In eigener Sache … Da ich seit den 1990-er Jahren regelmäßig publiziere, und weil von diesen Publikationen einige Sachen, vor allem die älteren, mittlerweile vergriffen sind, sei hier, nach Themengebieten geordnet, eine Auswahl aus meiner Publikationsliste gegeben. Wo dies möglich ist, wird der interessierten Leserin, dem interessierten Leser auch der Online-Zugriff auf ganze Aufsätze oder Ausschnitte aus Publikationen geboten. Abgerundet wird das Angebot durch die eine oder andere Rezension ...

Arabistik, Islamgeschichte.

Al-Hamra'. Zur Geschichte der spanisch-arabischen Renaissance in Granada, 2 Bände: Band 1: Al-Hamra'. Zur Geschichte der spanisch-arabischen Renaissance in Granada. Wien – Berlin: Turia und Kant, 1990; Band 2: Dokumente der Araber in Spanien. Wien: Turia und Kant, 1993.

Confrontation and Interchange. The Spanish-Arab 'Frontera' at the Beginning of the Modern Age (1232-1492). In: Virginia Guedea | Jaime E.Rodriguez (Hg.): Five Centuries of Mexican History (Proceedings of the VIII Conference of Mexican and North American Historians). Mexico – Irvine (Calif.) 1992, 15–26.

Die Schule des Feindes. Zur spanisch-islamischen Kultur der Grenze, 3 Bände: Band 1, Recht. Wien: Turia und Kant, 1997. Band 2, Krieg: Krieg als Intrige. Kulturelle Aspekte der Grenze und die militärische Revolution der frühen Neuzeit. Wien: Turia und Kant, 1999. Band 3, Ökonomie: Auf dem Weg in die Neuzeit. Zur spanisch-arabischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. 2 Halbbände. Wien: Turia und Kant, 2005.
Halbband 1: Im Labor der Moderne
Halbband 2: Kleine Ökonomie – große Ökonomie

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Mediterraner Islam, 2 Halbbände. Wien: Turia und Kant, 2007.
Halbband 1: Renaissancen; Halbband 2: Moderne Charaktere.

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Die islamische Welt bis 1517. Wirtschaft. Gesellschaft. Staat (mit Peter Feldbauer). Wien: Mandelbaum Verlag, 2008.

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Fragmentierung und Rekonstruktion. Die westliche islamische Welt (mit Peter Feldbauer). In: Thomas Ertl | Michael Limberger (Hg.): Die Welt 1250-1500. Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 175–215.

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Granada. Ein europäisches Emirat an der Schwelle zur Neuzeit. Islamische Renaissancen – Teil 2. Wien: LIT Verlag, 2020.

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Seide, Zobel und Gelehrte. Zentralasien 900–1200: Handelsdrehscheibe und Kulturknoten (mit Peter Feldbauer). Wien: Mandelbaum Verlag, 2024.

Buchbeschreibung | Verlag

Kulturgeschichte und Philosophie.

Der Palast, der ein Land ist. Überlegungen zum Grundriß der Alhambra. In: Alfons Hug | Haus der Kulturen der Welt (Hg.): Die Rote Burg. Zehn künstlerische Positionen zur Alhambra. Berlin – Milano: Skira Editore, 1995, 21–37.

El nacimiento de la modernidad desde el espíritu del poder: Consideraciones filosófico-culturales en torno a la Reconquista. In: Beiträge zur historischen Sozialkunde, „The Islamic World and Europe during the Age of Crusades“. Jg., Sondernummer | Special Issue (Wien 1998), 43–51.

Im Zeichen der Kanone. Islamisch-christlicher Kulturtransfer am Beginn der Neuzeit (hgg. mit Manfred Pittioni und Thomas Kolnberger). Wien: Mandelbaum Verlag, 2002.

Der Zorn des Achill. Europas militärische Kultur – Konfrontation und Austausch (als Herausgeber). Wien: Turia und Kant, 2004.

Eigensinn als historische Kategorie. Stichworte zu einer „arabischen Nation“ in Europa. In: Gottfried Liedl | Katharina Kuffner: Das Ende einer Epoche. Drei Studien zu Andalusien in der frühen Neuzeit. Wien: Turia und Kant, 2005, 7–58.

Übersetzungen zwischen den Kulturen im Spanien der Reconquista. In: Sigrid Weigel | Daniel Weidner (Hg.): Figuren des Europäischen. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2006, 23–41.

Krieg der Worte, Intrige der Zeichen. Diplomatische Korrespondenz der Araber Spaniens im 14. Jahrhundert. In: Tobias Nanz | Bernhard Siegert (Hg.): Ex machina. Beiträge zur Geschichte der Kulturtechniken. Weimar: VDG. Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2006, 263–278.

Frühmoderne Staatlichkeit im Spannungsfeld der militärischen Revolution. Das Emirat von Granada (1238–1492). In: Thomas Kolnberger | Ilja Steffelbauer (Hg.): Krieg in der europäischen Neuzeit. Wien: Mandelbaum Verlag, 2010, 81–130.

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Schlimme Künste. Plebejer, Knappen, Glockengießer: Die Kanone und ihre Wegbereiter. In: Andreas Obenaus | Christoph Kaindel (Hg.): Krieg im mittelalterlichen Abendland. Mandelbaum Verlag: Wien 2010, 295–328.

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Die Politik des Harems. In: Tobias Nanz | Armin Schäfer (Hg.): Kulturtechniken des Barock. Zehn Versuche. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 107–123.

Das iberische Modell. Minoritätenpolitik zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Thomas Ertl (Hg.): Erzwungene Exile. Umsiedlung und Vertreibung in der Vormoderne (500 bis 1850). Frankfurt – New York: Campus Verlag, 2017, 131–157.

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Geschichte der Méditerranée.

Mediterraner Kolonialismus. Expansion und Kulturaustausch im Mittelalter (Sammelband, hgg. mit Peter Feldbauer und John Morrissey). Essen: Magnus Verlag, 2005.

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Seefahrt im islamischen Westen: Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. In: Alexander Marboe | Andreas Obenaus (Hg.): Seefahrt und die frühe europäische Expansion. Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 61–92.

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Venedig 800-1600. Die Serenissima als Weltmacht (mit Peter Feldbauer und John Morrissey). Wien: Mandelbaum Verlag, 2010.

Islamische Korsaren im Mittelmeer und im Atlantik. In: Andreas Obenaus | Eugen Pfister | Birgit Tremml (Hg.): Schrecken der Händler und Herrscher. Piratengemeinschaften in der Geschichte. Mandelbaum Verlag: Wien 2012, 100–121.

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Das mediterrane Europa – von den mittelalterlichen Anfängen bis zur Gegenwart. In: Thomas Ertl | Andrea Komlosy | Hans-Jürgen Puhle (Hg.): Europa als Weltregion. Zentrum. Modell oder Provinz? Wien: New Academic Press, 2014, 152–165.

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Sozial-, Wirtschafts- und Globalgeschichte.

Die andere Seite der Reconquista: Islamisch Spanien im Wirtschaftsraum des Spätmittelalters. In: Peter Feldbauer | Gottfried Liedl | John Morrissey (Hg.): Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion (Sammelband). München: R.Oldenbourg Verlag, 2001, 103–138.

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Vernunft und Utopie. Die Méditerranée (1350-1650). In: Peter Feldbauer | Jean-Paul Lehners (Hg.): Globalgeschichte. Die Welt im 16. Jahrhundert. Wien | Essen: Mandelbaum Verlag | Magnus Verlag, 2008, 116–151.

1250-1620. ‚Archaische‘ Globalisierung? (Mit Peter Feldbauer). In: Peter Feldbauer | Gerald Hödl | Jean-Paul Lehners (Hg.): Rhythmen der Globalisierung. Expansion und Kontraktion zwischen dem 13. und 20. Jahrhundert. Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 17–54.

Konjunkturen und Verflechtungen. Die westliche islamische Welt: Ökonomie (mit Peter Feldbauer). In: Peter Feldbauer | Angela Schottenhammer (Hg.): Die Welt 1000–1250. Wien: Mandelbaum Verlag, 2009, 175–215.

Faszinosum Fernhandel (Einbegleitung). In: Peter Feldbauer: At-Tiğāra. Handel und Kaufmannskapital in der islamischen Welt des 7.–13. Jahrhunderts. Wien: Mandelbaum Verlag, 2019, 7–29.

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Ökologiegeschichte.

Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft (mit Peter Feldbauer). Wien: Mandelbaum Verlag, 2017.

Al-Filaha_Ausschntte_ONLINEHerunterladen

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Ökologiegeschichte. Ein Reader zum interdisziplinären Gebrauch, Band 1: Konturen, Teilband 1/1 – Das Anthropozoikum. Wien – Berlin: Turia und Kant, 2018.

Ökologiegeschichte. Ein Reader zum interdisziplinären Gebrauch, Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen; Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken; hgg. mit Manfred Rosenberger). Wien – Berlin: Turia und Kant, 2017.

Born to be urban – Europas Paradiesvögel (mit Melanie Smetacek). In: Gottfried Liedl | Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume. Teilband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken. Wien: Turia und Kant, 2017, 140–181.

