geographie mit ihren hohen Querriegeln, den Pyrenäen, Alpen, Karpaten und dem Balkangebirge die Wiederkehr der verschwundenen floralen Üppigkeit verhinderte; weil also Europas Geographie ‚von sich aus‘ so florenfeindlich ist, musste der Mensch kommen, um der Natur aufzuhelfen und dem Wald seine Artenvielfalt zurückzugeben. Sagt der Mythos, wie ihn eine zukünftige Menschheit erzählen könnte. Aber war es denn tatsächlich so?
Die ursprünglich monotone nacheiszeitliche Bewaldung wurde vom Menschen stark verändert, nämlich aufgelockert und mit neuen Baumarten abwechslungsreicher gemacht. Manchmal mit voller Absicht, wenn etwa Obstbäume gepflanzt wurden, meist aber als unbeabsichtigte Nebenwirkung der sukzessiven Rodungszyklen. Als das Klima nördlich der Alpen rasch wärmer wurde – in der, wie man sie nennen kann, Römischen Warmzeit ab der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends –, hatte auch eine südliche Flora (Weizen, Wein, Walnuss, Esskastanie und viele andere…) ihre Chance. Im Schlepptau römischer Kolonisten eroberte sie die ökologischen Nischen in einer agrarisch schon stark überformten Waldlandschaft. Diesen Trend wird das klimamilde Hochmittelalter noch verstärken, indem es die Wälder weiter lichtet und – im wahrsten Sinn des Wortes – aufmischt.
Aufklärung, Forstwirtschaft und die Erfindung der Nachhaltigkeit. Forstwirtschaft ist von Anfang an einem rationalen Kalkül verpflichtet. In vielen Waldgebieten Mitteleuropas, besonders solchen mit einer ausgeprägten Bergbautradition, wurde die Begrenztheit der Kapazitäten schon im späten Mittelalter erkannt. Von da zum Nachhaltigkeitsbegriff ist es im Zusammenhang mit den Waldungen der Bergwerke und Salinen nur ein kleiner Schritt.
„Gott hat die Wäldt für den Salzquell erschaffen, auf dass sie ewig wie er continuieren mögen. Also solle der Mensch es halten: Ehe der alte ausgehet, der junge bereits wieder zum verhackhen hergewaxen ist“ (aus einer Forstordnung von 1661).
Als Fachbegriff taucht Nachhaltigkeit erstmals beim Begründer der deutschen Forstwissenschaft, dem Oberberghauptmann in Kursachsen, Hans Carl von Carlowitz (1645–1714), in seiner Sylvicultura Oeconomica auf. Sein Leitspruch war, „dass es eine continuierliche, beständige und nachhaltende Nutzung“ geben möge.
Georg Ludwig Hartig, ein anderer Doyen der deutschen Forstwissenschaft, definiert in seiner Anweisung zur Holzzucht für Förster Nachhaltigkeit so:
„Unter allen Bemühungen des Forstwirts ist wohl keine wichtiger und verdienstlicher, als die Nachzucht des Holzes, oder die Erziehung junger Wälder, weil dadurch die jährliche Holzabgabe wieder ersetzt, und dem Wald eine ewige Dauer verschafft werden muss“.
Genau diesen Ton hatte schon die Encyclopédie française angeschlagen, als sie den Ausdruck „forêt“ als ein Ensemble fachgerecht angepflanzter, für die nachhaltige Nutzung vorgesehener und durch staatliche Behörden streng geschützter Bäume definierte (Encyclopédie 1966, Band 7, Seite 129).*
Die offenen Wälder der Neuzeit. Die Neuzeit bringt also System und Rationalität in die Wälder. Aufklärer und Physiokraten verbinden ungeniert das Schöne mit dem Nützlichen, das Exotische mit dem Einheimischen. So wird zum Beispiel unter der Prämisse, dass er sich für die Seidenraupenzucht in klimatisch weniger begünstigten Gebieten prächtig eigne, der chinesische Götterbaum, Ailanthus altissima, und unter dem Aspekt ihrer Schönheit die mediterrane Blumen- oder Manna-Esche, Fraxinus ornus, in den Donauauen östlich von Wien ausgepflanzt, wo sich diese Bäume, mittlerweile verwildert, zu einem festen (wenn auch nicht allseits geliebten) Bestandteil der ostalpin-pannonischen Flora gemausert haben. Die ebenfalls aus Nützlichkeitserwägungen (Holz und Blütenhonig) seit dem 18. und vermehrt im 19. Jahrhundert in Europa angesiedelte Falsche Akazie, die nordamerikanische Robinie, Robinia pseudoacacia, bildet nur den besonders eindrucksvollen, weil sehr erfolgreichen vorläufigen Endpunkt einer langen Reihe botanischer Zuwächse in der Geschichte des europäischen Waldes.
In den Versuchspflanzungen forstlich versierter Neuerer wie Friedrich August Ludwig von Burgsdorf (1747–1803) oder Friedrich Adam Julius von Wangenheim (1749–1800) fanden sich zeitweise fast 700 Arten, vor allem aus Nordamerika. Während Botaniker wie Johann Gottlieb Gleditsch (1714–1786) Neueinführungen grundsätzlich skeptisch betrachteten, haben sich die Pflanzen selbst vom Verdikt des besorgten Fachmannes nicht beeindrucken lassen. Die Douglasie etwa, 1827 erstmals nach Europa eingeführt, hat mit ihren hervorragenden Holzeigenschaften derart gepunktet, dass sie heute aus der Forstwirtschaft nicht mehr wegzudenken ist. Japanische Lärche, Helmlocktanne und viele andere mehr legten und legen ähnliche Erfolgskarrieren hin (Küster 1995, Seite 314).*
Der Wald produziert Ressourcen. Der Wald ist aber auch ‚Natur‘. Nur dass die naturgesetzlichen Bedingungen jetzt dem Gesetz der Bodenrente unterworfen sind; sie erscheinen von diesem ökonomischen Gesetz geradezu abgeleitet beziehungsweise ableitbar. Damit stehen Aussehen und Gestalt eines solcherart definierten ‚Forstes‘ nicht mehr von vornherein fest; das gottgegebene Apriori eines Zusammenspiels mineralischer, botanischer und faunistischer Elemente, die gemeinsam mit den Menschen ein Ganzes ergeben, ist hinfällig. Diese Dynamik (und man bedenke, wann diese Dynamisierung des Naturbegriffs enstand – ein gutes Jahrhundert vor Darwin) erlaubt dem forstlich Versierten nicht so sehr alles, was gefällt (das war das Prärogativ der Könige, die ihre Forsten für sich selbst reklamierten); dem modernen Waldverwalter ist vor allem das erlaubt (erlaubt? Geboten!), was Nutzen bringt. Wälder werden zum Experimentierfeld einer globalisierten und globalisierenden Nutzanwendungsphilosophie und Wissenschaft; wie der Mensch, ihr Herr und Meister, verwandeln sich auch die Bäume in ökologische Kosmopoliten (BLOG # 18).
Ökologiegeschichte und Evolution – vom Wert der Krisen. Hochwald ist ein ökologischer Endzustand, eine Klimax. Mitteleuropas Urwälder, wenn es sie denn gäbe, wären ziemlich einförmig: dichte Bestände, gebildet aus wenigen Baumarten.
Dass Europas Wälder heute wieder relativ artenreich sind, verdanken sie der Klimaschaukel und der von ihr profitierenden, an ihr leidenden Menschheit. Also nicht dem ökologischen Optimum sondern der ökologischen Krise. In den für den mitteleuropäischen Wald ungünstigen Klimaphasen sind jene ‚Leerstellen‘, jene Löcher und Nischen in die nacheiszeitliche Waldlandschaft geschnitten und gerissen worden, in welchen sich dann, wenn die Klimaschaukel wieder bessere Zeiten brachte, neue Pflanzen- und Baumarten – klarer Weise fast immer südlichen oder südöstlichen Ursprungs – einnisten konnten. Der Wald als solcher wurde dadurch nicht ärmer.
In aufsteigender Reihe erinnern in den Wäldern Mitteleuropas Buche und Tanne an die Wald- und Holzkrisen des Neolithikums, der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit; Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche erinnern an die Rodungen der Römerzeit; Rosskastanie, Flieder, Manna-Esche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel sind das Ergebnis forstwirtschaftlicher Bemühungen seit der frühen Neuzeit – mit anderen Worten, eine Antwort auf die massiven Waldzerstörungen des Mittelalters.
Die florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit ist bis heute nicht abgeschlossen. Denn noch ist die ehemalige Artenvielfalt nicht wiederhergestellt. So besehen erfüllen florale ‚Neuankömmlinge‘ der historischen Zeit und der Mensch, der sie heran schafft, nur einen prähistorischen Auftrag.
Wenn man von Krisen spricht, ob Agrarkrise der Vergangenheit oder Globalisierungskrise der Gegenwart, vergisst man gerne, dass Verarmung und Mangel eine Kehrseite haben – die Chance auf Neubeginn und größere Fülle. Zum Stellenwert von Natur aus zweiter Hand wäre also zu bemerken, dass es um Steigerung geht, um ein Plus. Dass der Mensch durch eigenmächtiges Aussortieren und Entfernen von ‚Nichtzugehörigem' Natur verbessern, gar retten könne, ist im ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen. Und dieses gibt es immerhin schon seit 10.000 Jahren.
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* Literatur:
Encyclopédie 1966 = Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Publ. par D. Diderot et Jean le Rond d’Alembert. Reprint: Stuttgart – Bad Cannstadt 1966
Johnson 1983 = Hugh Johnson (Hg.): Das große Buch der Wälder und Bäume. Stuttgart – Zürich – Wien 1983
Küster 1995 = Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart. München 1995
Küster 2003 = Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003
Reichholf o.J. [1988] = Josef H. Reichholf: Leben und Überleben. Ökologische Zusammenhänge. Herausgegeben von Gunter Steinbach. Illustriert von Fritz Wendler. Mosaik Verlag: München o.J. [1988]
Reichholf 2012 = Josef H. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends. Frankfurt am Main 2012
Reichholf 2016 = Josef H. Reichholf: Evolution. Eine kurze Geschichte von Mensch und Natur. München 2016
Shortt 2018 = Aoife Shortt: „What can a poem prove?“ The Romanticism, the Enlightenment and the Natural World. Proseminararbeit Sommersemester 2018 / Universität Wien: Wien 2018 [Unveröff. Typoscript]
Wagner 2015 = Andreas Wagner: Arrival of the Fittest. Wie das Neue in die Welt kommt. Über das größte Rätsel der Evolution. Frankfurt am Main 2015 (New York 2014)
Ich erinnere mich noch gut der ersten Begegnung mit Psittacula krameri … Es war vor vielen Jahren irgendwo an der Costa del Sol zwischen Málaga und Torremolinos. Die Beste aller Ehefrauen war in jenem phänomenalen Geschäft für Keramikwaren verschwunden, das es jetzt nicht mehr gibt, damals aber für gefühlt 80 Prozent unserer Küchen-, Haus- und Gartenausstattung sorgte. Ich blieb draußen und betrachtete das Meer hinter den hohen Palmen (nein, hier hätte mir die Erinnerung fast einen Streich gespielt – es war eine Gruppe mächtiger Eukalypten, und ja, dahinter rauschte das Meer). Und plötzlich dieses seltsame, vorher noch nie vernommene Geräusch – ein ehrlich gesagt nicht wirklich melodisches Konzert, das den verblüfften Zuhörer dennoch nicht missmutig sondern, im Gegenteil, fröhlich stimmte. Denn es stammte von einem Schwarm knallgrüner, äußerst munterer Vögel, denen man die exotische, will sagen tropische Herkunft unschwer ansah. Psittacula krameri, der Halsbandsittich, trat hier geräuschvoll in mein Leben – und hat seit jenem ersten Rendezvous an der Südküste Spaniens nichts von seiner Faszination eingebüßt. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit diesem Neubürger Europas ließ mich seitdem nicht mehr los und mündete unter anderem in die Co-Autorschaft an einem Aufsatz über Europas Paradiesvögel. Das ist schon wieder eine andere Geschichte; und keine Sorge, eine zoologische Abhandlung über Sittiche und Papageien ist hier nicht vorgesehen – wer allenfalls wirklich mehr über Psittacula & Co. sowie die globalisierten Karrieren dieser und anderer bunter Vögel wissen möchte, sei auf das Netz beziehungsweise besagten Aufsatz verwiesen (Smetacek/Liedl 2017, Seite 140 ff.).*
Einmal aufmerksam geworden, bin ich dem ‚Europäer unter den Edelsittichen‘ überall begegnet – in Paris, in Köln, in Düsseldorf, in Rom … und natürlich immer wieder in meiner zweiten Heimat. In Málagas prachtvollem, zentral gelegenen Botanischen Garten entdeckte ich auch seine ganz spezielle Symbiose mit der ebenfalls von weit her, nämlich von jenseits des Atlantik stammenden Washingtonia (Washingtonia filifera) – die lautstarken grünen Gesellen nisteten zu Dutzenden in den großen, herabhängenden Bündeln abgestorbener Palmenblätter, die diesen spektakulären Bäumen ihr charakteristisches Aussehen verleihen.
Halsbandsittiche und Washingtonia an der Costa del Sol © G.Liedl
Halsbandsittich-Pärchen © Shadman Samee, Nachweis
Auch einen nicht minder lautstarken, nicht weniger fröhlich stimmenden Kollegen von Psittacula krameri habe ich seitdem in meiner spanischen zweiten Heimat entdeckt: Myiopsitta monachus, den ursprünglich aus Südamerika (Argentinien, Uruguay, Paraguay) stammenden Mönchssittich. Beide Spezies sind seit einigen Jahren in die Schlagzeilen geraten. Und leider nicht zu ihrem Besten.**
Mönchssittich © Luis Argerich; originally posted to Flickr as Birds from Temaiken, Nachweis
Ein neuerdings rauer Wind im öffentlichen Diskurs. „So füllt sich Spanien mit Sittichen“ (El País, 5.6.2018). – „Die Zahl dieser Vögel ist in den letzten drei Jahren um 33 Prozent gestiegen“ (SUBRAYADO, 8.10.2019). – „Papageien von Madrid zum Tode verurteilt; Stadtverwaltung lässt Mönchssittiche abschießen; Tierschützer wehren sich“ (La Vanguardia, 26.11.2021). – „Warum die Sittiche in Spanien ein Problem sind“ (malditaciencia, 23.12.2021).
Die Auswahl an Schlagzeilen aus einer fast unüberschaubaren Fülle ähnlicher Meldungen, die man allein in Spanien zum Thema Invasive Arten von den Medien serviert bekommt, spiegelt – ich nehme die Pointe vorweg – einen bemerkenswerten Umschwung, einen Paradigmenwechsel innerhalb der ‚offiziellen‘ Umweltbewegung. Hinter EU-Richtlinie und nationaler Gesetzgebung zur Kontrolle und Bekämpfung sogenannter invasiver Arten steht der neue Geist eines – ich finde keine bessere Bezeichnung – Ökofundamentalismus.
„Streut ihnen Sand in die Augen!“ Was man einem gestrengen Oberförster des 19. Jahrhunderts unterstellen durfte: die unbarmherzige Ausmerzung ‚böser‘ Elemente in der Natur … zum Nutzen der ‚guten‘, der erwünschten, der ‚nützlichen‘ Pflanzen und Tiere (aber nichts gegen gestrenge Oberförster, die zu ihrer Zeit und mit den damaligen intellektuellen und praktischen Mitteln ein Optimum an Wald- und Umweltschutz erzielten), fliegt einer sich aufgeklärt und sensibilisiert dünkenden Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert um die Ohren. Überall, von den Lehrstühlen für Ökologie bis zum kleinsten Verein für Umweltschutz ist der romantische Heimatbegriff, der Heimatbegriff der Romantik (das ‚Eigene‘ gegen alles bedrohlich Fremde zu verteidigen, die heimatliche Scholle vom Unkraut – der bösen Saat, der Saat des Bösen – zu ‚säubern‘) kein No go mehr.