Europas Paradiesvögel_ONLINEHerunterladen

Der Islam und seine nomadischen Träger: Koranische Naturethik, Pflanze und Tier im Denken der Eliten. In: Religionen unterwegs, 25. Jg. Nr. 1 (März 2019), 4–16.

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Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte. Wien – Berlin: Turia und Kant, 2022.

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Lehre 2011-2024.

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Themen 2011-2024.

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Ökologiegeschichte Online. Die Herausgeberinnen und Herausgeber dieser neuen Reihe – Historiker*innen, aber auch Kolleg*innen aus den geisters- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen – haben es sich zum Ziel gesetzt, in zwangloser Abfolge  mehrmals jährlich Beiträge aus dem Bereich der Ökohistorie erscheinen zu lassen. In Sammelbänden oder Monographien werden Themen aus dem weiten Feld der Beziehungsgeschichte von Mensch und Natur, Stadt und Land, Tier-, Pflanzen-, Landschaftsschutz, Gemein- oder Privateigentum zur Sprache kommen; wird die Geschichte der Landschaft, des Waldes, der Grüngürtel, Schutzgebiete und Parks erzählt: von A wie Agrargeschichte bis Z wie Zonaler Umweltschutz.

Band 1 dieser Reihe ist soeben erschienen.

Gottfried Liedl: Der Mensch ist ein Beutegreifer. Unzeitgemäßes zur Ökologie.

Aus dem Inhalt:

I. NATURSCHUTZ – EINE KURZE GESCHICHTE? EINE LANGE GESCHICHTE? California dreaming. Die Anfänge der Grünbewegung. – Die 70-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Und eine Reise in den Sudan. –

II. DIE GROSSE ZERSTÖRUNG – ODER VOM NUTZEN DER NATUR. Arten sterben. – Welt-Allmenden. – Zivilgesellschaft und ‚westliche‘ Errungenschaften. – LANDWIRTSCHAFT. – Eine andere Geschichte der Landwirtschaft. – Agrargenies des Mittelalters. – EXPANSION, EUROPÄISIERUNG DER WELT. – Botanische Weltenbummler: Pflanzen & Weltsysteme. – Das Drama der Entwaldung. – Neue Fülle in Europas Wäldern. – Lob der Bäume. – Forstwirtschaftliches Intermezzo:   Brasilianisches Fallbeispiel & Terra Preta. –   

III. ÖKOLOGIE ALS WISSENSCHAFT UND IDEOLOGIE. – Ein spanischer Alfred Brehm – Félix Rodríguez de la Fuente. – Kulturgut Böser Wolf – oder Sind Förster die besseren Bauern? – Wir wollen sie nicht …! Umweltpolitische Retrospektiven – oder Das Böse in der Natur. – Wie schädlich ist ‚schädlich‘? Noch einmal Noxious Wildlife. – Ist der Naturschutz vielleicht schon tot – und weiß es nur noch nicht?

Ökologiegeschichte ONLINE_Band 1Herunterladen

Mehr zum Thema in meinem Blog.

Dazu auch BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022: Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2“

Als Liebhaber der mehrwertigen Logik bin ich von der folgenden Bemerkung fasziniert.

„Paradoxerweise ist die in der Wildnis nicht mehr vorkommende Säbelantilope die zweithäufigste in Zoos gehaltene Antilope; nur die Hirschziegenantilope ist noch häufiger vertreten. Insgesamt gibt es weltweit etwa 3.500 Tiere. […] Halbwilde Herden leben außerdem in Israel und auf der tunesischen Insel Djerba. Anfang 2012 gab es über 6.000 Säbelantilopen auf texanischen Jagd-Farmen“ (Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Biologie-seite.de).**

In Sachverhalten wie diesen offenbart sich nicht nur ein für die moderne Zivilgesellschaft typischer ‚Eigensinn‘ sondern die ganze evolutionäre Ambivalenz der Spezies Homo sapiens. Und zwar auf eine Weise, die, wie ich gerne zugebe, zu den eher sympathischen Spielarten des Dr.Jekyll-und-Mr.Hyde-Syndroms gehört. Kein Geringerer als Sigmund Freud hat uns die Beobachtung eines Kinderspiels mitgeteilt, das er „Fort – Da“ nannte. Dabei wird das Kind nicht müde, einen Gegenstand regelmäßig aus seinem Gesichtsfeld zu entfernen – ihn ‚unsichtbar‘ zu machen, ihn zum Verschwinden zu bringen –, nur um ihn genauso eifrig und geduldig, mit allen Anzeichen des Entzückens, wieder auftauchen, wieder erscheinen zu lassen. Ich finde, das ist auch ein gutes Bild, um das höchst eigenartige Verhalten des Menschen, das er den Reichtümern der Natur gegenüber einzunehmen pflegt, symbolisch darzustellen. Wie es scheint, bereitet es ihm ein – perverses? – Vergnügen, ja eine Art Genugtuung, 'aus dem Vollen zu schöpfen'; oder, weniger euphemistisch ausgedrückt: den Reichtum an Naturschätzen, wo immer er auf sie stößt, hemmungslos zu plündern ('Fort'). Aber dann gibt es auch noch jenes offenbar ebenfalls zur Condition humaine, zum Wesen des Menschen gehörende Bemühen, den allerdings meist nur mehr kläglichen Rest - - - genau, zu retten, zu (wie es so schön heißt) 'erhalten' (als ob das 'Erhalten' nicht genau darin bestanden hätte, auf das Plündern zu verzichten...).

Zerstörtes erhalten – zur Paradoxie einer ‚Rettung in letzter Minute‘. Wir haben hier also das seltsame Paradox einer Menschheit, die zuerst gedanken- und skrupellos vernichtet, was ihr der mit Naturgegenständen überreich gedeckte Tisch bietet, um dann die kümmerlichen Reste wie Pretiosen zu hüten und aufzubewahren und sie als meist schon tote, manchmal ‚gerade noch‘ am Leben gebliebene Reminiszenzen vergangenen Überflusses in allen möglichen Wunderkammern, Museen oder zoologischen Gärten auszustellen. Diesen doch einigermaßen verqueren und auf die Spitze getriebenen Symbolismus hat uns der Freud’sche Hinweis auf ein Kinderspiel, das exakt jene Bewegung des Wieder-Hervorholens eines zuvor mutwillig zum Verschwinden Gebrachten zum Gegenstand hat, in qualitativer Hinsicht oder triebökonomisch (wenn der Ausdruck gestattet ist) zu verorten erlaubt. Quantitativ, also bezüglich einer Ethik als Kalkül – beziehungsweise wenn es um die Frage geht, was warum wieviel wert ist – haben wir damit aber noch nicht sehr viel, um nicht zu sagen gar nichts gewonnen. Dieses Feld gilt es im folgenden zu beackern.

In einer solchen ethischen Wertlehre (nennen wir sie ruhig so) stößt man nämlich sofort wieder auf Paradoxien. Denn anders als im Reich der Natur, sei es bei der Nahrungsaufnahme oder anderen Vitalfunktionen, entspricht im Reich des Symbolisch-Ökonomischen nicht automatisch die größte Zahl auch dem höchsten Wert (so wie etwa die Länge des Lebens proportional ist zur Gesamtzahl der Schläge des Herzens). Nein. In der Welt des symbolisch-ökonomischen Wertens und Bewertens herrschen verkehrtproportionale Zustände. Was häufig ist, hat wenig Wert. Seltenes dagegen ist kostbar.

Das bereitet Freundinnen und Freunden der Natur Kopfzerbrechen. Wenn des Menschen Lieblingsbeute das jeweils Seltenste ist und er Objekte, die zu ihrer (Re-)Produktion die längste Zeit benötigen, besonders begehrt, dann fallen gerade die spektakulärsten Naturgegenstände wie Wale und tropische Urwaldriesen genau in diese Kategorie: „Ihre Bestände können sich nicht schnell genug regenerieren, um eine dauerhafte und zugleich lohnende kommerzielle Nutzung zu ermöglichen – doch ausgerechnet solche Arten sind besonders begehrt und ermöglichen hohe Profite. Denn obwohl die Ausrottung der Wale das Ende des Walfangs bedeutet, kann nach wirtschaftlicher Logik der Erlös eines heute erlegten Wals morgen auf der Bank liegen und Zinsen tragen, während ein Wal immer nur ein Wal bleibt“ (Atlas 1987, Seite 34; Zitat leicht verändert und gekürzt).*

Ob man, den kanonischen Texten der Psychologie folgend, die Triebausstattung der Spezies Homo sapiens als Ursache nimmt; oder ob man den Pferdefuß an einer nur im übertragenen Sinne ‚triebhaften‘ Figur entdeckt haben will, nämlich an der Figur des Homo oeconomicus (gewissen Denkern zufolge ist Ökonomie die ideale Verlängerung der Triebe des Menschen und das Kapital deren perfekte „Wunschmaschine“: Deleuze | Guattari 1979, Seite 7 ff.),* ist an und für sich nicht so wichtig. Am Ende zählt als Anthitese der Triebe das Realitätsprinzip, begleitet vom politisch-ökonomischen, seltener moralisch-ökologischen Katzenjammer. Wenn die Wunschmaschine knirschend und krachend zum Stillstand gekommen ist, erweist sich jenes energisch-lustbetonte ‚Fort’ – anders als im Kinderspiel, wo es in der Gestalt eines periodisch zurückkehrenden, optimistischen ‚Da‘ wieder aufgehoben wird – als höchst unangenehme Karikatur seiner selbst: Es hat sich in ein trübes und trauriges ‚Nicht-mehr‘, besser gesagt in ein ‚Nicht-mehr-Da‘ verwandelt.

„Komm auf den Punkt ...“ – „Zu den Antilopen, die – nicht mehr – da sind?“ – „Ja. Zu diesen.“ Wovon er fasziniert war, das hat der Mensch schon immer nicht so sein zu lassen vermocht, wie es ihm entgegen kam. Dem Faszinosum beizukommen, das Geheimnis seiner Aura zu lüften, ist ihm dabei von höchster Wichtigkeit, weshalb er sich dem betreffenden Gegenstand zügig nähert; anders gesagt, er tritt ihm im Endeffekt fast immer zu nahe. Um im gewählten Bild zu bleiben: Diese Tabu-brechende Distanzverringerung ist das große ‚Da‘. Tiere wurden göttlich verehrt, wozu man ihrer habhaft werden musste, damit man sie später – das unvermeidliche Gegenstück zum ‚Da’, das ‚Fort‘ – Göttern opfern konnte. Der Domestikation geht die Zähmung voraus – aus sozusagen religösen Gründen. Schon damals war das Seltenste – man kann auch sagen: die Ausnahme von der Regel – am wertvollsten. Ein Wildtier zum Beispiel, das sich dem Menschen nähert, das den sich nähernden Menschen nicht flieht, ein 'Da'. Von dem man sich jedoch wieder zu trennen hatte, im Opfer: ein ‚Fort‘. Das Opfer ist den Göttern desto lieber, je kostbarer es ist. Und das Seltenste, das Einzigartige (vielleicht sogar der Letzte seiner Art) ist natürlich am kostbarsten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

So kommt die gezähmte Antilope ins Spiel. Oder der domestizierte Wildstier, das zutrauliche Krokodil, der Ibis, die Katze, der Schakal, der Pavian, der Falke … Im Alten Ägypten lässt man sich die Fülle, die einen umgibt, im wahrsten Sinne des Wortes gefallen, macht man von den in großer Zahl die Wüsten und Steppen der Sahara, die Ufer des Nils und seine Sümpfe bewohnenden Arten physisch und psychisch reichlichen Gebrauch. Wir jedoch haben uns für die Antilopen entschieden, und bei diesen wollen wir bleiben.

Ma-hedj – „Das weiße Wüstentier“. Im Alten Ägypten kannte, verehrte und zähmte man im wesentlichen vier Arten von Antilopen: Kuhantilope (Alcelaphus buselaphus), Mendesantilope (Addax nasomaculatus), Weiße oder Arabische Oryx (Oryx leucoryx) und wenn man den Quellen und Zeugnissen, den erhalten gebliebenen Abbildungen und den Ergebnissen der Archäologie vertrauen kann besonders gern die Säbelantilope, Oryx dammah (Oryx algazel).

Säbelantilopen bei der Fütterung (altägyptisch) | © G.Liedl

Über die Säbelantilope lesen wir, dass sie „im Alten Ägypten zum Wüstenwild zählte und wegen der weißen Farbe als ‚göttliches Tier‘ galt.“** An dieser ‚Göttlichkeit‘ ist nicht zu zweifeln, findet man doch die ältesten Darstellungen dieser Antilope in der berühmten Weltkammer des Sonnenheiligtums von Niuserre (2455 bis 2420 v. Chr.), wo sie den ehrenvollen Beinamen Ma-hedj, „weißes Tier der Wüste“ trägt, wie ihre Hieroglyphe verrät:

Hieroglyphe der Säbelantilope | Quelle: Wikipedia

„Bestimmer des Schicksals“. Dass Oryx dammah eine zentrale Rolle in einem als „Weltkammer“ bezeichneten Kultraum (vgl. Edel 1961; Edel 1964; Edel | Wenig 1974; Helck 1980; Helck 1986)* spielt, einem magischen Zentralort des Sonnen- und Fruchtbarkeitszaubers, inmitten eines ausgedehnten Heiligtums – im „Lustort des Re“,** wie die Inschriften besagen –, unterstreicht ihre herausragende Bedeutung in der frühen Domestikationsgeschichte noch zusätzlich. Die Weltkammer zeigt Säbelantilopen inmitten anderer Wüstentiere, „die jedoch alle als Gemeinsamkeit die ‚Göttlichkeit‘ aufweisen und daher ‚keines Hirten bedürfen‘, sondern die ‚Bestimmer des Schicksals‘ sind“.** Keines Hirten zu bedürfen heißt im Umkehrschluss: seinen Weg selbst finden, ja Andere zu führen. Entscheidend für ihre Position als Anführerin von Lebewesen, die die Wüste bevölkern, und zugleich für ihre Rolle als numinoses Wesen im Fruchtbarkeitskult (was auf den ersten Blick paradox erscheint), sind die biologisch-ökologischen Besonderheiten dieser Spezies: „Als reines Wüstentier lebte die Säbelantilope einst von Mauretanien bis Ägypten in großen Herden, die bis zu tausend Tiere umfassen konnten. Innerhalb der Sahara wanderten sie weit umher und konnten mehrere Monate ohne Wasser überleben. […] In der ‚Weltkammer‘ werden die Zeitpunkte der Brunft (benut) und des Werfens (mesut) jeweils der altägyptischen Jahreszeit Schemu zugeordnet. […] Nach einer durchschnittlichen Tragzeit von 270 Tagen warf die Säbelantilope […] im Monat Renutet (Februar) ein einzelnes Junges [die Brunft fand im Monat Ipet-hemet, am Beginn der Jahreszeit Schemu statt, Setzzeit war an deren Ende, im Monat Renutet; Anm. G.L.]. Da die Monate Ipet-hemet sowie Renutet in der altägyptischen Jahreszeit Schemu lagen [in der dem Sonnengott Re geweihten Jahreszeit; Anm. G.L.], bestätigten sich die Datierungsangaben in den Inschriften der ‚Weltkammer‘“.**

Soviel zur Verbindung von Oryx dammah mit dem altägyptischen Sonnengott Re. Ein ganz wichtiger Aspekt – vielleicht sogar der wichtigste – erschließt sich aber aus der Klima- und Ökologiegeschichte. In der einst grünen Sahara, die ja nicht durchgehend, sondern nur jahreszeitlich grün war, fiel der Zeitpunkt, an dem die Kälber gesetzt wurden, mehr oder weniger mit der Regenzeit zusammen. Und noch etwas. Als in riesigen Herden lebendes Wildtier (zumindest dort, wo sie heute wieder vorkommt, etwa im Tschad)*** zeigt Oryx dammah lokale Regenfälle in der Wüste an, indem sie sich in Bewegung setzt und zielsicher dorthin wandert, wo das frische Gras sprießt. Denn sie ist in der Lage, Feuchtigkeit über große Distanzen zu wittern. Dass jenes derart gut an die Fährnisse und Notwendigkeiten des Wüstenlebens angepasste Tier für Menschen in und am Rande der Wüste (denn die Menschen Altägyptens waren sozusagen ‚erst vor kurzem‘ aus der ehemals grünen Sahara ins Niltal gezogen) als „Bestimmer des Schicksals“ galt, ist also logisch.

Gebärende Gazellen und Antilopen in der ‚Weltkammer‘ | Quelle: Wikipedia

Wie zu zeigen war, ergab sich das Naheverhältnis von Oryx dammah zur wichtigsten Gottheit im Alten Reich, dem Sonnengott Re, aus der Fortpflanzungsbiologie dieser emblematischen Wüstenbewohnerin. Das allein würde genügt haben, Oryx dammah an die Spitze einer ganzen Reihe von Tieren in Menschenhand zu hieven. Dass sie auch noch als Namen gebendes Tier einem eigenen Gau vorsteht, dem Antilopengau (im Norden, also an der Spitze Oberägyptens), ist das Tüpfelchen auf dem i.