Sieg der Agrar-Lobbys. Wessen Agenda der Ökofundamentalismus in Wahrheit (und hoffentlich nicht wissentlich) betreibt, wird deutlich, wenn man sich ansieht, welche Umweltprobleme die Umweltpolitik europaweit und auf nationaler Ebene nicht reguliert; welche Praktiken in Wald und Feld, in Ställen, landwirtschaftlichen Verarbeitungsbetrieben und Lebensmittelfabriken – mit anderen Worten: in den Kernbereichen der Volkswohlfahrt – legistisch unberührt bleiben. Wozu sich bekanntlich erst unlängst ein ‚schönes‘ europäisches Lehrstück ereignet hat (zur Farce von Straßburg siehe oben, BLOG # 26, vom 22. Juni 2023, ‚Das Imperium schlägt zurück‘). Leicht ist es, Listen von unwerten Lebewesen (Noxious Wildlife) zu erstellen; unendlich schwer bis unmöglich hingegen, dasselbe mit notorischen Umweltfrevlern, Institutionen, Konzernen, Betrieben zu tun.
Zweierlei Maß … doch ganz so dumm ist ‚die Öffentlichkeit‘ nicht. Zurück zu den Sittichen. Mich persönlich machten besonders jene Aktionen der Stadtverwaltung von Málaga betroffen, bei denen man sich offenbar Madrid zum Vorbild nimmt. Málagas Umwelt-Verantwortliche sehen es neuerdings als ökologisch sinn- und wertvoll an, unter den zu einer geschäftig-lauten mediterranen Hafenstadt perfekt passenden, auch von den Malagueñas und Malagueños selbst in keiner Weise als störend empfundenen gefiederten Neubürgern zu wüten und mit ihren Rollkommandos selbst ernannter ‚Schädlings‘-Vernichter in diversen Botanischen Gärten und Parks einzufallen.
„Abstoßend und dämlich.“ Nun ja. Der sich da äußern zu müssen meint, ist freilich selbst irgendwie zugewandert; somit könnte man sein Verdikt mit guten, weil logischen Gründen unter der Rubrik ‚unmaßgebliche Meinung eines wenig demütigen Exemplars der invasiven Sorte‘ ablegen und entsorgen.
Doch ist der Zugewanderte nicht allein. Auch Autochthonen gehen die hysterischen Alarmrufe, mit denen die Kakophonie der wahren Umweltgefährder übertönt werden soll, gehörig auf die Nerven.
„Der Stadtrat von Madrid scheint eine Führungsrolle im Krieg gegen die argentinischen Papageien übernommen zu haben und arbeitet seit einigen Monaten an einem der radikalsten Kontrollpläne. Das Wort ‚Krieg‘ ist in diesem Fall nicht ganz metaphorisch zu verstehen, denn wie von der Tierschutzpartei Pacma angeprangert, schießt das von der Stadtverwaltung von Madrid mit der Bekämpfung der Papageien beauftragte Unternehmen diese Vögel einfach ab …“ (La Vanguardia, 26.11.2021).
„Die Tierschutzpartei hat die Entscheidung des Madrider Stadtrats scharf kritisiert, und ihre Beschwerden […] lösten eine Welle von Reaktionen aus. […] Pacma verurteilte die Schüsse und verlangte Erklärungen vom Bürgermeister von Madrid, José Luis Martínez-Almeida, und dem Delegierten für Umwelt und Mobilität der Hauptstadt, Borja Carabante, dessen Abteilung bestätigt hat, dass diese Maßnahmen im kommunalen Plan enthalten sind ...“ (ebd.).
Wie schnell es gehen kann. Für Ausrottungsbefürworter ist es von Papageien zu größeren Tieren kein weiter Weg. Auch dem populationsdynamisch ganz unauffälligen, weil regelmäßig bejagten Bestand von Mähnenschafen (Ammotragus lervia: Mähnenspringer, engl. Barbary sheep, span. Arruí) im Südosten Spaniens geht es an den Kragen. Früher als faunistische Kostbarkeit angesehen und entsprechend pfleglich behandelt (immerhin ist – war? – der Bestand von Murcia die einzige wildlebende Population dieser Spezies auf europäischem Boden), steht Ammotragus lervia mit auf der Liste auszurottender, weil ‚landfremder‘ Spezies (Real Decreto 630/2013, vom 2. August 2013).
Mähnenspringer © Kevin Floyd, Nachweis 1; Nachweis 2
Rechtfertigung: „Ammotragus lervia ist ja in seinem nordafrikanischen Lebensraum nicht bedroht.“
Antwort: Die ebenfalls in Nordafrika heimische Säbelantlope soll dort noch bis zur Jahrtausendwende in einigen tausend Exemplaren gelebt haben – heute ist sie aus der freien Wildbahn verschwunden, nämlich ausgerottet.
Nachsatz: Wie zum Beweis des oben Gesagten stuft die IUCN (International Union for Conservation of Nature) Ammotragus lervia neuerdings als „gefährdet“ ein.
Aber die zuständigen Umweltbehörden (nie war das Bild vom Bock-als-Gärtner passender, obwohl ... auch wieder nicht, weil in diesem Fall die Böcke die Opfer sind) haben im Naturreservat Sierra Espuña (vor fünf Jahrzehnten eigens zum Schutz des Mähnenspringers geschaffen) ganze Arbeit geleistet – die einzige europäische Population einer offiziell immerhin als gefährdet eingestuften Art ist praktisch verschwunden. Ausgerottet von (und ich bin überzeugt, dass dies harte Wort hier nicht leichtfertig oder ungerechtfertigt steht) fanatischen 'Ökologen', sprich Fundamentalökologen.***
Ein Fall für den Staatsanwalt? In der Sierra Espuña wurden innerhalb zweier Jahre über 600 Arruí getötet – unwaidmännisch getötet, unter Missachtung der simpelsten (jagdethischen) Grundsätze. Das sind über 90 Prozent des ursprünglichen Bestandes. Nicht von Jägern, wohlgemerkt, wurde das Massaker verübt ... sondern von (hier zögert man unwillkürlich bei der Wortwahl) ‚Naturschutzbeauftragten‘ der Behörden (nebstbei gesagt, gegen den Willen der lokalen Bevölkerung). Von Rücksicht auf das Tierwohl oder eine respektvolle Behandlung der Umwelt keine Spur: Getötete Tiere wurden einfach in der Landschaft liegen gelassen, Schonung führender Muttertiere gab es offenbar keine, wenn man die Bilder aus den Medien (verwaiste Kitze, die neben dem Kadaver des Alttiers ausharren) nicht zu Fälschungen erklären will. Geprüfte Jäger verlören im Normalfall mindestens ihre Lizenz ob solch unethischen Verhaltens – übrigens auch gemäß spanischer (Jagd-)Gesetzgebung.
Nicht dass man mich falsch versteht ... Gegen eine gezielte, punktuelle, mit Hausverstand und Augenmaß betriebene Kontrolle von allenfalls das ‚natürliche Gleichgewicht‘ bedrohenden Tier- oder Pflanzenpopulationen (wie immer man das dann, aus der Nähe betrachtet, interpretiert) ist überhaupt nichts einzuwenden. Da muss man das Rad nicht neu erfinden, hunderte bestens funktonierende Jagd- und Naturschutzverordnungen weltweit haben bewiesen, dass das klappt. Aber dem Ökofundamentalismus geht es offenbar um etwas Anderes. ‚Schädlich‘ ist stets absolut schädlich; das Ziel ist immer die Tabula rasa eines wieder hergestellten Urzustandes. Wieder hergestellt? Wieder vorgestellt. „Die Welt als Wille und Vorstellung“, um Schopenhauer zu zitieren. Den großen Tierfreund und Menschenfeind.
Übrigens … Auch wenn ihn die Begleiterinnen und Begleiter meiner ‚Selbstgespräche mit Lesern‘ bis zum Abwinken kennen; oder manche Besucher meiner Aufsätze und Bücher (jawohl, es soll dergleichen Personen geben) den Standardsatz schon nicht mehr hören können – hier ist er wieder: „Im übrigen bin ich der Meinung, dass zwischen Schützern und Zerstörern der Natur Krieg herrscht. Ein Krieg, der den Schützern von den Zerstörern aufgezwungen wurde. Und dem sie sich nicht entziehen können.“
Kann der Naturschutz den Krieg gegen Diebstahl und Raub, Ausbeutung, Brandschatzung, Plünderung und Vernichtung, den Kampf gegen die Zerstörung des Lebendigen und Schönen gewinnen? Wohl kaum. Dazu müsste er zuerst die Faktoren Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Berechnung und Gier ausschalten, eine Herkulesaufgabe, an der schon Herkules gescheitert ist. Muss er den Krieg dennoch führen? Unbedingt. Nichts ist weniger wahr als die Behauptung, erst müsse die Armut beseitigt, die soziale Frage gelöst sein, Liebe zur Natur und Wertschätzung ihrer Güter folgten dann von selbst. Wo doch, global gesehen, der steigende Wohlstand die Nachfrage nach den Gütern und Schätzen der Natur erst richtig anheizt und angeheizt hat – je seltener diese Güter und Schätze sind, desto mehr.
Strategie und Taktik. Deshalb bin ich der Meinung, dass sich der Naturfreund, die Naturfreundin pragmatisch fragen müssen, wo denn, wenn schon Krieg geführt werden muss, die Chancen auf temporären Erfolg – ich spreche nicht von ‚Sieg‘ – am größten sind. Strategisch gesehen, sind die eigentlichen Kriegsherren, die Auftraggeber und Profiteure der Plünderung von Naturschätzen, Vernichtung von Wäldern, Zerstörung von Pflanzen, Massaker an Tieren … nicht zu besiegen. Sie verbergen sich gut getarnt hinter Firmenkonstrukten, Netzwerken und Institutionen und entziehen sich dem direkten Zugriff. Möglicherweise führen sie den Naturschutz im Munde und machen exakt jene Gesetze, die sie dann ungeniert brechen. Es geht schließlich um Investitionen in ein Milliardengeschäft – und Öffentlichkeitsarbeit ist ein unverzichtbarer Teil der Geschäftspraktiken.
Um den Turm zu erobern, musst du die Bauern schlagen. Naturschutz-Strategie muss auf dem Schlachtfeld ansetzen und dort ihre Taktik der gezielten Nadelstiche entfalten. Wer sind die Schwächsten (aber gerade deshalb auch Brutalsten) im globalen Spiel der Naturzerstörung? Die kleinen Handlanger, die eigentlichen Beschaffer der begehrten Ware. Wer fällt und verbrennt die Tropenbäume? Wer killt das begehrte Wild, um an die kostbare Trophäe zu gelangen – das sprichwörtliche ‚weiße Gold‘ der Elefanten oder den prestigeträchtigen Kopfschmuck des Nashorns? Wer sind die bewaffneten Wilderer, wer die gewieften Schmuggler, die Hehler, die Transporteure, Zwischenlagerer und Zwischenhändler? Diese Fragen gilt es zu stellen und richtig – taktisch richtig – zu beantworten. Der Turm wankt, wenn man seine Fundamente untergräbt. Wenn er ordentlich, das heißt systematisch unterminiert wurde, fällt er in sich zusammen.
Zerstören oder korrumpieren? Die Frage der Manpower. Den klassischen Wilddieb, den romantischen Freischütz und alpinen Volkshelden hat es vielleicht so nie gegeben. Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass es sich dabei um einen erfolgreichen – relativ, von einer prekären sozialen Nulllinie aus gemessen erfolgreichen –, mehr oder weniger skrupellosen Entrepreneur im Fleischbeschaffungsprozess, im Schmuggler-Business und Handel mit verbotener Ware (samt entsprechendem Risikoaufschlag) gehandelt hat. Literarisch-folkloristische Verklärung hin oder her – der Fall des alpinen Wilddiebs ist insofern lehrreich, als der Kampf gegen ihn ebenso typisch wie erfolgreich verlief.
Natürlich waren es keine ‚Naturschützer‘ im heutigen Sinn, keine WWF- oder Greenpeace-Leute, sondern Gendarmen, Wildhüter und Revierförster, die sich der volkstümlichen, also populären Jagd widersetzt haben. Fast schon genial daran war die dahinter stehende Logik: indem sie die Wilderei vom Standpunkt einer ‚ordentlichen‘ Behandlung der Natur aus betrachteten, konnten sie sie als illegale Plünderung der Natur definieren, und so haben diese Förster und Wildhüter das eigentliche Tun des Wildschützen als das entlarvt, was es in ökologisch-ökonomischer Hinsicht ist – kein Heroismus, sondern … siehe oben.
Daraus können Lehren gezogen werden für einen möglicherweise erfolgreichen Umgang mit der Manpower des internationalen Natur-Plünderungs-und-Verwertungs-Geschäfts. Also für eine möglichst effiziente Unterminierung der Basis besagten ‚Geschäfts‘. Zweierlei Maßnahmen führten in den mitteleuropäischen Revieren zur Zurückdrängung der Wilderei (die auf ihrem Höhepunkt, weit davon entfernt, das zu sein, was Literatur und Folklore später aus ihr machten, eine soziale, politische, schlussendlich auch kriminalistische Angelegenheit war, aus denen alle Beteiligten nur mit enormen – and in the end beziehungsweise in Wahrheit überflüssigen – Verlusten an Gütern und Leben herauskamen). Zweierlei Maßnahmen. Einerseits ‚erledigte‘ man das Problem durch die physische Eliminierung der unbelehrbarsten Elemente desselben, also der Wildschützen, also mit Waffengewalt. Andererseits ‚korrumpierte‘ man das System der Wilderei, indem man den fähigsten Wilddieben zu verlockenden ökonomischen Bedingungen den Übertritt ins legale Lager ermöglichte. Und in der Tat waren die tüchtigsten Gendarmen, die effizientesten Revierförster … ehemalige Freischützen.
Die Basis ‚umdrehen‘. Den Rückhalt haben Wilderer, Schmuggler von Naturschätzen, illegale Beschaffer von Tropenholz, Bushmeat, Elfenbein und Nashorn heute wie damals in der Solidarität lokaler Gemeinschaften, die objektiv oder subjektiv so ‚arm‘ sind, dass jede Aussicht auf einen noch so geringen Gewinn – auf einen Basislohn sozusagen – selbst größere Risken als annehmbar erscheinen lässt. Hier kann man einerseits direkt vorgehen, indem man das Risiko erhöht – das Beispiel des Revierförsters, der dem Wilddieb mit geladener Waffe begegnet.
Man kann aber auch das Armutsgefälle als solches verringern – einerseits in der lokalen Gemeinschaft selbst, wodurch die Solidarität mit dem illegal vorgehenden Gemeindemitglied (von dessen steigendem individuellen Wohlstand die Gemeinschaft in der Regel kaum bis gar nicht profitiert) geringer wird. Andererseits genügt es wahrscheinlich, den Wilderern ein finanzielles Angebot zu machen, das den vom bisherigen Auftraggeber gezahlten Sold um einiges übersteigt – schon hat man einen fähigen Ranger und Naturschutzagenten mehr, notabene wenn dieser auch noch gut mit Waffen umzugehen versteht. Wie man hört, gibt es bereits ermutigende Beispiele solcher zum Naturschutz-Paulus Bekehrter. Was einer Wagner-Truppe im Bösen gelingt – immer wieder neue Rekruten an Land zu ziehen, die für einen Sold, der so hoch nun auch wieder nicht ist, plündernd und mordend ihre Haut zu Markte tragen –, sollte doch auch im Guten möglich sein. Mutatis mutandis, versteht sich: Morde und Vergewaltigungen im Naturreservat machen sich schließlich eher nicht so gut.
(Im dritten und letzten Teil soll versucht werden, am Leitfaden der Ökologiegeschichte des Waldes Sinn und Unsinn der Fundamentalökologie zu erörtern)
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* Smetacek/Liedl 2017 = Melanie Smetacek / Gottfried Liedl: Born to be urban – Europas Paradiesvögel. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 140–181
** Links zu Mönchssittich, Halsbandsittich und zur Neozoen-Frage:
Link 1; Link 2; Link 3; Link 4; Link 5; Link 6; Link 7; Link 8 (Mönchssittich); Link 9 (Halsbandsittich); Link 10 (neue Spezies); Link 11 (exotische Vögel); Link 12 (Papageien in Málaga)
*** Zur Ausrottung des spanischen Vorkommens von Ammotragus lervia: Revista Jara y Sedal (6. Juli 2022)
Bitterer 'Gag' samt unfreiwilliger Komik gefällig? Die für die Ausrottung zuständige Organisation selbsternannter 'Hüter der natürlichen Ordnung' nennt ihr Projekt Plan de Ordenación de los Recursos Naturales del Parque – abgekürzt PORN. Na also.
In meiner Jugend (das war in den 60-er und 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts, und leider wird man nicht jünger) erlebte so mancher Zeitgenosse (mit oder ohne Jagdprüfung), wie es ist, sich dem Gefühl eines zart keimenden umweltpolitischen Frühlingserwachens hinzugeben.
Was redet er da – Jagdprüfung?
Jahrhunderte lang hatte die Unterscheidung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ auch für die Natur gegolten. Für den Weidmann waren die ‚guten‘ Tiere das sogenannte Friedwild (Rehe, Hirsche, Gämsen und anderes Getier in Wald und Fels, dem die Sorge und Fairness des Jägers notabene Hegers zu gelten hatte – obwohl, um der Wahrheit die Ehre zu geben, Landwirte solche Weidgerechtigkeit nie wirklich akzeptierten; für sie galt und gilt das einfache Konkurrenzprinzip: außer ihnen selbst hat kein Lebewesen irgendeinen Anspruch auf die Früchte des Ackers). Und dann gab es die Bösen – die Jäger hatten sie ‚Raubwild‘ oder gar ‚Raubzeug‘ getauft … die wurden verfolgt. Das waren die Luchse, die Bären, die Wölfe … die Reihe ging hinunter bis zu den Füchsen, Mardern und Wieseln; in den Lüften galt die negative Aufmerksamkeit jener Jäger und Heger den sogenannten ‚Raubvögeln‘, den Adlern und Habichten; und dem gefiederten ‚Raubzeug‘, den Krähen und Elstern. In der Bekämpfung derselben – die alten Jagdgesetze nahmen sich da kein Blatt vor den Mund – waren vom Tellereisen bis zum Gift alle Mittel erlaubt. Was sage ich … Bekämpfung? Ausrottung hieß die Losung, wenn am Jägerstammtisch die Rede auf die ‚Bösen‘, die ‚Schädlichen‘ kam. Bonadeas Gatte, der „nicht nur Richter, sondern auch Jäger war“, sagt im Mann ohne Eigenschaften, „dass es einzig das Richtige sei, das Raubzeug allerorten ohne viel Sentimentalität auszurotten“ (Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, I, Seite 261).
Eine ökologische Wende. Aber in den öffentlichen Diskurs – und Ehre, wem Ehre gebührt: die Jagdgesetzgebung war da ganz vorne mit dabei (jedenfalls im deutschsprachigen Raum) – kam Bewegung. Statt des Antagonismus der einzelnen Teile („nützlich-schädlich“) sah man ein Zusammenspiel im Ganzen, statt einzelne privilegierte Arten zu schützen, sollte eine Umwelt – sollten Habitate („mit allem, was dazugehört“) – erhalten, gefördert, ja wieder hergestellt werden. Leuchtturmprojekte wie die Wiederansiedlung des Wanderfalken, des Uhus, des Lämmergeiers und des Seeadlers, des Fischotters, der Wildkatze und des Luchses bereiteten die Öffentlichkeit mental, juristisch und praktisch auf die Rückkehr der großen Beutegreifer vor: des Wolfs und des Bären. Ja. Beutegreifer nannte man jetzt die einst als Räuber, Raubtiere und Raubzeug denunzierten Fleischfresser. Das 19. Jahrhundert mit seinem ‚Gut und Böse‘ in der Natur schien endlich überwunden.
Zu früh gefreut. Es gibt sie wieder, die Schädlichen, die Bösen. Sie heißen jetzt nur ein wenig anders: Neobiota, Neozoen und Neophyten, Alien Species … Ihre ‚Schädlichkeit‘ (yes, sir … der alte Begriff feiert in der europäischen Gesetzgebung als Noxious Wildlife fröhliche Urständ) entspringt wie seinerzeit einem Nützlichkeitskalkül; nur dass sich der Mensch, dem das ‚böse‘ Naturwesen einen Schaden zufügt (zum Beispiel der Wolf dem Schäfer, der Luchs dem Jäger) jetzt schlau hinter der Natur selber versteckt: hinter der einheimischen Natur, wohlgemerkt. Also gibt es noch eine andere, eine nicht-einheimische, eine ausländische Natur. Arten dieser ‚fremden‘, dieser feindlichen Natur müssen möglichst kostengünstig … ausgerottet werden („to eradicate such species in a cost-effective manner“: EU-Durchführungsverordnung der Kommission 2016/1141 vom 13. Juli 2016).* Oder wie es in der spanischen Version so schön, so unverblümt heißt: „Estas plantas deben ser eliminadas de raíz – diese Pflanzen müssen mit der Wurzel ausgerissen werden.“
Damit hat sich das Gut-Böse-Schema sogar ausgeweitet. ‚Gut‘ sind die Einen, die Naturschützer (wahlweise: Ökologen), ‚schlecht‘ oder böse (denn es setzt Strafen für jene, die sich an die neue Sprachregelung und Gesetzeslage nicht halten) die Anderen – jene Rücksichtslosen, welche ‚fremde‘, sprich ‚böse‘ weil ‚ausländische‘ Lebewesen dulden, fördern oder gar einführen, sprich ‚einschleppen‘ (gemäß einer bestimmten Diktion mit politischem Zungenschlag) – vielleicht in Anlehnung an die ‚Schlepper‘, die fremde Menschen heranschaffen?
„Aber es geht doch um die Artenvielfalt.“ In den Erläuterungen zur EU-Richtlinie werden unter invasive alien species jene Arten verstanden, durch deren Existenz „die biologische Vielfalt bedroht oder negativ beeinflusst“ wird. Biologische Vielfalt wessen – eines bestimmten (begrenzten) Gebiets; eines größeren (nationalen) Territoriums; eines ganzen Kontinents? Auf welchen Zeitpunkt bezieht sich der Begriff: auf die Zeit vor dem erstmaligen Auftreten einer neuen (‚fremden‘) Art? Und was, wenn dieser Zeitpunkt schon so lange zurückliegt, dass man die genaue Artenzusammensetzung, also besagte ‚biologische Vielfalt‘ gar nicht mehr exakt rekonstruieren kann? Und muss somit nicht unter ‚biologischer Vielfalt‘ die Gesamtheit aller Arten inclusive der später oder ‚neu‘ hinzu gekommenen verstanden werden? Das jedenfalls geböte die Logik der Sprache und ihrer Syntax (‚Vielfalt‘ impliziert das Ganze eines beobachteten Ensembles). Aber wir wollen nicht beckmesserisch sein. Wo die Richtlinie ohnedies von sich aus preisgibt, dass der Begriff ‚biologische Vielfalt‘ nur vorgeschoben ist.
Es geht um die Artenvielfalt? Nein. Um Homo sapiens. Die EU-Richtlinie macht klar, dass es, wie weiland in der Rede vom ‚Nützlichen‘ und ‚Schädlichen‘, einzig um jenen Nutzen geht, der dem Menschen erwächst. Bedroht durch invasive alien species seien vor allem die sogenannten ecosystem services, belehrt uns der Gesetzestext – ein Begriff, der gemäß den Erläuterungen am Ende des Texts „die direkten und indirekten Beiträge von Ökosystemen zum menschlichen Wohlbefinden (direct and indirect contributions of ecosystems to human wellbeing)“ bedeuten soll. Na also, warum nicht gleich? Warum so schüchtern … Als ob sich die industrialisierte Landwirtschaft (nur ein Beispiel, werte Damen und Herren Agrarier) jemals groß den Kopf zerbrochen hätte über (hier darf gelacht werden) … Biodiversity.
Mit dem Schlagwort human wellbeing (besonders in der eigenen freien Übersetzung als „We feed the world“) kann sie da schon mehr anfangen.
(Wird fortgesetzt)
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* Links zur EU-Gesetzgebung (Kampf gegen Neobiota und invasive Arten): Link 1; Link 2
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Postscriptum: Was kann Wissenschaft? Am Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie (FIWI) der Veterinärwissenschaftlichen Universität Wien wird eine Professur für Movement Ecology eingerichtet. Erforscht werden sollen die wachsenden Grauzonen dicht besiedelter Landschaften, in denen sich Lebensansprüche von Wildtieren mit Nutzungsansprüchen des Menschen überschneiden. Man möchte zum Beispiel klären, was es mit den Wanderungen von Wölfen oder Bären auf sich hat; ob und warum Hirsche und Rehe in ihren Waldeinständen bleiben oder wenn nicht, wie sehr sie dabei auf Verbauung und Verkehr reagieren beziehungsweise in welchem Ausmaß sie von menschgemachten Veränderungen des Lebensraums beeinflusst werden.
Abgesehen davon, dass der Bereich 'menschgemachte Umwelt' mittlerweile „eh alles“ umfasst, was einem als Tier heutzutage begegnet: Was nützen die best erforschten Tatsachen und klügsten Vorschläge seitens der Wissenschaft, wenn sie von einer obstinaten Gesellschaft samt indolenter Politik ignoriert werden?
„Warum der Wolf wandert, ist mir doch sch...egal. Ich mag ihn da nicht haben, basta!“
Da kann sich die werte Wissenschaft – wie sagt man in Österreich so schön? „Brausen“.
Als ich vor mehr als 50 Jahren als ganz schön grüner Junge zum ersten Mal in Spanien war, um mit einem kleinen Team im Auftrag des ORF einen Dokumentarfilm zur Kulturgeschichte der Iberischen Halbinsel zu drehen, war der Generalissimus Franco noch an der Macht; Mädchen wurden von ihren Vätern und Brüdern strenger gehütet als weiland der Zugang zur Unterwelt vom dreiköpfigen Cerberus; und ein Paar handgenähter Lederstiefel, die ich mir in der Madrider Innenstadt kaufte, waren so preisgünstig, dass geschäftstüchtigere Menschen als ich gleich ein halbes Dutzend davon erworben hätten. Mit den neuen Stiefeln an den Füßen ging es zum nächsten Kiosk, wo ich mich nach meiner Gewohnheit mit den wichtigsten örtlichen Journalen einzudenken gedachte. Dort las ich zum ersten Mal den Namen Félix Rodríguez de la Fuente, er stand auf dem Titelblatt einer Hochglanzbroschüre. Natürlich erwarb ich das Heft, das sich mit der afrikanischen Megafauna befasste und vom Porträt eines prächtigen Kaffernbüffels geziert war, ohne zu ahnen, dass ich damit die erste Nummer einer der erfolgreichsten Projekte seiner Art in Händen hielt, die jemals in Spanien veröffentlicht wurden (18 Millionen verkaufte Exemplare). Das Heft, das heute ein kleines Vermögen wert wäre, besitze ich leider nicht mehr – dafür aber die Gesamtausgabe der ein wenig später als Enzyklopädie in Buchform herausgebrachten Reihe (31 Bände).* Zusammen mit der ‚Schwesteredition‘ zur iberischen Fauna (Fauna Ibérica, 30 Bände)* steht damit eine bibliophile Kostbarkeit in meinem Bücherschrank, für die mittlerweile in der Szene der Naturalistas (zumindest wenn es sich um die Erstauflage handelt) ebenfalls recht ordentliche Summen geboten werden, wie ein Blick ins Netz zeigt. Es ist daher nur logisch, dass mein spanischer Schatz im andalusischen Landhäuschen einen Ehrenplatz hat – gleich neben der (freilich schon recht zerfledderten) Erstausgabe des großen Brehm.
Der spanische Alfred Brehm. Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklopädie Salvat de la Fauna (1970–1973) betrat der 1928 geborene Félix Rodríguez de la Fuente zugleich mit der spanischen die Bühne der Welt – vor allem in Lateinamerika gilt er als Begründer des modernen Naturschutzgedankens, was nicht verwundert, da er schon in seiner spanischen Heimat der unbestrittene Held der Ecologistas war.
Es gäbe weder die äußerst lebendige Szene des Senderismo – die für mediterrane Verhältnisse fast paradox anmutende Wanderbewegung (ich erinnere mich an ein Interview mit der Sängerin Montserrat Caballé, worin sich die spanische Künstlerin über deutsche Waldes- und Wanderlust mokierte und behauptete, im Spanischen existiere nicht einmal ein Wort für ‚Wandern‘) –, noch gäbe es die ausgeprägte Naturliebe, geschweige denn das verblüffende Faible der jüngeren Generationen für den Wald, so behaupte ich kühn, ohne den großen Naturfreund und Propagandisten der Tier- und Pflanzenwelt, Falkner und Wolfsexperten aus León.
Ich selbst, nachdem ich das sagenhafte Heft Nr.1 der Fauna mehr nebenbei als im vollen Bewusstsein seiner Bedeutung erstanden hatte, stieß Jahre später auf die Fernsehserie Fauna Ibérica – Der Mensch und die Erde, eine Produktion des Spanischen Schulfernsehens (Televisión Escolar), die der ORF in Lizenz ausstrahlte. Wieder war ich – wie drücke ich mich präzise aus? – baff. Da gab es im äußersten Südwesten des Kontinents zur mitteleuropäisch-romantisch-naturalistischen ‚Volksbildung‘ (von Brehm über Grzimek zu Lorenz, um es sehr flapsig, sehr schlampig, sehr pointiert zu formulieren) ein kongeniales Gegenstück. Mehr noch: diesem Mann aus León war für die spanisch-sprachige Welt gelungen, was Heinz Sielmann, Bernhard Grzimek und Co. für Mitteleuropa, was Sir David Attenborough für die angelsächsiche Hemisphäre (und somit für den Rest der Welt) geleistet hat. Auch darüber gibt das gesammelte Wissen im Netz Auskunft: „Sein Team bestand aus jungen Biologen, darunter Miguel Delibes de Castro, Javier Castroviejo, Cosme Morillo und Carlos Vallecillo. […] Delibes erinnerte sich daran, die Enzyklopädie [Enciclopedia Salvat de la Fauna] noch Jahre später unter den Fachbüchern in den meisten europäischen naturwissenschaftlichen Museen gesehen zu haben“ (vgl. Link 1; Link 2; Link 3).**
Gedanken eines Mediterranen über den Wald. Bevor ich den kleinen Text vorstelle, worin der ‚Spanische Alfred Brehm‘ einen, vielleicht sogar ‚den‘ Gordischen Knoten der Ökologiegeschichte – die Behandlung des Waldes durch den Menschen – nein, natürlich nicht zerschlägt sondern meisterhaft-minutiös in allen Windungen und Verschlingungen beschreibt, erlaube ich mir eine Vorbemerkung.
Bei der Verachtung des Waldes (und dem Hass gegen ihn) geht es sowohl um Handfestes als auch … ja, doch: Metaphysik. Der geschichtlichen Reihe, die von ‚Römischer Kultur‘ über das Christentum zum Mittelalter führt, entspricht auf symbolisch-psychologisch-kultureller Ebene eine ebenso konsequente Entwicklung im Naturverständnis. Mit einer wichtigen Einschränkung! Denn obwohl die mediterrane Kultur an der zunehmenden Naturferne des ‚zivilisierten‘ Menschen eine Mitschuld trifft (ein zentraler Aspekt im Text von Rodríguez de la Fuente), beginnt die eigentliche Orgie des Hasses erst mit dem Christentum und dessen Feldzug gegen alles Heidnisch-Naturreligiöse. Die germanische Donar-Eiche hat kein Römer gefällt sondern ein angelsächsisch-christlicher Missionar.