Zug der Opfertiere (Ausschnitt): Oryx leucoryx, Capra nubiana, Oryx dammah | Quelle: Boessneck 1981, Seite 5*

Wo steht geschrieben, dass man den reich gedeckten Tisch plündern soll? „Der Wildreichtum in der Vielfalt der Arten und in der Menge der Individuen war zweifellos, vor allem im Alten Reich, weitaus größer als in der Neuzeit vor der totalen Ausrottung in unseren Tagen“ (Boessneck 1981, Seite 16).* Mannigfaltig und zahlreich waren die Wildtiere im Alten Ägypten, deren mehr oder weniger artgerechte Haltung aus antiken Bilddenkmälern, aber auch aus zooarchäologischen Untersuchungen hervorgeht – manche Wildtiere wurden mit Stricken, die um den Vorderlauf geknüpft waren, angebunden (was sich an Knochenfunden nachweisen lässt: Boessneck 1981, Seite 9), anderen legte man Halsbänder an, handzahme Individuen durften sich frei bewegen, wie die Löwen der Pharaonen Ramses II. und Ramses III., die ihre Herren in die Schlacht begleiteten (ebd., Seite 26). Wie reich die Natur den Tisch zu Pharaos Zeiten gedeckt hatte, zeigen auch die Tausenden von Tiermumien, die zwar hauptsächlich die gebräuchlichsten Haustiere ‚abbilden‘ (Katzen vor allem … und die berühmten Apis-Stiere) – aber eben nicht nur. Wahrscheinlich wurden Vertreter von mehr als sechzig Wildtierarten mehr oder weniger regelmäßig als Haus- und Heimtiere beziehungsweise unter zooähnlichen Bedingungen gehalten, mehr als vierzig Arten allein aus der Familie der Vögel (a.a.O., Seite 11 f.). Tierkult, kultische Jagd und Jagd zur Versorgung mit Wildbret beförderten nicht nur die Hundezucht – beliebt und oft abgebildet: der überschlanke Windhund, wie er noch heute bei Wüstennomaden in hohen Ehren steht –; auch die Haltung gezähmter und speziell abgerichteter Jagdhelfer aus der freien Wildbahn wäre hier zu erwähnen. Ein im Gegensatz zu den auftrumpfenden pharaonischen Kriegslöwen eher sympathisches Bild boten zum Beispiel die Nilgänse (eine heute dank der Klimaerwärmung bis weit nach Mitteleuropa verbreitete Art), die auch von den einfachen Menschen zu Hause gehalten und bei den beliebten Wasservogel-Jagden in den Papyrussümpfen als Lockvögel eingesetzt wurden (a.a.O., Seite 8). Und so weiter und so fort!

Eine Longue durée der Wildtierhaltung. Es gibt sie nicht nur im Bösen, die ‚Lange Dauer‘ mit ihren zur Volkskultur gewordenen Traditionen eines so und so gearteten Umgangs mit der Natur; nicht nur die Schaukämpfe und Tierhetzen in den Arenen der Römer, deren langer Atem, wenn ich so sagen darf, noch heute durch die Stierkampfarenen der Iberischen Halbinsel weht. Sondern auch die eigenartige, Jahrhunderte währende Tier-Diplomatie ägyptischer Herrscher. Von Ramses bis Kleopatra, von den Mamluken-Sultanen des Mittelalters bis zum ‚modernen‘ Herrscher Mehmed Ali, sendet der Hof als Zeichen seines guten Willens spektakuläre vierbeinige Botschafter – Giraffen, Elefanten, Löwen, Krokodile – an potenzielle Partner. Die einen haben, der ‚Urfigur‘ des Tieropfers treu bleibend, eine hochspezialisierte Kunstform daraus gemacht (abzüglich der kultisch-religiösen Komponente natürlich); sodass der Spanier Ortega y Gasset (und er muss es wissen) geradezu von ese componente primario de la intuición tauromáquica sprechen kann (Ortega y Gasset 1986, Seite 128).* Was also bei den einen „diese ursprüngliche, intuitive Komponente des Stierkampfs“ geblieben ist (tauromaquia, die Kunst des Stiergefechts als Erbin des Tieropfers), zeigt sich bei den anderen nicht weniger artifiziell, jedoch ein gutes Stück lebensfreundlicher. Gewiss ist es vom Tieropfer zur Zootierhaltung (inklusive Tierfang und Tiertransport) ein weiterer Weg als zur Tauromachie. Entscheidend ist das hohe Alter der Expertise (etwa fünf Jahrtausende) – und diese Expertise entstand und entwickelte sich an den Ufern des Nil, allgemein gesprochen im Orient (Liedl 2019, Seite 7 ff.).*

Säbelantilope mit Kalb | Quelle: Wikipedia (kduthler)

Kain oder Abel. Vielleicht verträgt das Thema, nachdem wir die Musterung der archäologischen, zoologisch-kulturanthropologischen Tatsachen und (Quer-)Verweise bis auf weiteres abgeschlossen haben, ja wieder ein wenig Philosophie. Denn über der Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses (und eigentlich ist das ja ‚die‘ Geschichte schlechthin) schwebt immer noch die Frage, wer von den beiden Urgestalten, Abel oder Kain, Dr. Jekyll oder Mr. Hyde in besagter Geschichte am längeren Ast sitzt. Nun, wenn wir uns mit der Freud’schen Kinderspiel-Erzählung nicht komplett vergriffen haben, was entgegen dem Anschein, den unser etwas spröder Einstieg in die Thematik erweckt haben mag, wohl eher nicht der Fall ist, sollte wo schon nicht eine definitive Entscheidung, so doch wenigstens eine vertiefende Darstellung des Problems, und wenn schon nicht das, dann zumindest eine Präzisierung der Frage selbst möglich sein.

Abel oder Kain? Warum wird eigentlich nicht Kain erschlagen, der Sesshafte, sondern Abel, der wandernde Viehhirte? Man mag dem Pflanzer, dem Getreidebauern, dem „im Schweiße seines Angesichts“ (so heißt es doch) das Feld Bestellenden ein derartiges Maß an destruktiver Energie gar nicht zutrauen. Noch so eine Paradoxie in unserer an Paradoxien nicht gerade armen Thematik?

„Dass es sich so verhält, wie es in der Bibel steht, liegt vielleicht daran, dass hier die Welt aus der Sicht der Hirten und nicht aus Sicht der Bauern erklärt wird. Ursprünglich wurden Geschichten wie diese wohl beim Hüten der Herden erdacht und Abends vor den Zelten am Lagerfeuer erzählt – und nicht in den Lehmhütten der Ackerbauern oder Feldbesteller.“ – „Aber objektiv betrachtet, widersprechen sie der Faktengeschichte, wie wir sie kennen: die strotzt vor Überfällen Nichtsesshafter auf Sesshafte. Die ‚Barbaren‘, das sind doch jene, die gut zu Fuß sind oder auf schnellen Pferden reiten, so weiß man es, seit sich Sumerer über die Bewohner des Zagros-Gebirges, Hellenen über die Skythen, Christen des Abendlandes über die Mongolen beklagten.“ – „Weiß man es – oder möchte man es die Welt bloß glauben machen? Um von den eigenen destruktiven Trieben abzulenken? Um sich diese nicht eingestehen zu müssen?“ – „Das ist jetzt aber ein Standpunktwechsel – von der Perspektive des Menschen hin zur Natur.“ – „Und mit Blick auf jene, die halbwegs auf dem Standpunkt der Natur stehen, mit der sie mehr oder minder im Einklang sind.“ – „Also doch Abel? Dessen Ziegen und Schafe so gar keine Schuld trifft an der Zerstörung der Baumsavannen des Zweistromlandes …“ – „Verglichen mit dem ökologischen Fußabdruck, den die Sesshaften seit den ersten neolithischen Brandrodungen hinterließen und immer noch – heute mehr denn je – hinterlassen, sind die Schafe, Ziegen, Rinder, Pferde und Kamele der Umherziehenden – verzeih das plumpe Wortspiel – veritable Unschuldslämmer …“

Wer hat also recht? Nun, selbst die Mythologie der ‚Sesshaften‘ kann nicht anders, als das Goldene Zeitalter in eine Ära zu verlegen, in der es weder Brandrodungen noch das Wenden der Scholle gab, als man weder Hacke und Grabstock, noch die scharfe Pflugschar kannte. Eine Ära, in welcher der Mensch – zwar nur sozusagen, aber immerhin – ‚die Erde in Ruhe ließ‘.

All diese Mythen vom Goldenen Zeitalter stellen eine Natur in den Mittelpunkt, welcher der Mensch, um sein Lebensrecht geltend zu machen, keine Gewalt antun muss. Dass sie reale (ökologie-)historische Zustände spiegeln, kann angenommen werden, wäre aber zu relativieren. Jäger und Sammler reißen nun tatsächlich den Mutterboden nicht auf, dafür kennen sie den Einsatz des Feuers zu allerlei raumschaffenden, den Raum erweiternden, die Umwelt verändernden Zwecken, etwa bei der Treibjagd. Und weil wir gerade von ihr sprechen – hat nicht auch die Jagd zum Verschwinden der eiszeitlichen und nacheiszeitlichen Megafauna kräftig beigetragen? Aber lassen wir die Jäger und ihr Goldenes Zeitalter. Wenden wir uns den Hirten und ihren Herden zu.

Nomadenweisheit. „Was man nicht vergessen darf: ‚Naturschutz‘ ist in Arabien kein neues Konzept. Das traditionelle ‚Hema‘-System sorgte für einen saisonal kontrollierten Weidegang, wodurch anderes Land als unverbrauchte Reserve verblieb, bisweilen als Jagdgebiet genutzt. Schon in der Mythologie Mesopotamiens ist das uralte Wissen um ökologische Ursachen und Wirkungen präsent“ (Kingdon 1991, Seite 13; dazu Liedl | Feldbauer 2024, Seite 6 ff.; vgl. Liedl 2019a, Seite 4 ff.).