Im Hercynischen Wald. Beginnen lässt Rodríguez de la Fuente seinen Text über das Schicksal des Waldes mit Zeugnissen aus der Feder antiker Autoritäten – es sind deren zwei, Cäsar und Tacitus, und beide nicht ganz unverdächtig, weil alles andere als unparteiisch. Der Politiker Cäsar möchte seinen Landsleuten schmeicheln, indem er sie vor dem Hintergrund barbarischer Gegenden und Völkerschaften als die ‚Zivilisierten‘ hinstellt, denen die Herrschaft über ‚die Wilden‘ rechtmäßig zusteht. Der zivilisationskritische Tacitus wiederum warnt seine Landsleute vor den Folgen der Dekadenz und zeichnet das Bild eines zwar in düsteren Wäldern hausenden, darum aber auch abgehärteten, gesunden (vor allem moralisch gesunden) Menschenschlags, welcher der ‚zivilisierten‘ Menschheit den Spiegel vorhält.
„Im Hercynischen Wald lebten Bisons, Auerochsen, Hirsche, Wildschweine und Bären. Im undurchdringlichen Dickicht herrschten aber auch die Barbaren – also Völker, welche, weit entfernt von allen Feinheiten der Zivilisation, in den Augen der Römer keiner näheren Betrachtung wert waren. Vielleicht müsste man bis zu jener Trennlinie zurück gehen, wo sich erstmals Menschen des Neolithikums, Bürger wohlhabender Stadtstaaten und Krieger künftiger Großreiche vom urwüchsigen Bewohner der Wälder am Rande der Welt distanzierten, vom Jäger mit seiner steinzeitlich anmutenden Kultur. Dort nahm auch der Hass seinen Anfang, der Hass, den ‚der Zivilisierte‘ gegen den Wald hegt. Hass und Verachtung haben innerhalb weniger Jahrhunderte eine unvorstellbar reiche Welt zerstört“ (Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 f.).*
Die Warnung des Ökologen. Der spanische Naturalist mit seiner eigenen mediterranen Geschichte – voller Erzählungen von ökologischer Rücksichtslosigkeit und ökologischer Vernunft, angefüllt mit Weisheiten und Lehren im Gefolge von Krisen – blickt auf den Rest der Welt. Ihm, dem gewitzten Mediterranen, genügt die rationalistische Erklärung von der Nutzen-orientierten Ausbeutung der Natur nicht. Er sieht ein zutiefst psychologisches, ein tiefenpsychologisches Moment dahinter. „Ereignet hat sich das in Europa, Ähnliches geschah aber auch in Asien und später in Nordamerika. [Aber] der Hunger nach Holz für Industrie- oder Bauzwecke allein genügt nicht als Erklärung für die massiven Verwüstungen im Reich der Wälder – vor allem der Laubwälder. Im Konflikt zwischen zwei unumkehrbaren und antagonistischen Kulturen – der Altsteinzeit, die sich an die Umwelt anpasste, und der Jungsteinzeit, die sie veränderte – fiel der Wald als ‚Feind‘ den neuen Herren des Planeten zum Opfer. Und weil es unglücklicher Weise leichter ist zu zerstören als zu begreifen, hat der Mensch, mit Axt und Pflug bewaffnet, die Bäume eliminiert statt sie weise zu nutzen. Der Vormarsch der Zivilisation ging mit der grausamsten Abholzung einher, und nur Diejenigen leisteten Widerstand, die sich wie der legendäre Robin Hood aus welchen Gründen immer der herrschenden Ordnung entzogen; sie ließen sich in den Wäldern nieder, fanden in ihnen den idealen Rückzugsort und eine perfekte Basis für ihren Kampf.“
Die Pointe kommt zum Schluss – der Hinweis auf den christlich-antiheidnischen Untergrund der Waldgeschichte. Das ‚kleine schmutzige Geheimnis‘ (Friedrich Nietzsche) europäischer Denkungsart wird zwar nicht laut ausgeplaudert, doch mittels Zitats unabweisbar nahegelegt. „Wie uns Jean Dorst erklärt,“ – der Umweg über Frankreich, den Hort der Aufklärung, ist schwerlich Zufall – „war die Zerstörung der Wälder die große Obsession des Mittelalters, da ‚der Wald mit der Barbarei identifiziert wurde, die zum Wohle der Zivilisation (wie sie sich in den Nutzpflanzen und Biotopen einer humanisierten Welt präsentiert) zurückgedrängt werden musste'“ (Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1331 f.).* Humanisiert, christianisiert – egal. Die Aufklärung hat beides ununterscheidbar gemacht. Fast ununterscheidbar gemacht, wie der Skeptiker rasch ergänzt.
Von der Iberischen Halbinsel in die Welt – die ökologische Aufhebung der Leyenda negra. Mit dem Begriff Leyenda negra, ‚Schwarze Legende‘, schlägt sich die Geschichtsschreibung herum, seit es diese Legende gibt – denn die Rede vom sinistren Charakter der iberischen Nationen wurde gleichzeitig mit den spanischen und portugiesischen Eroberungen einer beziehungsweise vieler (vermeintlich) Neuer Welten in Umlauf gebracht. Die anderen europäischen Nationen waren keineswegs edlere Eroberer und ‚Entdecker‘ – sie waren bloß, was das In-die-Welt-Setzen von Schwarzen Legenden betraf, in publizistischer Hinsicht schneller und in der politisch-ideologischen Verwertung derselben geschickter. So blieb von den unzähligen Gräueln einer europäischen Expansion, von den ökonomischen und ökologischen Verwüstungen und Verwerfungen vor allem das einschlägige Tun der Iberer in Erinnerung. Ein später Sohn besagter iberischer Nationen hat den ökologischen Spieß umgedreht und die in Wahrheit weltweite Geltung des Satzes ‚Wo des Menschen Fuß hintritt, wächst kein Gras mehr‘ von der Iberischen Halbinsel aus in theoretischer und praktischer Hinsicht bewiesen. Weniger verklausuliert gesprochen: Der Spanier Félix Rodríguez de la Fuente hat aus Naturliebe quasi im Nebeneffekt auch zur Ehrenrettung seiner seit 1492 in ein welthistorisch schiefes Licht geratenen Nation beigetragen. Er widmete, heißt es im Netz, „seine Zeit […] der Rettung verschiedener Tierarten, die vom Aussterben bedroht sind, insbesondere des Wolfs [… und brachte es fertig, für ihn] Respekt und Wertschätzung seitens der Gesellschaft zu schaffen, ähnlich wie er Jahre zuvor dasselbe für Greifvögel erreicht hatte […]. Weitere Tiere, die von ihm geschützt wurden, waren der iberische Bär, der Luchs, der Steinadler und der Kaiseradler. [… Gegenstand seiner Fürsorge waren auch] die Dünen von El Saler, der Park von Doñana, der Nationalpark Tablas de Daimiel, der Berg El Pardo und die Laguna de Gallocanta, einer der größten Seen Spaniens in der Autonomen Region Aragonien“ (vgl. Link 1).**
Der spanische Alfred Brehm mit einem seiner vor dem Tod durch Erschlagen geretteten Wölfe © El Español / Odile Rodríguez de la Fuente (Link)
Das Bestreben, die ökologische Sensibilisierung seiner engeren und weiteren Heimat (Spanien, West- und Mitteleuropa) im Weltmaßstab abzubilden, also das ab 1492 wenig menschen- und naturfreundlich gestartete Projekt der Iberer nachträglich wenigstens hinsichtlich der Natur zu korrigieren, hat ihn schließlich das Leben gekostet. Die letzte seiner zahlreichen Expeditionen, die alle den Zweck hatten, der Welt die Augen zu öffnen für Schönheit und Gefährdung einer einzigartigen Flora und Fauna (das mag pathetisch klingen, ist aber trotzdem nicht falsch), führte ihn nach Alaska, wo er am 14. März 1980, genau an seinem 52. Geburtstag, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.
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* Literatur:
Félix Rodríguez de la Fuente: Fauna ibérica. El hombre y la tierra. Enciclopedia Salvat de la fauna ibérica y europea. 30 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1991–1995
Félix Rodríguez de la Fuente: Enciclopedia Salvat de la Fauna. 31 Bände, Salvat Editores: Barcelona 1993–1995
Der zitierte Text ist aus Enciclopedia Salvat de la Fauna, Band 14, Seite 1330 ff.
Bücher von Jean Dorst (1924–2001), eine Auswahl:
Les migrations des oiseaux. Payot: Paris 1956
Les animaux voyageurs. Hachette: Paris 1964
La force du vivant. Flammarion: Paris 1979
La planète vivante [mit David Attenborough]. Delachaux et Niestlé: Neuchâtel (Lonay) – Paris 1985
La faune en péril [mit Gaëtan Du Chatenet]. Delachaux et Niestlé: Lausanne (Lonay) – Paris 1998
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Zum Weiterlesen:
Robert Pogue Harrison: Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur. Aus dem Amerikanischen von Martin Pfeiffer. München – Wien 1992
Ein Buch, das ich jedem Waldläufer, jeder Waldläuferin (und solchen, die es noch werden wollen) aufrichtig empfehlen kann.
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** Links zu Félix Rodríguez de la Fuente (Biographie, Lebenswerk): Link 1; Link 2; Link 3
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Sachdienliche Nachbemerkungen zur Rettung der Welt. Oder so ähnlich. Mindestens eine ganze Generation und Hunderte Artensterben- und Klimadiskussionen später … Des spanischen Alfred Brehm Nachfahren im Geiste, so sie jung genug für die Sinnfrage sind, wie sie sich am Anfang des Erwachsenendaseins zu stellen pflegt (oder auch nicht zu stellen pflegt), machen sich Gedanken über die Berufswahl. Aus der Empörung zum Protest und von dort ins Machen und Tun zu kommen, hat nichts an Aktualität verloren und ist auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive, wenn ich so sagen darf, ganz schön brisant. Oder wie es DIE ZEIT No 29 vom 6. Juli 2023 auf Seite 29 ihrer Beilage ‚GREEN‘ durch den Mund ihres Korrespondenten Uwe Jean Heuser schmissig formuliert: „Rund zehntausend Tage arbeiten Menschen in ihrem Leben. Eine Initiative will dafür sorgen, dass sie es fürs Klima tun und nicht dagegen“.
Welche Zukunft ist gemeint? Jede Aufbegehrende, jeder Empörte macht früher oder später die Erfahrung, dass Betonwände den Utopien etwas Entscheidendes voraus haben: ihre Festigkeit. Eine gleichgültige Zivilgesellschaft, die es sich zwischen politischer Einfalt, professionellem Beharrungsvermögen und wirtschaftlichem Schlendrian bequem gemacht hat, stellt beim leisesten Lufthauch, der sie aus der Zukunft erreicht, den Kragen hoch. Fridays for Future war als Ereignis dashing, aber in der Wirkung mau.
Warnung an die Leserschaft: jetzt wird es abstrakt … sprich philosophisch. Wer sich von Philosophen nicht gerne an der Nase herumführen lässt, ist somit höflich eingeladen, die Sache zu überspringen und den Faden allenfalls einen Absatz weiter unten wieder aufzunehmen.
Die Lehre lautet: Niemals auf das Einsehen der Menge hoffen und schon gar nicht auf das Einlenken von Politik und Wirtschaft. Jene, denen diese Lehre ins Stammbuch zu schreiben wäre, lassen sich (vom Standpunkt einer bestimmten Philosophie aus) als Verfechter einer Zukunft mit mehr als nur einer Option beschreiben; die andere Seite, die ihnen als geschworene Hüter des Status quo widerspricht (und dem Einspruch nicht selten ein Quantum Backpfeifen und Nasenstüber folgen lässt), muss man dann, derselben Logik folgend, bezüglich ihrer Zukunftshaltung Verfechter einer Wirklichkeit mit nur einer einzigen Option nennen. Ende des philosophischen Einschubs.
Angesichts des stets drohenden Szenarios, sich an der Betonmauer des Satus quo die Nasen blutig zu stoßen, ist Verfechtern einer Wirklichkeit mit mehr als nur einer Option (von ihren Gegnern ‚Utopisten‘ genannt) somit zu raten, sich mit dem Status quo (und dessen Hütern) – nein, nicht anzufreunden sondern präzise und kühl zu beschäftigen und nach der berühmten Achillesferse Ausschau zu halten.
Diese Achillesferse der Konkurrenz-basierten Volkswirtschaft kennt mittlerweile sogar der einfache Provinzpolitiker, der versucht, neue Gewerbebetriebe in seinem Wirkungsbereich anzusiedeln, nach der Devise „Wollen tät‘ ich ja, aber können kann ich nicht“.
Warum das so ist, liest sich im Feuilleton eleganter und präziser formuliert, aber der Sache nach identisch: „Volkswirtschaftliche Zahlen zeigen, wie dringend das Land mehr Menschen in Handwerk und Technik braucht. […] Insgesamt fehlen [der deutschen Wirtschaft] 216.000 Arbeitnehmer vor allem in der Bautechnik, der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik sowie der Informatik“ (DIE ZEIT, ebd.).
Achillesferse einer retrograden Status-quo-Gesellschaft … Das Beharren auf ‚alten‘ Industrien und ‚bewährten‘ Verfahren hat ein Feld von enormem volkswirtschaftlichen Potenzial brach liegen lassen. Anders gesagt, indem man sich weigert, Zukunft als nicht-lineares, ‚offenes‘ Ereignis wahrzunehmen (stattdessen liest man sie als bloße Fortschreibung der Gegenwart, was unter dem Gesichtpunkt der Wahrung von Besitzständen natürlich eine konsequente und angemessene Haltung darstellt), überlässt man sie – die nicht-lineare Zukunft – und es, das damit verbundene volkswirtschaftliche Potenzial – lieber den anderen: „Vor rund zehn Jahren hat das Land [Bundesrepublik Deutschland] 150.000 Arbeitsplätze in der Solarindustrie kampflos an die chinesische Billigindustrie abgegeben – und damit den Glauben an grüne Jobs lange erschüttert“ (Energieökonomin Claudia Kemfert, zit. nach DIE ZEIT, ebd.). Eine klimafitte Volkswirtschaft aus dem Geist der Revolte sieht anders aus.
Geist der Revolte und der Glaube an grüne Jobs. Man kann die Gretchenfrage einer möglicherweise klimafitten, ergo dessen resilienteren Volkswirtschaft (um noch einmal die Konkurrenz-basierte Ökonomie zu bemühen) auch so stellen: „Will man als Monteur Gasheizungen einbauen oder Wärmepumpen? Als Softwareexpertin die Konsumwerbung im Internet optimieren oder Apps fürs Energiesparen entwickeln?“ (Uwe Jean Heuser, in DIE ZEIT, ebd.). Offenbar stellen sich diese Frage immer mehr Menschen an der Schwelle zum Ernst des Lebens vulgo Berufswahl. Denn, wie man hört, ist auf dem Arbeitsmarkt das sogenannte Climate-Quitting, also das Kündigen oder Ablehnen umweltschädlicher Jobs, der letzte Schrei. Friday for Future hat auch da wieder die Nase vorn (und, wie man sieht, die Sache mit der Betonwand – siehe oben – perfekt kapiert). Beispielsweise so: Um „selbst ins Handeln zu kommen“ (Helena Merschall von Fridays for Future in DIE ZEIT, ebd.), organisieren Experten und Expertinnen aus dem Fridays-Umfeld in Zusammenarbeit mit Fachfirmen der Kategorie ‚grüne Arbeitgeber‘einschlägige Lehrgänge mit Job-Appeal.
Oder wie es der Feuilletonist ausdrückt: „Jede Person kann an der Wende mitwirken, das ist die ermächtigende Botschaft. […] Wettbewerb und Wachstum sind also auch hier nicht fern. Mit jedem, der seine 10.000 Tage fürs Klima einsetzt, wächst die Wucht der Welle von unten.“
Gut gebrüllt, Löwe? Optimistisch gestimmt, wie ich derzeit bin, sage ich ja.
Dazu BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022 (Bison, Wisent und der Rest – wer sie wirklich gerettet hat); BLOG # 12 vom 5. Dezember 2022 (zum Wisent-Skandal)
„In Wirklichkeit mögen Bauern die Natur ja gar nicht.“ – „Ich weiß, dein Credo. Dein ‚Ceterum censeo‘. Dein ländliches Trauma.“ –
„Weniger Trauma als Erkenntnis. Ich schlage die Zeitung auf: Wandernder Bär verliert auf bayrisch-tirolerischer Alm sein Leben. Der Wolf als Volksfeind … neue Bauernkriege … Seeadler vergiftet aufgefunden … Luchs im Nationalpark gewildert … Da legt man die Zeitung am besten gleich wieder weg.“ – „Und widmet sich seiner Misanthropie?“ – „Sozusagen.“
Kulturgut Böser Wolf. Es erscheint logisch, dass Hirten keine Freunde anderer Beutegreifer sind. Die Formulierung ist mit Bedacht gewählt: es scheint so. Denn von welchen Hirten sprechen wir? Denen auf dem Balkan, in Griechenland? Den italienischen? Den Hirten in Spanien? Nicht dass man dort Meister Petz und Isegrim Lobeshymnen singt … aber ausgerottet hat man sie nicht. (Man muss ja nicht gleich zum Mongolen werden, der den Wolf nicht nur nicht verfolgt sondern schätzt: als Gesundheitspolizist seiner Herden).
Der Böse Wolf ist Ausdruck einer kulturellen Befindlichkeit. Charaktertier einer Geschichte, worin der ländlichen Gesellschaft nördlich der Alpen die Zerstörung eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete der Erde – Cäsar und Tacitus sind Zeugen – als ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ gutgeschrieben wird. Als sich dann anstelle der alten, locker und nachhaltig bewirtschafteten (daher auch nur sogenannten) ‚Wildnis‘ die neuen Siedlungen, Felder, Wiesen und Weiden dicht an dicht zusammendrängen, bleibt für Hase, Wildschwein, Reh und Hirsch kein Platz (erst recht nicht für Wolf, Bär und Luchs). Richtig ist, dass die mittelalterliche Agrarrevolution zu erstaunlichem Bevölkerungswachstum führt. Richtig ist aber auch, dass dies auf Kosten des Waldes geschieht, auf Kosten einer Jahrtausende alten (das Wort ist vielleicht gar nicht so weit hergeholt) Harmonie. Einer Convivencia, eines Zusammenlebens von Mensch und Natur (anscheinend kam man ja ganz gut miteinander aus). Als dann die Jäger und Köhler den Hirten und Bauern, den Rindern, Schafen und Ziegen weichen mussten, entstand die ‚zivilisatorische‘ Erzählung vom Bösen Wolf. Wo man sich auf die Füße tritt (und aus Armut selbst Grenzertragsböden unter den Pflug nimmt), gedeihen Lehrstücke des Neides und der Eifersucht. Historische Abläufe lassen sich nur schwer zurückbiegen. Traditionen schon gar nicht. Die einmal angenommene Attitüde bleibt. Selbst dann, wenn es den Grund dafür längst nicht mehr gibt.
Des Einen Leid, des Andern Freud‘. Wer sich nicht vor dem bösen Wolf fürchtet. Aufmerksam im Weltweiten Netz unterwegs, stößt man nicht nur auf Banalitäten sondern manchmal sogar auf Bezeichnendes, ja einigermaßen Überraschendes. Etwas, das man so nicht erwartet hätte, ist zum Beispiel die Broschüre der Österreichischen Bundesforste mit dem schlichten Titel Aktiv für große Beutegreifer: Bär, Luchs und Wolf.
Broschüre des WWF und der Bundesforste, 2. überarbeitete Auflage, Februar 2017 (PDF)
„Die großen Beutegreifer haben jahrhundertelang die europäische Landschaft besiedelt und sind daher Teil der europäischen Fauna. Auch in Österreich sind Bär, Luchs und Wolf als autochthone Tierarten Bestandteil heimischer Ökosysteme. Wissenschaftliche Studien belegen auf eindrucksvolle Weise, dass es in Österreich noch ausreichenden und aus ökologischer Sicht geeigneten Lebensraum für Bär, Luchs und Wolf gibt“ (Aktiv für große Beutegreifer, Einleitung, Seite 3). – So weit, so eindeutig. Zumindest aus – wie man es ausdrücken könnte – ‚wissenschaftlich-neutraler‘ Sicht. Der Tiroler oder Kärntner Herdenbesitzer würde den Sachverhalt wohl ein wenig anders formuliert haben.
Das Spannende an der Angelegenheit ist der Interessensgegensatz. Zu Wolf, Bär und Luchs haben Förster und Försterinnen eine ebenso klare Meinung wie die Leute aus der Landwirtschaft – nur anders herum: „Große Beutegreifer spielen bei dem Ziel, die biologische Vielfalt zu erhalten und die Funktionsfähigkeit von Ökosystemen zu sichern, eine wichtige Rolle. […] Die Rückkehr der Wölfe [… führt zu] einer dramatischen Verminderung der Verbissschäden am Wald“ (Einleitung, Seite 5). Wer sich regelmäßig mit Forstleuten unterhält, wird auch keine andere Antwort erwartet haben – bezüglich der Beutegreiferfrage ist im Walde alles gut, was auf Wiesen und Weiden schlecht ist. Jede Hilfe gegen den (in den Augen der Waldverantwortlichen viel zu hohen) Bestand der Jungbäume äsenden und Rinde schälenden Rehe oder Hirsche ist willkommen. Und wer meint, das könne der menschliche Jäger ebenso gut, wird zumindest bei Forstleuten mit dieser Meinung nicht sehr weit kommen. Die haben ihre eigenen Erfahrungen mit überhöhten Wildbeständen und nicht erfüllten Abschussplänen.
Das große Spiel der Antagonisten. Die Seiten und Rollen sind klar verteilt, je nachdem, welchen Anspruch auf welchen Teil der Landschaft jemand macht; selbst im Wald ‚spießt es sich‘ (Jäger als unzuverlässige Helfer der Forstleute haben wir schon erwähnt, einig sind sich diese mit den Waldleuten nur bezüglich Mountainbiker und anderer Sportler: „Die gehören weg.“)
Die Eingangsfrage, nochmals gestellt: Sind Förster die besseren Bauern? Sie sind es, wenn man ins Treffen führt, dass es auch in der Frage der großen Beutegreifer um den Interessensausgleich aller Naturnutzer geht. Das vom Jäger so geschätzte Wild macht ja auch vor Feldfrüchten nicht Halt (und Wildschweine im Maisfeld stehen eher nicht auf dem Wunschzettel des Bauern, der Bäuerin). Dies bedenkend, sollten gerade die agrarischen Gewinnmaximierer für Wildschwein-verzehrende Wölfe Verständnis aufbringen.
Kein Verständnis für Bär, Wolf & Co. darf man vom – notabene alpinen – Touristiker erwarten, nicht selten in Personalunion auch als Hütten- oder sonstiger Wirt in Erscheinung tretend. „Aber das Vieh! Schafe und Kühe sind für eine klimafitte Offenlandschaft im Gebirge unverzichtbar. Deine geliebten Wölfe bedrohen unsere kostbaren Almen.“ – „Und der klimafitte Bergwald? Der dafür sorgt, dass deine für die Volkswirtschaft so unverzichtbare Schihütte nicht eines Tages unter Geröll- und Schneelawinen verschwindet? Und wenn wir schon dabei sind – welchen Beitrag für eine klimafitte Almlandschaft leisten Schipisten, Lifttrassen und Beschneiungsanlagen?“
Wir fassen das Streitgespräch seinen Grundsätzen gemäß zusammen. Wolf, Bär & Co. sind gut für den Wald, schlecht für Tiere der Almen (und ergo dessen auch nicht eben förderlich für deren menschliche ‚Beschützer‘ – Beschützer in Anführungsstrichen, wohlgemerkt; das gilt insbesondere für jene ‚Beschützer‘ der Berglandschaft, welche dieselbe so ungemein, um nicht zu sagen unverschämt idyllisch darzustellen pflegen, dass man am Wahrheitsgehalt besagter Darstellung zweifeln darf). Den Argumentenmix erweiternd und noch zuspitzend mag ein kritischer Geist anführen, dass – immer gemäß der oben angewendeten Logik – auch Mountainbiker, Schifahrer und Bergsteiger ‚schlecht‘ sein können – für Almen und Wälder.
Verwirrspiel der Stellvertreter und Vorgeschobenen. Bleibt noch die Frage zu klären, wer die eigentlichen Gewinner oder, je nach Perspektive, Verlierer sind (und ich meine jetzt nicht Luchs, Bär und Wolf …). Anders gefragt: Wer steckt hinter den Bauern? Und wer hinter den Bergbauern?
Auf die erste Frage mag die Anwort lauten: Großagrarier und Rohstoffbörsianer. Auf Frage zwei: Großtouristiker und Ortskaiser.
Na also. Nichts ist wie es scheint. Nein, nichts ist wie uns glauben gemacht wird, dass es sei. Fragen über Fragen. Übrigens: Von Kühen ist bekannt, dass sie prinzipiell nicht abgeneigt sind, Touristen – also die vielzitierten zahlenden Gäste – zu töten (und von Bären scheint dasselbe für Jogger zu gelten). Von ähnlichen Gelüsten bei Wölfen schweigt die Chronik. Jedenfalls bis dato.
Der Wolf im Schafspelz oder: Dubai im Weinviertel. Wölfe und Bären wollen wir nicht auf unseren Wiesen und Weiden sehen. Wölfe und Bären fressen unser Vieh. Und ohne unser Vieh würden die Almen verschwinden! So spricht der moderne Landwirt. Er wäre aber nicht ‚moderner Landwirt‘, könnte er nicht auch ganz anders. Dann ist das mit der Erhaltung und Bewahrung gleich viel weniger ernst gemeint.
„In Grafenwörth werden hunderte Häuser auf die Wiese gebaut – trotz Klimakrise und schwindender Böden. Der Bürgermeister – und Präsident des Gemeindebunds – freut sich. Er hat viel Geld verdient. Hunderte Häuser stehen aufgefädelt am Wasser. […] Das Rendering erinnert an Dubai, an die prahlerisch grünen Wohnanlagen mitten in der Wüste. Doch das Baufeld liegt nicht in der Wüste. Es bettet sich in satte Futterwiesen, Kornfelder, Äcker. […] Es ist ein Projekt, das in Zeiten der Klimakrise und schwindender Böden niemand für möglich gehalten hätte. [… Der Bürgermeister] hat damit viel Geld verdient.“ Die Details gleichen den Phänomenen, die man von anderen vergleichbaren Vorgängen ‚auf dem Lande‘ gut genug kennt; sie können bei Bedarf (oder wenn der Blutdruck zu niedrig ist) nachgelesen werden.*
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* Das Dubai vom Weinviertel. Wiener Zeitung, Online-Ausgabe vom 3.7.2023 (LINK)
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Man kann sich auch wehren. Postscriptum zur Erbauung sensibler Weltbürger. Das Faktum ist nicht neu, wohl aber die Reaktion darauf. 50.000 Elefanten jährlich (bei derzeit noch etwa 450.000 Exemplaren weltweit) kostet die Gier nach Stoßzähnen das Leben – besser gesagt die Gier nach ziemlich risikolos ‚erwirtschafteten‘ hohen Renditen. Damit sich das Risiko zumindest für die kriminellen Banden und korrupten Beamten, welche die begehrte Schmuggelware den ausländischen Großinvestoren verfügbar machen, signifikant erhöhe, ist seit einiger Zeit ein Team von verdeckten Ermittlern in neun afrikanischen Ländern tätig. Männer und Frauen, die ihrerseits jedes erdenkliche Risiko auf sich nehmen, um die kriminellen Netzwerke zu infiltrieren und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, arbeiten, wie es heißt, „äußerst effektiv und zerschlagen illegale Elfenbein-Syndikate, die bis zu 100.000 Elefanten auf dem Gewissen haben“.*
Möge ihnen der Elefantengott weiterhin Glück bringen und Erfolge bescheren.
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* Avaaz, Newsletter vom 4.7.2023
Im Blog # 23 vom 17. Mai 2023 wurde die Vorgeschichte der „Agrarisierung der Welt“ (© Gottfried Liedl) aus einer eher missmutigen Perspektive erzählt: wie es nach recht bedenklichen Anfängen – der sogenannten Agrarrevolution des europäischen Mittelalters – zur Industrialisierung, ja Globalisierung der Landwirtschaft kam. Erzählt und nachgestellt wurde das Werden einer ganz bestimmten, alles andere als ökologisch harmlosen Landwirtschaft, die man eigentlich ‚Misswirtschaft‘ nennen müsste angesichts ihrer Folgen für den Boden, welchen besagte ‚Landverwerter‘ vulgo Landwirte weniger bestellen als vielmehr entstellen (wenn ihr mir das etwas holprige Wortspiel nachseht, geschätzte Leserinnen und Leser dieses … Selbstgesprächs).
Zu jenen Landwirten, so meinte ich, soll man deshalb nicht ‚Bauern‘ sagen (Blog # 22 vom 18. März 2023). Dazu ist der von ihnen angerichtete Schaden zu groß und ihr Unrechtsbewusstsein zu klein. „Auf mehr als einem Drittel aller Anbaugebiete nimmt die Bodenqualität ab (Degradation). Hauptursache ist die Erosion durch Wasser und Wind. Niederschläge und Fließgewässer spülen den Boden fort, der Rest wird vom Wind verweht. In vielen Regionen ist in den letzten 150 Jahren die Hälfte des fruchtbaren Ackerbodens auf diese Weise verloren gegangen. Auch chemische Veränderungen sind am Verlust der Bodenqualität beteiligt. Sie gehen auf Überdüngung, Missbrauch von Pestiziden, Versalzung durch unsachgemäße Bewässerung und auf ‚Sauren Regen‘ zurück. Zusätzlich verringert Wüstenbildung (Desertifikation) die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen“ (Schuh 2008, Seite 148).*
We feed the world? Von wegen. Moderne, sprich in Europa ‚erfundene‘ und jetzt global verbreitete Landwirtschaft ist möglicherweise in der Tat nicht viel mehr als eine Ansammlung Potjomkin’scher Dörfer. Der schlaue russische Fürst und Geliebte der Zarin Katharina der Großen, Potjomkin, hatte seiner Gebieterin eine blühende, gut verwaltete Landschaft vorgespiegelt, indem er die Kaiserin auf eine Inspektionsreise mitnahm, die an perfekt inszenierten … Kulissendörfern vorbeiführte. Heute sind es die großen Player der Agroindustrie, die uns an der Nase herumführen: „We feed the World“. Das ist genauso wahr wie das den Amerikanern im Jahre 1862 gegebene Versprechen, auf den Prärien des ‚goldenen‘ Westens eine neue Heimstatt für sie zu bereiten. Aus dem berühmt-berüchtigten Homestead Act (berüchtigt, weil er die indianische Urbevölkerung ihres Lebensraums und ihrer Bisons beraubte) ging nicht die ertragreiche bäuerliche Landschaft hervor, die man an die Stelle der weiten Prärien zu setzen versprach; zwei Generationen später – am Beginn des 20. Jahrhunderts – war das vermeintliche Ackerland zur Staubwüste verkommen, ein Raub der Dustbowls, der Sandstürme, die riesige Gebiete der ehemaligen Prärie unbewohnbar und in der Folge menschenleer machten. Und das ist nur ein Beispiel unter unzähligen anderen, ein höchst bezeichnendes freilich.