Nicht nur für die klassischen Kamelnomaden des Vorderen Orients gilt das Wort vom „uralten Wissen um ökologische Ursachen und Wirkungen“; auch anderswo – eigentlich überall, wo es Vieh züchtenden Nomaden nicht durch außerökonomische Zwänge, sprich durch die Politik oder andere schicksalhafte Umstände verwehrt ist, ihre traditionelle Lebensweise zu pflegen – zeichnen sich die sogenannten Nicht-Sesshaften durch einen behutsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen aus. Die Umwelt dieser Viehzüchternomaden ist eine einzige große Allmende mit klar definierten Strukturen nach innen – einem Mix aus Weideland, Ruhezonen und Wasserstellen – und ebensolchen Grenzen nach außen, wo die Territorien der Nachbarclans und Nachbarstämme sind. Dass dieser labile Gleichgewichtszustand über alle Veränderungen der Zeit hinweg erhalten bleibe oder nach Störungen so rasch wie möglich wieder hergestellt werde, dafür sorgt eine von Generation zu Generation weitergegebene Sammlung von Handlungsanweisungen und Grundsätzen, was nicht nur das tagespolitische Geschehen sondern auch Verhältnisse von langer und längster Dauer (‚Longue durée‘), mit einem Wort den ökologischen Zustand dieser Allmende im Blick zu behalten erlaubt.

Dass eine so verstandene Umwelt als unteilbares Ganzes begriffen ist (der Ausdruck „ökologische Sensibilität“ ist in diesem Zusammenhang wohl angebracht), geht aus der Behandlung selbst jener Ressourcen hervor, die nicht unmittelbar den Menschen und ihren Herden zugute kommen. Auch der sogenannten wilden Natur gebührt Respekt. So waren die mongolischen Stämme besonders in Phasen demographischen und ökonomischen Aufschwungs, wie zu Zeiten höchster Machtentfaltung unter Dschingis Khan und Nachfolgern, durchaus bereit, ihren Beitrag zur Wiederherstellung überausgebeuteter Landstriche zu leisten; das beinhaltete nicht nur Maßnahmen wie das Anlegen neuer und die Verbesserung alter Weideflächen, sondern auch Jagdverbote in riesigen, als Wildreservate ausgewiesenen Territorien. Und den Schutz des Wolfes, der als Hüter der Gesundheit ihrer Pferdeherden galt.

Vielleicht ist es ja spekulativ anzunehmen, dass sich im immer noch sehr naturnahen Kosmos der Nomaden-Viehzüchter das Erbe einer langen Inkubationszeit, das Vermächtnis aus einer Grauzone zwischen Jäger- und Hirtendasein als besonderes Natur- und Umweltverständnis erhalten haben könnte  – wie gesagt, das mag sich spekulativ ausnehmen, ganz unplausibel ist es nicht. Weil gerade vom Wolf bei den Mongolen die Rede war – aus der arabischen Ecke des Nomaden-Universums tönt es ganz ähnlich … auch hier ist das Tier noch ganz auf Augenhöhe mit dem Erzähler: „Nachdem wir das Feuer hatten auflodern lassen, besuchte uns ein Wolf. Dem warf ich ein Bratenstück zu, um mich nicht einer Grobheit schuldig zu machen gegenüber einem, der sich mir vertrauensvoll näherte. Da kehrte er, mit dem Braten im Maul, frohgemut um und schüttelte den Kopf wie ein plündernder Krieger, der mit seiner Beute glücklich nach Hause eilt“ (Muraqqish al-Abbar: Das Gespräch mit dem Wolf, vgl. Liedl 2019b, Seite 4 ff.).

Das kontrastiert doch einigermaßen mit einer gewissen ökonomisch erfolgreichen, ökologisch verheerenden Naturauffassung, die als eine der tragenden Säulen im geistigen Überbau moderner Industriegesellschaften eine lange Geschichte hat; eine Geschichte, die sich bis in die Anfänge des sogenannten Abendlandes zurückverfolgen lässt.

Der reich gedeckte Tisch wird abgeräumt. Bezüglich des Verschwindens von Oryx dammah & Co. – das Leitmotiv dieses Blogs – lassen sich prinzipielle Überlegungen anstellen, die es möglich machen, die ‚westlich-abendländische‘ Naturauffassung in einem Atemzug sowohl globalhistorisch als auch umweltpolitisch zu interpretieren.****** Geschwindigkeit, Rhythmus und die geographische Verteilung der Phänomene sind viel zu augenfällig aufeinander bezogen, um nicht sogleich stutzig zu machen. Um den Globus läuft eine Welle ökologischer Verarmung, und als untrügliches Indiz begleitet sie massivster Artenschwund. Ihren Ausgang nahm diese Welle schon während des Mittelalters (abendländischer Zeitrechnung), nämlich genau im Brennpunkt der neuen Denkungsart, in den – man beachte die Anführungsstriche – ‚fortschrittlichen‘ Territorien einer expandierenden Feudalgesellschaft. Ökologisches Indiz ist die zugleich mit den Wäldern verschwundene Großwildfauna – Bär, Wolf, Luchs; Ur, Wisent, Elch. Überall sonst auf der Welt, ja sogar an den südlichen Rändern Europas (was umso bemerkenswerter ist, als diese ‚Ränder‘ selbst wieder Zentren sind, hinter denen uralte Zivilisationen stehen) hatte sich ein ökologischer Zustand erhalten, der immer noch ‚reich‘ genannt werden durfte, geprägt von einer Ursprünglichkeit und Artenfülle, für die es keinen besseren Zeugen gibt als den ‚jungfräulichen‘ Kontinent Amerika mit seinen Bisons, Elchen, Wapitis, Weißwedel- und Maultierhirschen, Pronghorn-Antilopen und Dickhornschafen, Bergziegen und Karibus mit all den Beutegreifern im Schlepptau: Braun- und Schwarzbär, Grizzly und Eisbär, Timberwolf und Kojote, Puma, Rotluchs, Waschbär und Fuchs … Dazu die Riesenschwärme der Wandertaube, die Sandkraniche und Trompeterschwäne, Präriehühner, Kragenhühner, Hasel- und Truthühner … und da hätte man nur das wichtigste jagdbare Wild erfasst, das den Autochthonen als Lebensgrundlage diente und von ihnen auf nachhaltige Weise genutzt wurde. Bis die Europäer kamen …

So radikal deren Erschöpfungs- und Vernichtungsfeldzug war, so kurz ist auch die Zeit, die es brauchte, bis der Planet seines schönsten Schmucks, der Artenvielfalt, beraubt war. Gerade einmal zwanzig Jahre benötigten die nordamerikanischen Bisonschlächter, um den Bestand von 30 – 60 Millionen (die Schätzungen schwanken) auf ein paar Dutzend Tiere zu bringen. Und was die stolze Säbelantilope betrifft, das Tier des ägyptischen Sonnengottes, so war aus den vielen Tausenden, die noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts die Sahara durchstreiften, um die Jahrtausendwende eine glatte Null geworden: „Durch unkontrollierte Jagd, die zuletzt von Autos und Flugzeugen aus erfolgte, wurde die einst häufige Säbelantilope in der Wildnis vollkommen vernichtet. […] Ausgedehnte Suchexpeditionen in den Jahren 2001 bis 2004 konnten keine lebende Säbelantilope mehr sichten, sodass die IUCN [International Union for Conservation of Nature] den Status der Art auf in der Wildnis nicht mehr vorkommend ändern musste“ (Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Wikipedia).** Nicht wo der Fuß des Nomaden hintritt, wächst kein Gras mehr, sondern ...