We feed the world, tönt die Agroindustrie von Cargill bis Monsanto. Die Wirklichkeit sieht anders aus: „70 bis 75 Prozent von dem, was wir konsumieren, wird von Kleinbauern produziert. Großbetriebe produzieren oft große Mengen an landwirtschaftlichen Rohstoffen, doch wenig davon dient als Nahrung. Industrielle Landwirtschaft kann keine Nahrung produzieren, ohne den Boden und das Leben der Bauern zu zerstören“ (Olivier De Schutter, Report an die Vereinten Nationen, 2011).**
Wenn die Diagnose stimmt – und welchen triftigen Einwand könnte man der Aussage des Experten entgegen setzen, es sei denn, aus unsauberen ideologischen Motiven? –, klingt die Rede vom ‚Erfolgsmodell‘ moderner westlicher Agrikultur ziemlich schal. Auch eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Nutzens zu den Kosten kann nur negativ ausfallen, wenn man aus Sicht der Umwelt urteilt, welche diese Kosten zu tragen hat. Damit stehen wir freilich immer noch auf exakt jenem Standpunkt, den ich „aus einer eher missmutigen Perspektive“ heraus eingenommen und in die Erzählung von der ‚Agrarisierung der Welt‘ hatte einfließen lassen.
Ein anderer Standpunkt – eine andere Geschichte. Freundinnen und Freunde der Natur könnten hier einwenden, dass die Welt nicht schwarz und weiß sondern bunt sei; und dass Ökologiegeschichte weder mit der Geschichte Europas oder des sogenannten Westens beginne noch mit dieser Geschichte ende. Danke für die Erinnerung. Ein Sensorium für die Gefahren, welche allzu unbekümmerte Eingriffe in die Umwelt mit sich bringen, findet sich bereits in „Büchern über die Landwirtschaft“ aus dem Mittelalter. Geschrieben wurden diese – nennen wir sie ruhig so – ersten Ökologiehandbücher von Gelehrten einer Weltgegend, die aus heutiger Sicht eher nicht als Hotspot eines sensiblen Umgangs mit der Natur gilt. Das war vor einem guten Jahrausend offenbar anders. Offenbar haben sich Autoren jener Region, die man etwas vereinfachend die Islamische Welt des Mittelalters nennen mag, in ihren Kutub al-Filāha, den „Büchern der Landwirtschaft“ über Tierhaltung und Pflanzenzucht, Bodenbestellung und Bewässerung, Erosion, Bodenversalzung und Verwüstung (und wie man ihrer Herr wird) Gedanken gemacht. Und die Schlussfolgerungen von damals würden einem umweltbewussten Landwirtschaftsexperten von heute alle Ehre machen.
Herausforderungen. Die Landwirtschaft des Mittelalters in den riesigen Räumen des Islamischen Kulturkreises begegnete ähnlichen Gefahren wie die globalisierte und industrialisierte Agrikultur der Jetztzeit. Die Hauptfrage damals wie heute ist die Bodenfrage. Hier wie dort hängt das Wohlergehen der Menschen von der prekären Qualität der Ackerkrume ab, hier wie dort lautet der Weisheit letzter Schluss „zu wenig fruchtbares Land und nicht genügend Wasser“. Während aber der modernen Landwirtschaft europäisch-westlichen Zuschnitts ihre eigenen inneren Widersprüche im Wege stehen – vor allem ein jeder Nachhaltigkeit Hohn sprechender Expansionismus –, hatte der Landmann in der Islamischen Welt mit äußeren Widerständen zu ringen, solchen, wie sie ihm ein abweisender Raum, eine harsche Umwelt, eine wenig freigiebige Natur entgegen setzten.
In der Welt des Islam sind die für Ackerbau und intensive Viehzucht geeigneten Gebiete stets relativ kleine Einsprengsel in riesigen Steppen- und Wüstenzonen gewesen. Auch ein landwirtschaftlicher Aufschwung kam in der Regel vor allem dem Wachstum der Städte zugute und konzentrierte sich fast ausschließlich auf Flusstäler, einige Küstenregionen und unterschiedlich große Oasen. Die halbtrockenen Landstriche zwischen diesen Gunstzonen konnten bestenfalls für die Herden der Nomaden genutzt werden.
Naturräume und Regionen – die islamische Welt des Mittelalters © G.Liedl
Die islamische Welt hatte daher in viel größerem Maß als Europa, wo das Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters durch die Gewinnung immer neuer Böden zu großen geschlossenen Siedlungsräumen führte, mit dem Problem riesiger, fast menschenleerer Gebiete zu kämpfen. Dennoch ist die mittelalterliche Welt des sogenannten Orients gerade für die agrarische Expansion des sogenannten Westens von höchstem Interesse. Sozusagen als beispielhafte Blaupause nämlich, vielleicht sogar als Gegenbeweis.
Privilegierter ‚Westen‘? Ein zweigeteiltes Mittelalter mit identischen Problemen. Europäer haben dem Süden und Osten, etwa der Mittelmeerwelt samt angrenzenden Regionen schon immer gerne nachgesagt, ein Musterbeispiel für Raubbau und ökologische Verarmung zu sein. Bodenzerstörung, Entwaldung, Desertifikation werden als geradezu typisch für die Länder südlich und östlich der ‚glücklichen Zonen‘ Nordwest- und Zentraleuropas angesehen. Was dabei geflissentlich vergessen wird: Auch unter den scheinbar ganz anderen Bedingungen des west-, mittel- und osteuropäischen Waldklimas vollzog sich ab dem Moment, wo Nachhaltigkeit zugunsten der Expansion aufgegeben wurde, der Niedergang. Nur eben etwas später. Die systematische (und systemische, das heißt systemimmanente) Zerstörung der scheinbar unerschöpflichen europäischen Waldgebiete, die sich in Nordamerika wiederholt hat und derzeit in den letzten verbliebenen Waldzonen der Tropen wütet, hat zu keiner Verbesserung der Ernährungssituation geführt. Hungerkrisen vom Spätmittelalter bis zur Industriellen Revolution werfen auf die vermeintliche Effizienz einer Landwirtschaft unter feudalen Vorzeichen – besser bekannt als ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ – ein fragwürdiges Licht. Überall gelten die gleichen Gesetze der Ökologie – Missachtung des Prinzips ‚Nachhaltigkeit‘ rächt sich eben; die Folgen sind Bodenverarmung, Erosion und in letzter Konsequenz Missernten und Hungersnot.
Ein Gegenentwurf. Landwirtschaft, die ihre natürlichen Grenzen überdehnt, führt überall zum gleichen ruinösen Ergebnis. Also waren auch die mittelalterlichen Autoren der Kutub al-Filāha, der ‚orientalischen‘ Handbücher für den Landwirt, mit den selben Problemen konfrontiert wie die heutige globalisierte Landwirtschaft ‚europäischen‘ Zuschnitts. So könnte man sagen. Überall dort, wo die Ausweitung von Landwirtschaft über die naturräumlich gegebenen Grenzen hinaus ging, hatte der anfängliche Überschuss ein klar bestimmbares Ablaufdatum. Dagegen galt es einen Musterkoffer an Betrachtungen und Unterweisungen zum Thema Nachhaltigkeit zu entwickeln. In ihren ‚Büchern der Landwirtschaft‘ haben sich Gelehrte vom Schlage eines Ibn Wāfīd, Ibn Bassāl, Ibn al-Awwām oder At-Tignarī (die hier als einige wenige Beispiele stellvertretend für einen ganzen Wissenschaftszweig stehen) mit Tier- und Pflanzenzucht, mit Fragen der Bodenbehandlung und Bodenverbesserung, der Einrichtung von Bauernstellen oder Gutsbetrieben, dem Bau von Wasserleitungen, der Anlage von Beeten oder Gärten, dem optimalen Standort der verschiedenen Baumarten, den idealen Pflanz- und Erntezeiten, dem Import und der Akklimatisierung neuer Pflanzen, der Einfuhr von bisher unbekannten Nutztieren beschäftigt – alles Dinge aus dem Umfeld des anderswo (etwa im christlichen Abendland) so verachteten Bauernstandes. „Nie vor und nach den Arabern war der Mensch mit jedem Handbreit Erde, mit den verschiedenen Reaktionen auf die verschiedenen Methoden der Berieselung an den verschiedenen Orten so vertraut,“ bringt es der Arabist Hoenerbach auf den Punkt.***
Der Westen als Erbe ‚islamisch-orientalischer‘ Kultur. Um den Wert jener Standards, die im Umfeld der ‚islamischen‘ Expansion entwickelt wurden, einschätzen zu können, muss man sich nur vor Augen führen, welche agrarischen Errungenschaften das Abendland und die Welt dem mittelalterlichen Transfer neuer Objekte, Produkte und Verfahren verdanken.
Botanische Transfers in der islamischen Welt des Mittelalters © G.Liedl
Von den Arabern in den Westen gebracht wurden der Reis und die Baumwolle, Zitrusfruchtbäume, Dattelpalmen (die noch heute in Südspanien und auf Kreta große Haine bilden), verschiedene Gemüsesorten, Gewürz- und Heilkräuter. Sogar die Banane wurde den mediterran-europäischen Klimaverhältnissen angepasst. Importiert und akklimatisiert wurden auch ertragreiche Hirsearten und das Zuckerrohr. Ebenfalls im Mittelalter gelangte durch Vermittlung islamischer Spezialisten die als Futterpflanze unschlagbare Luzerne (Medicago sativa L.) sowie der Alexandrinerklee nach Europa. Die spanische Bezeichnung der Luzerne, Alfalfa, erinnert noch an die arabische Herkunft dieser wichtigen Nutzpflanze.
An großen Nutztieren kannte Europa vor der islamischen Ära weder den Wasserbüffel noch das wertvolle Merinoschaf, das beste Wollschaf der Welt, dessen Ahnen aus dem Hohen Atlas stammen. Auch nicht die für ihr seidenweiches Haar berühmte Angoraziege, die ursprünglich in Zentralasien zu Hause ist und von islamisierten Turkstämmen nach Westen, nach Anatolien gebracht wurde. Hier auch noch das Pferd zu erwähnen, gleicht fast einer Binsenweisheit, so sehr ist die Geschichte dieses edlen Tieres mit der ‚orientalisch-islamischen‘ Welt verwoben. Heute existiert buchstäblich keine Vollblutrasse auf der Welt, die nicht Araberblut in den Adern hätte.
Erhöhen ‚Bücher der Landwirtschaft‘ die Lernfähigkeit? Der geschätzten Naturfreundin, dem werten Naturfreund (so sie dieses Selbstgespräch bis hierher verfolgt haben) mag aufgefallen sein, dass im Verhältnis zu ihrer Bedeutung die Landwirtschaft ‚nicht-europäischer Provenienz‘ (und deren Geschichte) erstaunlich unterbelichtet ist. Gewiss liegt das zum Teil an den Quellen selbst, diese berichten lieber vom Glanz der Städte, Fürstenhöfe und Dynastien, von Kriegszügen und erfolgreichen Handelsoperationen … als vom Tun und Wirken des Landmannes und Gärtners, des Ackerbauern oder Viehzüchters.
Der wichtigste Grund aber liegt im Wesen unserer eigenen ‚westlichen‘ Einstellung – insofern sich diese nämlich einem Kulturvergleich verpflichtet fühlt, der alles mit der Messlatte des linearen Aufschwungs misst. Geschichte ‚der Anderen‘ hat sich dann fragen zu lassen, wie es um ihre … ‚Fortschrittlichkeit‘ (wahlweise ‚Produktivität‘ etc.) bestellt sei. Genau dagegen aber rebelliert das Wissen von der dunklen Seite besagter ‚Fortschrittlichkeit‘, indem es auf etwas verweist, das meist stillschweigend übergangen wird – die Kosten (und wem sie berechnet werden: nämlich genau nicht Jenen, die sie verursacht haben).
Neuerdings werden die großen Erzählungen ‚Europäische Expansion‘ und ‚Fortschritt im Zeichen der ökonomischen Vernunft‘ relativiert – dabei verwendet man Agrar-, Umwelt-, Ökologie- und Globalgeschichte als Gegengewicht zur Modernitäts- und Fortschrittsgeschichte. Mit den Augen und in den Berichten ‚der Anderen‘ entdecken aufmüpfig Suchende statt einer fortschrittsaffinen Wirtschaftsgeschichte verschiedene ‚alte‘ Theorien und eine daraus folgende Praxis, die ihren Gegenständen mit Empathie und Respekt, das heißt auf Augenhöhe begegnet. Wo Tiere, Pflanzen, Wasser, Boden, Landschaften und deren Bewohner nicht bloß als Objekte wissenschaftlicher Neugier eine Rolle spielen (das natürlich auch), sondern dem Menschen gleichberechtigt zur Seite gestellt sind: als Teilnehmer am Spiel des Lebens und der Geschichte. Und die famosen Bücher der Landwirtschaft? Nun. Im Vergleich zum historisierenden Lob des Fortschritts (inklusive Agrobusiness und Lebensmittelindustrie) ist deren Lektüre einfach wohltuend und erfrischend.****
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* Schuh 2008 = Bernd Schuh: Das visuelle Lexikon der Umwelt. Hildesheim 2008
** De Schutter 2011 = Olivier De Schutter: Agroecology and the Right to Food. Report presented at the 16th Session of the United Nations Human Rights Council [A/HRC/16/49], 8 March 2011 (PDF)
*** Wilhelm Hoenerbach: Das granadinische Sultanat in seiner Agrarstruktur. In: Der Islam 64 (1987), 231–260
**** Gottfried Liedl / Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Mandelbaum Verlag: Wien 2017 (Download)
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Weil ich gerade ziemlich gut gelaunt bin, juckt es mich, euch ein typisches Gericht der Kategorie 'Politik, Gier & Kaltschnäuzigkeit' zu servieren. Als Dessert gibt es das Gegenbeispiel aus der Welt der WIRKLICH Mächtigen: aus der Finanzwelt. Bon appétit!
Black or green. Von Politikern und Investoren. Da ist dieses Ölförderprojekt in Uganda. Das Projekt – mit Hunderten geplanter Ölbohrungen teilweise mitten in Naturschutzgebieten – stößt selbst bei den Investoren auf einige Skepsis. Schon halten mehrere Banken und Versicherer ihre Unterstützung für Projekt und Pipeline zurück.
Diese Verzögerung macht das Konsortium, das hinter dem Projekt steht, nicht wirklich froh. Die Regierungen von Uganda und Tansania, die französische Ölfirma TotalEnergies SE, die chinesische Cnooc Ltd. und die übrigen Beteiligten bringen vor, dass die 900 Meilen lange East Africa Crude Oil Pipeline (EACOP) Tausende von Arbeitsplätzen schaffen und Milliarden von Dollar an Staatseinnahmen generieren wird.
Ja eh. Das Argument ist so bekannt wie ambivalent: Der reiche Norden missgönnt dem armen Süden dessen Entwicklung. Das Gegenargument ist aber auch nicht ohne: Die Pipeline wird täglich 216.000 Barrel von den Ölfeldern zu Terminals an der Küste des Indischen Ozeans transportieren, wo sie ins Ausland exportiert werden – oft in Länder, die dafür ihre eigene Produktion fossiler Brennstoffe einschränken können. „Das verdeutlicht die Ungleichheit, die auf globaler Ebene besteht,“ so die Projektgegner. „Im ‚armen Süden‘ umweltschädlich geförderte Ressourcen decken den Energiebedarf des globalen Nordens, der dadurch von eigenen fossilen Brennstoffen leichter Abschied nehmen kann. Der Süden bleibt in einer Wirtschaft mit fossilen Brennstoffen gefangen und seine Bevölkerung muss die gesamten sozialen und ökologischen Kosten tragen.“ Aber keine Angst, Old Industry. Die Finanzierung steht. Chinas Exim Bank und zwei afrikanische Unternehmen, die anonym bleiben wollen, seien bereit, die Pipeline zu finanzieren, so Ugandas Energieministerin gegenüber Reportern in Kampala.*
Tausende Meilen weiter nördlich haben Finanzdienstleister recht konkrete Ansichten zum Thema Klima-Risiko. In der Londoner Zentrale von Standard Chartered Plc setzt man sich selbst, wenn es um bestimmte Kredite geht, eine Frist von längstens zehn Jahren. Das sei der Zeitrahmen, in dem Verluste aus Krediten an kohlenstoffintensive Industrien – diejenigen, die am meisten für die globale Erwärmung verantwortlich sind – für die Bank zum Problem werden könnten. Die Analyse basiert auf zu erwartenden Kreditverlusten unter Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen von 1,5 °C-Klimaszenarien, wie sie von der Internationalen Energieagentur skizziert werden.
„Dieser Bericht von seltener Offenheit war aufschlussreich. Für die acht Sektoren mit den höchsten Emissionen – darunter Öl und Gas, Kohlebergbau, Schifffahrt und Aviation – legte die Bank mögliche Kreditverluste in Höhe von insgesamt 603 Millionen US-Dollar […] offen. [… Dabei waren noch] im Jahr 2022, als die Temperaturen in London zum ersten Mal die 40-Grad-Marke überstiegen und ein Drittel Pakistans von Überschwemmungen betroffen war, Klimarisiken für die Bank finanziell irrelevant“ (Alastair Marsh: A rare look inside a bank's climate crisis calculus). So schnell kann’s gehen.**
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Quelle:
* Bloomberg Green, Newsletter vom 5.6.2023
** Bloomberg Green, Newsletter vom 7.6.2023
Es ist ja schon ein wenig langweilig, wie vorhersehbar konsequent die großen Player ihre Positionen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigen, insbesondere dann, wenn die angepeilte – die Player sagen: angedrohte – Veränderung so klein nicht ist. Schon wahr – das Beharrungsvermögen von Profiteuren des Status quo ist ein Grundgesetz der Geschichte … somit auch der Ökologiegeschichte. Und natürlich sagen die Bewahrer nicht, dass sie ihre eigene konfortable Lage bewahren möchten. Sie sagen: Es geht uns um euch, liebe Mitmenschen … und dann setzen sie die beliebten Leerformeln ein: Arbeitsplätze, Ernährungssicherheit, überhaupt Wohlfahrt an allen Ecken und Enden. Und sie drohen mit den bekannten – gähn – Szenarien: Arbeitslosigkeit, sinkende Wirtschaftsleistung, Stagnation. Das Neue gefährdet also nicht in erster Linie sie selbst (und ihre eigene konfortable Situation); das Neue bedroht ‚die Kleinen‘, also dich und mich. Wir sollen uns vor dem Neuen fürchten. Und interessanter Weise geht das Kalkül der Großen nicht selten auf: die Kleinen – fürchten sich.
Des Häuslbauers Alptraum. Raumordnung und Grundverkehrswesen sind die beliebtesten Popanze, wenn es gilt, eine möglichst große Zahl an Gefolgschaft um die Nutznießer einer gut geölten Immobilien-Maschinerie zu scharen (vom Landwirt, der seinen Acker zu Bauland = zu Geld macht, bis zum Bürgermeister, der seiner Gemeinde neue Bauherren = neue Steuerzahler zuführt, wobei sein Verwandter, der Bauunternehmer sicher nichts dagegen hat, dass auf der grünen Wiese des Landwirts – eines weiteren Spezis des Bürgermeisters – der neue Gewerbepark entsteht). Das gilt für Hintertupfing an der Krötenlacke genauso wie für die Bundeshauptstadt Wien. Na ja. Für Beide gilt natürlich vor allem die Unschuldsvermutung. Als gelernter Verfechter der Neuerung – als Mitglied einer eklatanten Minderheit also – hat man seine Worte weise abzuwägen, auch das ein Grundprinzip der Geschichte (das Imperium schlägt immer zurück; und der Häuslbauer verzeiht Jedem alles – nur nicht die Verhinderung seines Lebenstraums, des Bauens auf Grüner Wiese).
„Planlos gegen den Bodenverbrauch“. Des Leitartiklers Formulierung trifft den Sachverhalt nicht ganz. Natürlich gibt es (mehr oder weniger gute) Pläne gegen die österreichische Erbkrankheit, die exzessive Bodenversiegelung, schon lange. Richtig an des Leitartiklers Formulierung ist des Satzes zweiter Teil, der Bodenverbrauch. „Täglich gehen in Österreich zwölf Hektar an Boden verloren. Knapp die Hälfte davon wird zubetoniert bzw. zuasphaltiert. Für neue Einkaufszentren, Straßen oder Wohnsiedlungen. Zwölf Hektar – das sind ungefähr 17 Fußballfelder.“* In dieser Disziplin ist die Alpenrepublik Europameister. Nirgendwo in der EU geht mehr Acker- und Grünland, mehr Natur, mehr Erholungsgebiet verloren als im selbsternannten Land der Lebensfreude (Stichworte: Phäakentum, Naturverbundenheit, ländliche Idylle).
Das hat die Politik erkannt. Und was das Planen betrifft, so gibt es das löbliche Unterfangen seit mindestens zwei Jahrzehnten (2002 hat sich die damalige Bundesregierung erstmals auf eine Einschränkung des Bodenverbrauchs verständigt. Im Prinzip, versteht sich). „Passiert ist seither nichts.“*
Aller Probleme wohlfeile Lösung: Vertagung. Man ist voll des guten Willens. Die derzeitige Bundesregierung möchte ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen und lädt zur großen Enquète über eine Bodenschutzstrategie. Mit dem erwartbaren Ergebnis, dass sich die Geladenen – notabene Gemeindevertreter und Abgesandte der Bundesländer – als zähe Verteidiger des Status quo erweisen. Natürlich ist damit das Unternehmen nicht gescheitert, man hat sich ja ‚nur‘ vertagt. „Viel Glück auf den Weg!“ Die Bürgermeister als Baubehörde auf Gemeindeebene wollen sich die Raumplanung nicht wegnehmen lassen. Und die Länder winken, wie es der Leitartikler formuliert, schon bisher „kommunale Großprojekte auf der grünen Wiese oft großzügig durch.“* Und da sollen sich Änderungen am Horizont ausmachen lassen? Ein klares Regelwerk von Verpflichtungen – zum Beispiel für jede neue Bodenversiegelung eine adäquate Fläche zu entsiegeln? Nachnutzung leer stehender Gewerbeimmobilien statt Neubau? Neue Kompetenzen des Bundes in der Raumplanung? Wer’s glaubt, wird selig.**
Wiens ungenutzte dritte Dimension. Oder: Warum man immer noch am liebsten auf der grünen Wiese baut. „Fehlt der Boden, bleibt nur ‚nach oben‘. […] Um leistbaren Wohnraum zu schaffen, ohne Grünflächen zu versiegeln, setzen immer mehr Städte auf die Überbauung [bestehender Gebäude].“*** Nicht so Österreichs Bundeshauptstadt Wien. Die von Raumplanern und Raumplanerinnen regelmäßig angemahnte Idee der Nachverdichtung – eine intensivere Nutzung bereits verbauter Flächen – scheint bei den Wiener Verantwortlichen (obwohl ich hoffe, dass ich mich irre und die Stadtväter und -mütter in dieser Hinsicht vielleicht doch besser sind als ihr Ruf) nicht so recht greifen zu wollen. Wenn es ums Bauen geht, dürfte das Motto immer noch ‚Stadterweiterung‘ lauten, das war zumindest zwischen 2018 und 2021 so, wie eine Studie der Arbeiterkammer ausweist: Gerade einmal zwei Prozent des in besagtem Zeitraum neu geschaffenen Wohnraums kamen durch flächenschonenden Aus- oder Zubau an bereits bestehender Bausubstanz zustande; der Rest – im Erhebungszeitraum waren das 57.415 Wohneinheiten – entstand durch Neubau, sprich: auf der notorischen Grünen Wiese. Dritte Dimension der Raumplanung, stadtverdichtender Weg ‚nach oben‘? Nichts da! Wir bleiben schön am Boden (der aber nicht der feste Boden der Tatsachen ist).
Fakten und Zahlen. Allein an eingeschoßigen Gebäuden, die sich gemäß neuester bautechnischer Trends und einer zeitgemäßen Raumplanung zur Nachverdichtung eignen würden, verfügt Wien über eine stattliche Hundertschaft im Bereich ‚Einkaufszentren‘. In Wohneinheiten ausgedrückt, könnten so bis zu 10.000 Einheiten in der dritten Dimension entstehen, ohne dafür einen einzigen Quadratmeter unverbauter (Grün-) Fläche zusätzlich in Anspruch zu nehmen.
Bestehende Infrastruktur zu nutzen, ist an städtebaulicher Eleganz und raumplanerischer Effizienz nicht zu toppen. Leistbarer – weil kostengünstiger hergestellt – ist der durch Stadtverdichtung entstandene Wohnraum schon deshalb, weil diverse Anschlüsse, Kanal, Zufahrtswege … schon vorhanden sind. Allenfalls braucht es, so sagen die Experten, ein wenig ‚strategische Ertüchtigung‘. Verdichtetes Gebiet – ausgebaute Infrastruktur. Grüne Wiese – Tabula rasa. Und dennoch …
Wien ist anders. Nicht nur Beispiele aus dem Ausland, auch solche aus (West-) Österreich zeigen, „dass es geht“. Im Land Salzburg wurden im Zuge von Umbauten an Supermärkten Verdichtungsprojekte – Wohnraum ‚in der dritten Dimension‘ – erfolgreich in Szene gesetzt. Positvbeispiele dieser Art gibt es auch aus Linz zu vermelden. Vorbilder aus dem Westen? Nicht doch … „Wien ist anders“. Da gibt es das Dilemma der noch immer festgeschriebenen (obwohl veralteten) Flächennutzung, welche eine gemischte Nutzung erschwert. Es ist vielerorts schlicht verboten, Wohnungen auf Supermärkten zu errichten.
Und sie bewegt sich doch. Was Galilei über die Erde gesagt haben soll, wollen wir unheilbaren Optimisten der Gemeinde Wien konzedieren. Offenbar ist es auch in der Hauptstadt der Republik mittlerweile möglich, Wohnungen auf dem Dach eines gewerblich genutzten Gebäudes zu errichten. „Die Lidl-Filiale in der Zschokkegasse im 22. Bezirk wurde gleich inklusive 65 Sozialwohnungen auf dem Dach geplant; in Auhof im 14. Bezirk errichtete ein gemeinnütziger Bauträger mehr als 70 Wohnungen auf dem Dach des Shoppingcenters“ (KURIER, Dienstag, 30. Mai 2023, Seite 19). Übrigens bin ich der Meinung, dass es für die Überlegenheit urbaner Landschafts- und Raumplanung kein besseres Argument gibt als das Hochhaus. Die dritte Dimension, wie gesagt. Und Ende der guten Nachricht. Weil … den Häuslbauern ist eh nicht zu helfen.
Unten der Häuslbauer, oben der Großagrarier. Green Deal als Gefahr für Äcker? „Wir wollen Böden schützen“ (EU-Umweltkommissar Virginius Sinkevičius im Zeitungsinterview).**** Großartig. Endlich. Eine erfreuliche Nachricht … Doch gibt es da welche, die darüber not amused sind. EVP (Europäische Volkspartei) und Agrarlobby finden das gar nicht gut. Und die Österreichische Volkspartei – respektive deren Teilorganisation, der Bauernbund – schließen sich ihren europäischen Kollegen und Kolleginnen an.
Frage: Was ist den Niederlanden und Österreich gemeinsam? Beide sind, ökologisch gesehen, veritable Großmeister. Die Niederländer in Sachen Bodenverseuchung, die Österreicher in Sachen Bodenversiegelung.***** In beiden Ländern findet man die Öko-Bremser wo? – Richtig … auf dem Lande. Apropos Österreich, apropos Bauernbund: Laute Rufe gegen Ökodiktatur hörte ich aus dieser Ecke öfter, Einsprüche gegen Bodenverbrauch und Bodenversiegelung noch nie. „2019, als wir den Green Deal in der EU gestartet haben, hatten sich die meisten Parteien gegenseitig überboten, wer die grünsten Vorschläge macht. Da hatten wir jeden Freitag riesige Proteste der Jugend …“ (Umweltkommissar Virginius Sinkevičius). Tempi passati.
Arm in Arm in trauter Zweisamkeit: Die Volkspartei und ihre Lieblingslobby. Besonders die sogenannte Renaturierungs-Richtlinie (sie sieht die Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 vor) stößt der EVP (und ihrem Österreich-Pendant) sauer auf. „Europas Nahrungsmittelversorgung ist in Gefahr!“ Aha. Dem sekundiert der Umweltkommissar ironisch: „Ja, mir ist nicht entgangen, dass es plötzlich populär ist, mit den Apokalyptischen Reitern zu argumentieren […]. Dabei ist es genau umgekehrt, die landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion ist durch die zunehmende Schädigung unserer Böden massiv gefährdet.“
Am 15. Juni 2023 schlug das Imperium erstmals zurück. EVP und ihre Lobby erreichten, dass die Abstimmung über die Renaturierungs-Richtlinie im Umweltausschuss des EU-Parlaments scheiterte – trotz mannigfacher Kompromissangebote. Dazu der hämische Kommentar von CDU-Abgeordneter Christine Schneider: „Eine Ohrfeige für die Kommission und Vizepräsident Frans Timmermans [EU-Kommissar für Klimaschutz].“
Spricht alles für sich selbst. Weitere Bemerkungen überflüssig.
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* Planlos gegen den Bodenverbrauch: KURIER, Mittwoch, 21. Juni 2023, Seite 2 (Leitartikel von Wolfgang Unterhuber)
** Siehe auch BLOG # 13 vom 11. Dezember 2022: „Stiefkind Umweltschutz“
*** Fehlt der Boden, bleibt nur ‚nach oben‘. Wohnen auf dem Supermarkt: KURIER, Dienstag, 30. Mai 2023, Seite 19
**** KURIER, Samstag, 3. Juni 2023, Seite 4
***** Siehe BLOG # 22 vom 18. März 2023: „Sagt nicht ‚Bauern‘ zu ihnen“
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Anmerkung: Der sogenannte Green Deal der EU* stellt einen Maßnahmenkatalog für den effizienten Umgang mit Ressourcen dar; für ein Maximum an Biodiversität; ein Minimum von Schadstoffbelastung. Er erstreckt sich auf Verkehr, Energie, Landwirtschaft, die Immobilienbranche, die Industrie. Erreicht werden sollen Klima- und Umweltziele unter anderem durch eine Biodiversitätsstrategie. Exakt diese Strategie wurde jetzt in trauter Zweisamkeit von EVP und Agrarlobby hintertrieben.
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Nachtrag … Die Abgeordneten erteilen dem Agrarimperium eine erste Abfuhr. Na also – geht doch. Am Mittwoch, dem 12. Juli 2023, gab’s im EU-Parlament eine zwar knappe, aber doch eine Mehrheit für den Renaturierungs-Gesetzesvorschlag der Kommission (336 Abgeordnete dafür, 300 dagegen). Dabei handelt es sich ohnedies nur um eine in groben Strichen skizzierte Strategie, wie man der Natur in der exzessiv ausgebeuteten europäischen Landschaft etwas Genugtuung verschaffen könne, indem man ihr zumindest in ein paar Randzonen den einen oder anderen Freiraum gewährt. „Nix da! Wollen wir nicht!“ Erwartungsgemäß und reflexartig opponierten die üblichen Verdächtigen. Die selbsternannten Bauernkrieger aus den rechten Parteien plus Europäische Volkspartei EVP stehen im Lager der (Groß-)Agrarier, Bodenverbraucher und Landverwerter fest zusammen. Im Klartext: rechts der Mitte und jenseits aller Umsicht und Vernunft (an wissenschaftliche Redlichkeit wagt ohnedies niemand mehr zu appellieren) lehnt man ‚das‘ zentrale Element des Green Deal ab.