Taurotragus derbianus: Das Tier und der Mensch | © Prague Zoo

Taurotragus & Co. Erinnern wir uns an das Motto der Triebökonomie: „Was häufig ist, hat wenig Wert. Seltenes dagegen ist kostbar.“ Dieses ‚Motto‘ kann aber auch als die Beschreibung der Gedanken gelesen werden, die dem Verschwender am Ende des Tages durch den Kopf gehen. Die Weißen (Europäer, Amerikaner) haben ein halbes Jahrtausend aus dem Vollen geschöpft. Jetzt, wo der Boden sichtbar wird, sind einige Vertreter des merkwürdigsten zivilisatorischen Konglomerats, das die Geschichte der Menschheit hervorgebracht hat, besorgt. Nun sei die Zeit gekommen, Kassasturz zu machen, sagen sie. Der „Bioplanet“ (Ahmetoglu et al. 2019),* so sagen sie, besteht aus sehr viel anorganischer und mittlerweile nicht mehr so viel, dafür aber reichlich ramponierter lebender Materie, die sich noch dazu, wie sie sagen, zum Großteil aus Individuen einer einzigen beziehungsweise einer Handvoll Arten zusammensetzt: Homo sapiens mit seinen Nutzpflanzen und Haustieren. Wenig verwunderlich, dass diese Besorgten im Sinne der verkehrtproportionalen Wertlehre (siehe oben) die Überreste einer ehemals ungeheuren Artenfülle als Kostbarkeit wahrnehmen:

„Die Westliche Riesen-Elenantilope (Tragelaphus derbianus derbianus, Gray, 1847) kommt nur im Nationalpark Niokolo Koba im Südosten Senegals vor und ihre Zahl ist äußerst gering. Halbwild werden sie auch in den Reservaten Bandia und Fathala im Westen Senegals gehalten. Die Westliche Riesen-Elenantilope ist eine der größten Antilopen der Welt und zugleich eine der am stärksten gefährdeten Arten unseres Planeten“ (Eintrag ‚Antelope Conservation‘ auf derbianus.cz, Zitat gekürzt).****

Die aus Lehrenden und Akademikerinnen der Fakultät für tropische Agrarwissenschaften an der Tschechischen Universität für Biowissenschaften in Prag bestehende NGO, von deren Homepage das Zitat stammt, befasst sich seit der Jahrtausendwende erfolgreich mit der Nachzucht von Taurotragus derbianus derbianus und ist dabei, durch Auswilderung und Wiederansiedlung das letzte Vorkommen dieser westafrikanischen Unterart der Riesen-Elenantilope in freier Wildbahn zu erhalten. Den größten Teil des heutigen Bestandes, mehr als 150 Tiere, bilden die in zwei privaten senegalesischen Wildreservaten (Fathala und Bandia) gehaltenen Exemplare aus dem Nachzucht-Programm. Von dem um 1990 auf 700 –800 Stück geschätzten Bestand im Niokolo-Koba Nationalpark leben heute vielleicht noch 100 Tiere. Den Ernst der Lage kann man einem anderen aktuellen Netzeintrag entnehmen:

„Dramatische Bestandsrückgänge erlitten alle Huftiere, die Pferdeantilope von mehr als 6000 im Jahre 1990 auf aktuell etwa 700, die Westafrika-Kuhantilope von 5000 auf 150, die Kob-Antilope von 24.000 auf aktuell etwa 100, Defassa-Wasserbock von über 3000 auf 10 sowie der Afrikanische Büffel von 8000 auf weniger als 500. Erloschen sind der westlichste Bestand der Westafrikanischen Giraffe (Giraffa camelopardalis peralta) sowie des Elefanten. Unsicher ist, inwieweit nationale wie internationale Schutzmaßnahmen Erfolg haben werden. Die Probleme der ungebremsten Wilderei mit schweren Waffen, die Jagd auf Bushmeat sowie der Vogelfang sind unter den gegebenen Umständen nicht gelöst“ (Eintrag ‚Nationalpark Niokolo-Koba‘ auf Wikipedia, Zitat gekürzt).****

Abspann: Der Kreis schließt sich. Im Orient, wo alles begann, wo die Menschheit erstmals das ‚Wild der Wüste‘ zähmte und, jedenfalls nach Expertenmeinung, die frühesten ökologischen Prüfungen zu bestehen hatte, scheint sie heute, ökologisch gewendet und | oder geläutert, zu ihrer zivilisatorischen Sendung zurückzufinden. Nun, vielleicht ist es nicht gerade die Menschheit als solche, die das tut, wohl aber der eine oder andere prominente (und jedenfalls mehr als nur begüterte) Vertreter derselben. Von einem solchen Vorbild, das sein nicht unbeträchtliches Vermögen für das Gute einsetzt, heißt es:

„Den Wildpark Al Bustan hat er aus Liebe zu den Tieren eingerichtet. Und als seinen ganz persönlichen Beitrag zur Arterhaltung. An keinem anderen Ort spürt er seine Verantwortung intensiver als hier.“ ***** Der Park ist auf die Nachzucht gefährdeter Arten spezialisiert – neunzig Prozent des Tierbestandes sind Spezies, die auf der Roten Liste stehen. Das faunistische Who is Who des Tierfreundes aus den Vereinigten Arabischen Emiraten  geht von erfolgreich nachgezüchteten Geparden (Acinonyx jubatus) über Okapis (Okapia johnstoni), den stark bedrohten Arabischen Thar (Arabitragus jayakari) bis zur Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbianus) und anderen bedrohten Antilopen- und Gazellenarten, darunter die in freier Wildbahn wahrscheinlich bereits ausgestorbenen Sömmerringgazellen (Nanger soemmerringii) aus dem Sudan (siehe dazu auch BLOG # 3 vom 13. Oktober 2022).

Hier schließt sich der Kreis. Vor mehr als 4000 Jahren hat ein genau beobachtender Künstler bei der opulenten Ausgestaltung der Grabkammer des Ptah-hotep aus Sakkara minutiös wiedergegeben, was dem Verstorbenen wichtig genug war, um für ihn auch im Jenseits unverzichtbar zu sein. Neben Jagd, Fisch- und Vogelfang in den Papyrussümpfen des Nil ließ sich der hohe Verstorbene auch seinen Privatzoo in die Anderwelt transferieren – mit Säbel- und Mendesantilopen, Steinböcken und Gazellen. Gazellen wie die an ihrem weißen Spiegel klar als solche erkennbare – Sömmerringgazelle:

Eine Herde Sömmerringgazellen in Al Bustan | © Al Bustan Zoological Centre

Sömmerringgazelle mit Wärter, altägyptisch | Quelle: Justi 1885, Seite 70*

Ein Fanal. Zu denken, dass das Verbreitungsgebiet dieses in riesigen Wanderherden zwischen Nil, Atbara und den Vorbergen des Äthiopischen Hochlandes hin und her ziehenden Wildtiers einst bis nach Oberägypten reichte – und dass die anmutige Gazelle heute, am Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends, ohne den Eigensinn eines Tierfreundes vom Persischen Golf vielleicht für immer von der Erde verschwunden wäre, wie so viele andere prächtige Geschöpfe aus der Kollektion des großen Meisters...

Aber wie die Geschichte zeigt, hat in der Realität wie in der Kunst nicht immer der Tod das letzte Wort. Auch nicht der Tod einer Tierart.

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*Literatur:

Ahmetoglu et al. 2019 = Özlem Ahmetoglu | Stephanie Fischer | Katinka Holupirek | Laura Joppien | Andrea Lammert | Andrea Rudolf: Der Bioplanet. Die spektakulärsten Naturreservate weltweit. Kunth Verlag: München 2019.

Atlas 1987 = Lee Durrell | Internationaler Naturschutzverband (IUCN) (Hg.): Gaia – Die Zukunft der Arche. Atlas zur Rettung unserer Erde. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt am Main 1987.

Boessneck 1981 = Joachim Boessneck: Gemeinsame Anliegen von Ägyptologie und Zoologie aus der Sicht des Zooarchäologen. Vorgetragen am 12. Juni 1981. Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften | C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung: München 1981.

LINK

Deleuze | Guattari 1979 = Gilles Deleuze | Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp Verlag: Frankfort am Main 1979 [Paris 1972].

Edel 1961 = Elmar Edel: Zu den Inschriften auf den Jahreszeitenreliefs der „Weltkammer“ aus dem Sonnenheiligtum des Niuserre. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Nr. 8. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1961.

Edel 1964 = Elmar Edel: Zu den Inschriften auf den Jahreszeitenreliefs der "Weltkammer" aus dem Sonnenheiligtum des Niuserre, Teil 2. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Nr. 5. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1964.

Edel | Wenig 1974 = Elmar Edel | Steffen Wenig: Die Jahreszeitenreliefs aus dem Sonnenheiligtum des Ne-user-re (= Mitteilungen aus der Ägyptischen Sammlung. Band 7). Tafelband. Akademie-Verlag: Berlin 1974.

Helck 1980 = Wolfgang Helck: Jahreszeitenreliefs. In: Wolfgang Helck | Eberhard Otto (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Band 3: Horhekenu – Megeb. Harrassowitz: Wiesbaden 1980, Spalte 241.

Helck 1986 = Wolfgang Helck: Weltkammer. In: Wolfgang Helck | Eberhard Otto (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Band 6: Stele – Zypresse. Harrassowitz: Wiesbaden 1986, Spalte 1215.

Justi 1885 = Ferdinand Justi: Geschichte der Orientalischen Völker im Altertum. Mit Illustrationen und Karten. Historischer Verlag Baumgärtel: Berlin 1885.

Kingdon 1991 = Jonathan Kingdon: Arabian Mammals. A Natural History | Thaddiyāt ul-djazīra l-‘arabiya. Bahrain – London – San Diego 1991.

Liedl 2019a = Gottfried Liedl: Faszinosum Fernhandel (Einbegleitung). In: Peter Feldbauer: At-Tiğāra. Handel und Kaufmannskapital in der islamischen Welt des 7.–13. Jahrhunderts. Mandelbaum Verlag: Wien 2019, 7–29.

LINK zur ONLINE-Version

Liedl 2019b = Gottfried Liedl: Der Islam und seine nomadischen Träger: Koranische Naturethik, Pflanze und Tier im Denken der Eliten. In: Religionen unterwegs, 25. Jg. Nr. 1 (März 2019), 4–16.

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Liedl | Feldbauer 2024 = Gottfried Liedl | Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Ausschnitte: 1. Räume und Landschaften; 2. Das Vermächtnis islamischer Landwirtschaft. Online-Version (2024).

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Ortega y Gasset 1986 = José Ortega y Gasset: Sobre la caza, los toros y el toreo. Ed. por Paulino Garagorri. Alianza Editorial: Madrid 1986 (Madrid 1960).

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**Säbelantilope, Netzeinträge:

Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Biologie-seite.de

LINK

Eintrag ‚Säbelantilope‘ auf Wikipedia

LINK

Eintrag ‚Säbelantilope (Altes Ägypten)‘ auf Wikipedia

LINK

Eintrag ‚Sonnenheiligtum des Niuserre‘ auf Wikipedia

LINK

Eintrag ‚Bou-Hedma-Nationalpark‘ auf Wikipedia

LINK

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***Zur Rückkehr der Säbelantilope:

Eintrag ‚Tschad: 600 Säbelantilopen in freier Wildbahn‘

LINK

Eintrag ‚Tschad: Auswilderung der Säbelantilope auf gutem Weg‘

LINK

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****Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbianus), Netzeinträge:

Eintrag ‚Nationalpark Niokolo-Koba‘ auf Wikipedia

LINK

Eintrag ‚Antelope Conservation‘ auf derbianus.cz

LINK

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*****Ein orientalischer Tierfreund (Der Wildpark Al Bustan):

90% of the animals at the 17-hectare Al Bustan Zoological Centre are endangered“: Gulf News, 1. Juni 2013

LINK

******Versuch einer Erklärung. Vielleicht ist er ja weniger Ausdruck einer Condition humaine – ein allgemein menschlicher Zug –, als vielmehr das Charakteristikum unserer 'westlich-abendländischen' Zivilisation: jener Drang, den reich gedeckten Tisch der Natur zu plündern ... oder, um das gebrauchte Bild noch einmal aufzufrischen: dem 'Da' ein triebhaftes 'Fort' entgegen zu setzen. So formuliert – als eine Psychologie des Naturgebrauchs sozusagen – mag es uns als Eintrittspforte zum Problem seine mehr oder weniger guten Dienste leisten. Wir sollten aber auch ernst nehmen, was der große Braudel über die gesellschaftliche Wirklichkeit gesagt hat: dass die Gesellschaft als integratives Ganzes aufzufassen sei, in welchem sich einerseits die gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen ständig gegenseitig beeinflussen, andrerseits die Grenzen zwischen ihnen „fließend wie Wasser“ seien (Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, Kapitel 5). Im Falle der Ökologiegeschichte des 'Abendlandes' heißt das aber, dass die beschriebene Condition auf die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse herunter gebrochen werden muss. Was hat es unter diesen Voraussetzungen mit jenem unzweifelhaft feststellbaren 'Hass', mit dieser Zerstörungs- und Vernichtungswut der Europäer auf sich? Ist diese Wut denn tatsächlich das Kennzeichen 'der' Europäer? Ist sie nicht vielleicht ein Kennzeichen, dessen Natur weniger psychologisch als vielmehr soziologisch aufgeklärt werden könnte und sollte? Anders gesagt, handelt es sich dabei nicht um ein, wie es im Soziologenjargon heißt, klassenspezifisches Phänomen? Jene Europäer, die beispielsweise in der Neuen Welt unter den wilden Tieren und Pflanzen wie Berserker wüteten, hatten die nicht eben erst die Fesseln eines strengen Feudalregimes abgestreift, wo ihnen von der Obrigkeit jeglicher Gebrauch natürlicher Ressourcen außerhalb der engen Grenzen der Feldarbeit bei Leibesstrafe untersagt war? Die jedoch andrerseits taten- und machtlos zusehen mussten, wenn das Wild der hohen Herren ihre Felder verwüstete und ihre Ernten vernichtete? Von dieser durch Forstgesetze und Jagdverbote um ihre angestammten Nutzungsrechte gebrachten ländlichen Bevölkerung war wenig Empathie für eine Natur zu erwarten, die ihnen von der herrschenden Klasse – je nach Blickwinkel – aufgedrängt oder vorenthalten wurde. Der Verweis auf eine allgemeine Condition humaine oder, spezieller, européenne greift da anscheinend zu kurz. Was wiederum nichts an der Tatsache eines in ökologischer wie auch politisch-wirtschaftlicher Hinsicht deutlich erkennbaren europäischen Sonderwegs ändert. So gesehen stimmt der Wink mit dem Zaunpfahl, dass es sich um eine 'Condition', eine strukturelle Angelegenheit handeln müsse.

Außerdem hat sich jene Besonderheit seit etwa einem halben Jahrtausend so konsequent über den ganzen Globus verbreitet, dass sie nun in der Tat 'die Menschheit als solche' (zumindest den Charakter von ausnehmend vielen Menschen) zu prägen scheint. Die Kurve des Verschwindens natürlicher Schätze (um den Ausdruck zu wiederholen, der das Drama zwischen Ökologie und Ökonomie auf den Punkt bringt) korreliert mit dem Siegeszug besagter 'westlich-abendländischer' Zivilisation. Einen Populationsschwund von 69 % seit 1970 – also das Schrumpfen der Individuenzahl wilder, sprich nicht domestizierter Tier- und Pflanzenarten auf weniger als die Hälfte – gab das renommierte Nachrichtenportal Bloomberg Green, sich auf eine wissenschaftliche Studie berufend, erst unlängst bekannt (Bloomberg Green, Newsletter vom 10.4.2024). In diese Zahl muss auch die Vernichtung dreier Wildtierarten im Naturschutzgebiet Lainzer Tiergarten eingerechnet werden (siehe dazu BLOG # 4, BLOG # 5). Peinlich für eine Großstadt, die sich ihres Umwelt-Engangements zu rühmen pflegt – und eine Beschämung der Wiener Lokalpatrioten, sofern sie Naturliebhaber sind.

„Wenn ich es mal so ausdrücken darf: Sie drehen sich im Kreis, und das macht sie wütend.“ – „Du hast leicht reden in deinem komfortablen Lehnstuhl. Hättest du statt einer fetten Beamtenpension bis über beide Ohren Schulden und einen Hof, der mehr kostet als er bringt ... Und Vater Staat kürzt dir dann auch noch die Subventionen.“ – „Schon gut, ich habe verstanden. Aber in einem System, wo die Höfe und Traktoren immer opulenter werden – ‚Stets das Gleiche, nur mehr davon‘ (Einfallslosigkeit gepaart mit Größenwahn) –, darf man nicht überrascht sein, wenn sich‘s am Ende nicht ausgeht. Und was die Subventionen betrifft – alles Steuergelder. Irgendwann wacht das Volk auf und will zumindest wissen, wohin sein schönes Geld geflossen ist. Und was es selbst davon hat.“ – „Wohlfeile Lebensmittel zum Beispiel.“ – „Den Wert dieses Arguments würde ich stark in Zweifel ziehen. Die gesellschaftlichen Kollateralschäden industrieller Landwirtschaft können sich sehen lassen – da möchte ich als Steuerzahler zumindest beim Einsatz der Subventionen ein Wörtchen mitreden können. Noch mehr Gülle im Grundwasser? Immer mehr Pestizide? Immer weniger Biodiversität? Und wenn dann die Steuer zahlende urbane Mehrheit über die Verwendung der eingesetzten Steuergelder von der Minderheit Rechenschaft verlangt (denn das sind unsere geschätzten Kollegen aus der subventionierten Landwirtschaft: eine Minderheit im Staate), setzt man sich auf den Monstertraktor und blockiert die Autobahn?“*

Gewinner, Verlierer. Beginnen wir mit der zweiten, der leichteren Frage: Wer verliert? Im Spiel des Lebens nach Art des Hauses sind die Benachteiligten eindeutig in der Überzahl – vom schrumpfenden Bodenleben über die schwindende Vielfalt der Landschaften bis zum Menschen, der die Ignoranz und Gleichgültigkeit, ob er es nun weiß oder nicht, mit seiner physischen und psychischen Gesundheit bezahlt. Das gilt für beide Seiten gleichermaßen, für die Konsumenten in den Städten wie für die Produzenten auf dem flachen Land. Die Wut der Bauern hat eine sinistre Kehrseite: unter keiner anderen Berufsgruppe ist die Selbstmordrate höher.