Pikante Details am Rande. Wissenschaftler, Natur- und Umweltschützer, die Biobauernschaft oder einfach nur besorgte beziehungsweise aufmerksam beobachtende Menschen hatten sich zu Tausenden im Vorfeld für die Renaturierungsmaßnahmen stark gemacht. Ja wie man hört, sollen sogar große Konzerne wie IKEA und Nestle ihre Unterstützung signalisiert haben.
Umso anrüchiger der Schwenk der konservativen politischen Mitte. Wie aus bestens informierten Kreisen (so sagt man doch?) durchsickert, geht es um die Hauptsache, das Kippen des Green Deal als solchen. Wenn die Abgeordneten der EVP „unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) […] in den vergangenen Wochen lautstark in Opposition zu dem Gesetzesvorhaben der EU-Kommission gegangen [sind und] vor ‚sinnlosen Gesetzen‘ warnten [… und sogar behaupteten], ‚dass wir [dann als Folge der Renaturierungsmaßnahmen] aus Nicht-EU-Staaten Lebensmittel importieren müssten‘“ (ORF News, online, 12.7.2023)*, so ist das ein perfekt orchestriertes Ablenkungsmanöver. Besagte gut informierte Kreise sehen die Ablehnung des Renaturierungsgesetzes „stellvertretend für den Versuch der Aufkündigung des gesamten ,Green Deal‘“ (ebd.).* So schaut’s aus!
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* ORF News, online, 12.7.2023, Link
Nein, um Landwirtschaft im eigentlichen Sinn geht es nicht bei dieser Form der Bodenbearbeitung; auch nicht um Forstwirtschaft. Denn geerntet wird nichts – der Nutzen liegt woanders … Obwohl – mit Urban Agriculture hat die Sache insofern zu tun, als sie durchaus das Ergebnis urbaner Innovationsbereitschaft ist: Tiny Forests, ‚winzige Wälder‘ als vorerst letzter Schrei urbaner Naturvorstellung? Genau deshalb sind diese schicken Mini-Urwälder auch keine Pocket Parks* – so sehr sie ihnen, oberflächlich betrachtet, gleichen mögen. Was sind sie also?
Versuch einer Definition. „Ein Tiny Forest (deutsch: Kleinwald, Mikrowald) ist ein angepflanzter Wald auf einer relativ kleinen Fläche mit einer großen Dichte. Ziel solcher Neuanpflanzungen ist, in urbanen Räumen auf kleinen Flächen möglichst vielfältige, schnell wachsende und sich selbst erhaltende Habitate anzulegen und dadurch eine Verbesserung der Umweltsituation zu erreichen.“** Ein Unterscheidungsmerkmal zum Park, Stadtpark – meinetwegen auch in dessen Diminutivform, dem Pocket Park (auf Wienerisch ‚Beserlpark‘) – wäre also die Fähigkeit des ‚winzigen Waldes‘, sich selbst zu erhalten. „No human interference? Und das mitten in der Stadt?“ Beziehungsweise: „Ob das nur in der Theorie so ist oder auch in der Praxis?“ Beide Fragen scheinen berechtigt, müssen aber erst einmal offen bleiben. Wir nähern uns ihnen über den Umweg einer anderen Frage …
Was ist urban? Keine Sorge, eine lange definitorische Abhandlung ist hier nicht vorgesehen. Nur eine auf das Kernthema – Natur in der Stadt – bezogene Überlegung. Natur in der Stadt ist durch Artenreichtum und Diversifikation gekennzeichnet; der Evolution sozusagen bei der Arbeit über die Schulter blickend, beobachtet man, wie sich – ein wenig abstrakt gesprochen – die Tabula rasa füllt. Ein anfangs leerer Raum (aber was heißt hier ‚anfangs‘?) sieht sich unzähligen Besiedelungseffekten ausgesetzt, nach der Devise first come, first serve. Alles funktioniert hier wie im richtigen Leben (gemeint ist damit die Stadtgeschichte): Stadtbürger ist man nicht, man wird es … in einem endlosen Prozess der Anpassung und Evolution.***
Wiederholen wir die Frage: Was ist urban an dieser Natur? Erstens, dass sie den Faktor Mensch voraussetzt – flapsig gesprochen den Eingriff um des Eingriffs willen. Und zweitens, dass es da ein Laissez faire gibt, welches den Faktor Mensch wieder relativiert. Dieser ‚interlocking approach‘ von Mensch und Natur ist das schlechthin Urbane am Leben in der Stadt.
Es waren Forschungen des japanischen Ökologen Akira Miyawaki, die in den 70er-Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts dem Wald eine Bedeutungsänderung bescherten, die ihn ins Zentrum urbaner Fragestellungen rückte. ‚Begrünung von Großstädten‘ heißt unter forstwirtschaftlichen Aspekten: Begrünung auf verdichteten Böden.
Verdichtete Böden als Limit und Chance. Wie in der fernöstlichen Kampfkunst wird die Bewegungsenergie nicht von außen ins System eingeführt sondern an Ort und Stelle im Sinne des Projekts abgerufen. Dahinter steht die Vorstellung, dass das natürliche System – und nicht der Mensch – die ganze Arbeit macht. Nicht der Mensch begrünt den verdichteten Boden, nein – dieser Boden, ungeachtet seiner Eigenschaft, ‚verdichtet‘ zu sein (eine Eigenschaft, die ihm der Mensch verpasste), begrünt sich von selbst. Dem Stadtmenschen ist der Laissez faire-Aspekt pflanzlichen Lebens, das sich zwischen Mauerritzen und Asphalt ans Licht zwängt, durchaus nicht unvertraut.
Die Idee des japanischen Forschers wurde vom indischen Öko-Unternehmer Shubhendu Sharma aufgegriffen. Unter der Marke ‚Tiny Forest (Afforest)‘ lässt er seitdem kleine verdichtete Stadtwälder auf degradierten Böden entstehen.
Die Methode. Überschaubare Flächen (Shubhendu Sharma verwendet gerne Park- und Tennisplätze) werden zunächst dicht bepflanzt, zwei bis sieben Bäume je Quadratmeter sind die Regel. Hohe Pflanzdichte steigert den Konkurrenzdruck, dieser wiederum vermehrt die innerhalb des beschränkten Ökosystems freigesetzte Energie – was nicht zuletzt zu vermehrtem Wachstum führt. Ein Ergebnis, auf das ‚natürliche‘ Waldgesellschaften zwei Jahrhunderte warten müssen, stellt sich im urbanen Rahmen schon nach dreißig Jahren ein (unter anderem wird die Phase der Sträucher, Gräser und Pionierbäume übersprungen). Zusätzlich wirkt sich Yoda’s Law aus, jene Regel, die besagt, dass in Mischbeständen mit vielen verschiedenen Baumarten höhere Bestandsdichten erreichbar sind als in Reinkulturen.****
Ökologiehistorisch betrachtet ist die Tiny-Forest-Methode auch ein Indiz für das Ausgreifen der Stadt und ihrer Ideen auf das flache Land und dessen Bewirtschaftung. Tiny Forests sollen, wie man hört, eine der effizientesten Aufforstungsmethoden sein.
Ausgehend vom Sukzessionsprinzip im Stadterweiterungsprozess (Flächennutzungen wechseln einander in gesetzmäßiger Art und Weise ab) sieht Shubendu Sharmas ‚Spiralmodell‘ eine abgestufte Begrünung auf Kleinparzellen vor. Der eigentliche Aufforstungsprozess (mit dem Ziel eines vollkommen ungestörten, sich selbst überlassenen Wachstums nach Art der Primär- oder Urwälder) nimmt die ersten 25 – 30 Jahre in Anspruch (zu Parzellen, die sich gerade in dieser Phase befinden, hat der Mensch keinen Zutritt); danach erfolgt die 25 – 30-jährige Nutzungsphase, in der die Menschen den Lohn für ihre ursprüngliche Enthaltsamkeit einstreifen: aus dem Tiny Forest der Spätphase wird langsam ein mehr oder weniger stark frequentierter Pocket Park. Die letzte Phase von ebenfalls 25 – 30 Jahren dient dem Neuaufbau einer Grünfläche nach Urwaldart, besser gesagt der Rückverwandlung des ‚verbrauchten‘ Geländes in den nächsten Tiny Forest.*****
Forstwirschaftliches Intermezzo – ein Fallbeispiel aus Brasilien. Die Deutsch-Brasilianer Miriam Prochnow und Wigold Schaffer betreiben seit den 70-er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, „eine Art gemeinnützige Baumschule,“ wie sie es nennen, „eine Urwaldfabrik“ (Tiny Forest: Urwald für die Stadt, 4:36 ff.)******
Sie tun das ganz bewusst als Nachkommen deutscher Einwanderer, die mit der gnadenlos konsequenten Abholzung des Atlantischen Regenwaldes und dem Verkauf der uralten Baumriesen seinerzeit ein Vermögen gemacht hatten – vor allem mit dem Holz der mächtigen Araukarien, die für den Südosten Brasiliens so typisch waren und heute vom Aussterben bedroht sind. Nun also bepflanzen die Enkel oder Urenkel besagter Waldvernichter – zumindest jene, die dem Beispiel von Miriam und Wigold folgen – mit der Tiny-Forest-Methode die Ränder ausgetrockneter Flussläufe; und zur Wiederherstellung ihrer degradierten tropischen Waldgebiete bedienen sich diese postmodernen Nachfahren deutscher Kolonialherren aller möglichen Samen, Setzlinge und Pflanzerden aus der Baumschule der beiden Umweltpioniere. À propos …
Terra Preta – Amazoniens Wundererde. „Die rote Erde im Amazonas-Regenwald ist arm an Nährstoffen, karg und unfruchtbar.“ Mit Kurzformeln wie dieser pflegt man zu erklären, warum das Land vor Ankunft der Europäer nur dünn besiedelt gewesen sei. Richtig daran ist freilich nur die Farbe der früher ‚Laterit‘ genannten Urwalderde: die heute von den Geologen lieber als ‚Plinthosole‘ oder ‚Oxisole‘ bezeichneten Verwitterungsprodukte sind in der Tat ziemlich unfruchtbar. Doch seit Archäologinnen und Archäologen überall im Amazonasgebiet auf mächtige Böden mit fetter Schwarzerde gestoßen sind – der Name Terra preta bezieht sich auf die Pflanzenkohle, die ein bedeutender Bestandteil dieses Verwitterungsprodukts ist –, mag man an die menschenleere Urwaldlandschaft nicht mehr so recht glauben.
Wie diese Schwarzerden zustande kamen, ist relativ einfach zu erklären. Sie sind das Ergebnis eines Jahrhunderte alten Wanderfeldbaus (shifting cultivation). Das wiederum heißt: die fraglichen Gebiete waren durchgehend besiedelt. Dicht – aber nicht zu dicht – bewohnt und kultiviert von Menschen, die tief im tropischen Regenwald eine ausgeklügelt umweltbewusste Landwirtschaft betrieben. Eine in Zeit und Raum rotierende Agrikultur. In der es zwei Arten von Landschaft nebeneinander gibt, die einander in der Zeit ablösen – eine bebaute, eine unbebaute. Während sich der eine Teil in langsamer Sukzession wieder bewaldet, wird der andere neuerlich gerodet; dort treibt der Mensch auf einem mit der Zeit immer mächtiger werdenden Mutterboden (Terra preta oder ‚Indianererde‘) Gartenbau und Landwirtschaft.
Shifting Cultivation (schematische Darstellung) © G.Liedl
Lob der Faulheit? „Viele Jahrtausende lang waren die Menschen Naturnutzer der sanften, weil spielerischen Art.“ Das wollen wir mal so stehen lassen. Zumal hier der historisch-ökologiehistorische Befund nicht zu widersprechen scheint.
Wanderfeldbau in der Antike © G.Liedl
Jahrtausende lang, bis weit in die klassische Zeit der Antike, ja noch am Beginn des Mittelalters war ein großer Teil der Weltbevölkerung mit der Wirtschaftsweise des Wanderfeldbaus offenbar so zufrieden, dass er sich buchstäblich kein anderes, besseres Leben vorstellen konnte. And rightly so, ist man geneigt zu sagen. Statt gegen die Kräfte der Natur zu arbeiten, lebt man mit ihnen, was in der Regel entschieden angenehmer ist … für beide Seiten.
Naturferne Effizienz oder geniale Trägheit – hat man die Wahl? Erste Feststellung: Das Umwelt-affine Laissez-faire lässt sich auf mannigfaltige, poetische Weise loben (und im Gegenzug als Trägheit denunzieren) – oder nüchtern-sachlich auf den Punkt bringen. „Seit ihren frühesten Anfängen war die Landwirtschaft […] weit mehr als nur eine neue Ökonomie … [Sie war] ein Lebensstil“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 270).****
Dieser Lebensstil machte es möglich, dass „wir Menschen uns den größten Teil unserer Geschichte fließend zwischen verschiedenen Sozialordnungen hin- und herbewegt haben, [… sodass wir uns heute fragen müssen:] Wie sind wir stecken geblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet?“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 135)
Zweite Feststellung: Im kanonischen Bild einer ‚Höherentwicklung‘ ist die moderne Agroindustrie natürlich immer ‚besser, effizienter, wertvoller‘ als das, was vor ihr war und bloß einen obsoleten Lebensstil repräsentiert … Wie aber wäre es, an Stelle des linearen Geschichts-Determinismus einer vieldeutigeren und auf mehreren Ebenen angesiedelten Evolution das Wort zu erteilen und uns zu fragen: „Wenn wir anfangs nur gespielt haben, wann haben wir vergessen, dass wir spielten?“ (Ebd.)
Ein nüchtern argumentierender Beobachter hat das Dilemma moderner Naturferne am Leitfaden der „kulturellen Errungenschaft“ Terra preta dargestellt. „Über Tausende Jahre der Beobachtung […] haben wir Menschen uns ein systemisches Verständnis erarbeitet – das […] im Zuge der Industrialisierung binnen zweier Jahrhunderte nahezu ganz verdrängt und vergessen wurde“ (Jörn Müller, info@permaculturblog.de).**** Dem Befund ist nichts hinzuzufügen und dem Dilemma nur wenig entgegenzusetzen.
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* Pocket Park; vgl. BLOG # 9, Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 4
** Tiny Forest; Stadtökologie; Klimaresilienz; Tiny Forest in Österreich
*** Stichworte: Wärmeinsel-Effekt; Miyawaki-Methode; Partizipation durch Citizen Science; Sozialfunktionen; Ökosystem Boden – Ökosystem Wald; Pilotprojekte – Pflanzaktionen; Wald der Vielfalt – Stadt der Zukunft
**** Permakultur Blog
Aus der Fülle einschlägiger Literatur seien genannt (in alphabetischer Reihenfolge):
Norbert Bartsch / Ernst Röhrig: Waldökologie. Einführung für Mitteleuropa. Springer Verlag: Berlin – Heidelberg 2016;
David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta: Stuttgart 22022 (London – New York 2021);
S. Kaplan: The restorative benefits of nature: Toward an integrative framework. Journal of Environmental Psychology 15, 1995, Seite 169–182;
H. Pretzsch: Von der Standflächeneffizienz der Bäume zur Dichte-Zuwachs-Beziehung des Bestandes. Beitrag zur Integration von Baum- und Bestandesebene. In: AFZ Allgemeine Forst- und Jagdzeitung. Bd. 177, Nr. 10/11, 2006, Seite 188–198;
H. Pretzsch / G. Schütze: Tree species mixing can increase stand productivity, density and growth efficiency and attenuate the trade-off between density and growth throughout the whole rotation. In: Annals of Botany, Bd. 128, Nr. 6, 2021, Seite 767–786;
Ute Scheub / Haiko Pieplow / Hans-Peter Schmidt: Terra Preta: Die schwarze Revolution aus dem Regenwald. Oekom-Verlag: München 2013 (Rezension)
***** Tiny Forests – die Methode (Link)
****** Tiny Forest: Urwald für die Stadt. Aufforsten gegen den Klimawandel. Film von Gesine Enwaldt und Ingo Mende (ZDF, 01.04.2023 18:36 Uhr / 29 Min.)