Zur ‚Schuldfrage‘ (wenn man es denn so formulieren mag) fällt einem nicht viel Neues ein. Außer dass es neben der sprichwörtlichen Schweigenden Mehrheit auch das Schweigen der Anderen gibt, jener Wenigen, deren gesellschaftspolitischer Einfluss maximal ist. Und nein, damit ist nicht die Minderheit der Landwirtschaft treibenden Bürger und Bürgerinnen gemeint. Deren Einfluss auf die Gesellschaft ist das Gegenteil von maximal, wie ihre blinde Wut zeigt. Dass sich, wie es heißt, „Männer mit großen Traktoren als das ‚Volk‘ präsentieren, das sich gegen die Politik erhebt,“ beweist somit gar nichts.* Den eigentlichen Gewinn, wenn sich nichts ändert am Status quo, für den sich die „Männer mit den großen Traktoren“ stark machen, haben die Strippenzieher im Hintergrund, Protagonisten der oben erwähnten Schweigenden Minderheit. Wirklich erfreut über das Show off bäuerlicher „Petromaskulinität“ (die Politikwissenschaftlerin Cara Daggett)* kann das angesprochene ‚Volk‘ – die Mehrheit der Konsumenten – gar nicht sein („die Bauern protestieren nur für sich“).* Wirklich erfreut darüber sind die investierten Super-Player der Agro-Industrie samt Biotechnik, Chemie und Banken.

Interessen vor und hinter dem Vorhang. Vor dem Vorhang und auf offener Bühne protestieren Landwirte gegen arrogante Besserwisser aus der Stadt für den Status quo auf dem Lande: „Wir brauchen Pestizide. Wir wollen keine unproduktiven ‚Grünstreifen‘ neben unseren Äckern für eure ‚Renaturierungen‘. Wir benötigen jeden Quadratmeter Boden (allenfalls, um ihn zu Bauland zu machen). Und wir müssen die Jauche aus unseren Mastställen loswerden.“ Die Antwort des arroganten Besserwissers lautet: „Das mag sich alles so verhalten, wie ihr sagt. Nur dass es nicht das eigentliche Problem ist. Das eigentliche Problem am Status quo sind die stagnierenden Gewinne. Eure stagnierenden Gewinne.“

Gewinne in exponentiell steigender Höhe werden nicht vor sondern hinter dem Vorhang gemacht – unter Ausschluss der Öffentlichkeit namens ‚Volk‘. Vor dem Vorhang werden ‚Strukturen bereinigt‘ sprich Kredite aufgenommen, für deren Rückzahlung Subventionen nötig sind, gespeist aus Steuern der Schweigenden Mehrheit. Angesichts der Alternative: to have or not to have, sitzen Landwirt, Konsument und städtischer Besserwisser dann doch wieder in einem Boot.

Im Prinzip sind der Status quo auf dem Lande und das Schicksal der ländlichen Klientel den übrigen Steuerzahlern und Steuerzahlerinnen herzlich egal. Freilich nicht egal ist ihnen der ländliche Output: das möglichst billige Lebensmittel. Die Lateralschäden und wer den Schaden letztlich bezahlt, nämlich sie selbst, bleiben ihnen in der Regel verborgen. Und man sage nicht, dass mittlerweile jedes Kind um diese Schäden weiß. Jedes Kind – vielleicht. Alle anderen üben sich in Verdrängung: „Keine Erhöhung der Lebensmittelpreise, haben wir uns verstanden?“

Alle mit Ausnahme der Besserwisser. Diese meinen, dass es vernünftig wäre, das Steuergeld statt in Subventionen zur Aufrechterhaltung eines prekären Status quo in Investitionen zu dessen Veränderung zu stecken. Sie werden auch nicht müde zu wiederholen, dass die Verbraucherpreise nicht am Bauernhof gemacht werden, und dass Landwirte, Agrar- und Lebensmittelindustrie nicht in einem Boot sitzen, Landwirte und Konsumenten dagegen schon.

Im selben Boot. Es gibt unzählige Punkte, in denen Landwirtschaft, Konsumenten und vielleicht sogar die Gesellschaft als ganze identische Interessen haben. So viele, dass hier nur ein paar der spektakuläreren Beispiele angeführt seien. Beispiel Nummer eins – ein Dauerbrenner und zuletzt wieder hoch aktuell, die Frage: Wem gehören Lebewesen? Sind die Arten und Sorten, die wilden und die züchterisch veränderten Spezies Gemeingut – Weltallmenden? Oder darf über sie das Verfahren der Aneignung eröffnet, der monopolistische Anspruch einer Minderheit auf exklusive Verfügungsgewalt erhoben werden. Bei einer Patentierung nicht nur künstlich veränderten sondern jeglichen Saatgutes – ein Damoklesschwert, das, seit es Biotechnologie, Agrochemie und Industrielle Landwirtschaft gibt, gleichermaßen über Landwirten und Konsumenten schwebt –, wären beide, Erzeuger und Konsument entmündigt; keiner hätte noch Wahlfreiheit, der landwirtschaftliche Produzent nicht hinsichtlich der Pflanzensorten und Tierrassen, die er züchten möchte, der Konsument nicht hinsichtlich der Frage, aus welchen Rohstoffen sein Essen bestehen soll.**

Zweitens wäre da die Politik. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Gott mag ja helfen. Ob das auch für Bauernbünde, Landwirtschaftskammern und Parteien gilt, fragen sich Landwirte und Bäuerinnen seit langem. Hier heißt es wohl eher follow the money – und zwar the really big one. Wer zu Investitionen rät und zugleich Kredite vergibt, hat vielleicht doch nicht so ganz das Wohlergehen seines künftigen Schuldners im Sinn. Nicht in dieser Welt.

Drittens das Thema Wohlfahrt: physische und psychische Gesundheit. Auch auf dem Lande sind Gier und Prestigedenken zwei eher schlechte Ratgeber in Sachen Innerer Friede. Ein Leben und Zehren von der Substanz, ohne Rücksicht auf Verluste (eigene und die anderer, zum Beispiel solche, wie sie die Natur erleidet, wenn man nicht behutsam mit ihr verfährt) trägt weder zum gesellschaftlichen noch zum individuellen Glück besonders viel bei. Vom öffentlichen Ansehen ganz zu schweigen. Und das will man doch, das braucht man. Schon wegen der Subventionen.

Viertens: Bildung. Weder muss eine einmal gewählte Produktionsweise den eingefahrenen Geleisen in alle Ewigkeit folgen (außerdem: Wer hat die Geleise verlegt? Und wem zu Nutzen?); noch ist diese oder jene Ansicht über Gott und die Welt in Stein gemeißelt. Neue Denkungsart führt zu neuer Methode und diese zu neuen Produkten. Wenn Produzent und Konsument einander wirklich zuhören, wer weiß, was dabei herauskommt. Mehr Hirnschmalz bei weniger Dieselverbrauch (statt Mega-Trekker und Wut im Bauch)? Direktvermarktung? Ressourcenschonung? Energieeffizienz? Humusaufbau, Renaturierung und Klimaschutz? Alles ist möglich. Nichts ist fix.

Den Bauern und Bäuerinnen der romanischen Nationen ist das schon lange klar. Sie protestieren ebenfalls, dass die Schwarte kracht. Aber wenn der Eindruck nicht täuscht, so tun sie das auf intellektuelle Art, wo Bodenständigkeit und Gesellschaftskritik keine Gegensätze sind sondern einander ergänzen. Und diesseits des Rheins? Nur Wut im Bauch und Agrodiesel im Tank werden nicht ausreichen, den Teufelskreis aus Profiten, die nicht die euren sind, und Subventionen für einen Status quo, an den die Steuer zahlende Mehrheit nicht mehr glaubt, zu durchbrechen. Im Klartext: Wenn ihr nicht aufpasst, werdet ihr alles verlieren. Nicht nur den Status quo. Sondern auch Haus und Hof.

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*Reportage: „Warum die Bauern erfolgreicher sind als die Klimaaktivisten“ (zu den deutschen Bauernprotesten vom März 2024)

Link

** Wem gehören Lebewesen? Zahlen und Fakten zur Saatgutfrage.

Siehe auch BLOG # 19 vom 9. Januar 2023: „Welt-Allmende

Vier Agrarindustriekonzerne, BASF, Bayer, Syngenta und Corteva beherrschen mit mehr als der Hälfte des gehandelten Saatguts den Weltmarkt. Ihr Ziel ist ein generelles gesetzliches Verbot, nicht zertifiziertes beziehungsweise nicht patentiertes Saatgut zu züchten und in Verkehr zu bringen. Das hätte zur Folge, dass kleine Landwirte, die sich eine kostspielige und aufwändige Zertifizierung nicht leisten können, ihre eigenen Pflanzen nicht mehr vermehren, tauschen oder verkaufen dürften. Das würde – bei schon heute nur mehr 30 ernährungspolitisch bedeutenden Pflanzen, die weltweit gehandelt werden – eine gefährliche Ausdünnung des Genpools bedeuten. Der Kulturpflanzenschwund, dem (nach Angaben der FAO) in den letzten 100 Jahren bereits 75 Prozent der Nutzpflanzen zum Opfer gefallen sind, würde sich weiter fortsetzen, ja beschleunigen.

Abgesehen von diesem konkreten ökologischen Problem stellt sich eine ethisch-philosophische Grundsatzfrage. Es geht um die Frage, ob das Konzept ‚Privateigentum‘ hier überhaupt anwendbar ist oder ob solche Anwendung eine unzulässige Überdehnung besagten Konzepts wäre. Privateigentum, als Recht definiert, mit einem in ausschließlicher Verfügungsgewalt stehenden Gegenstand nach freiem Ermessen zu verfahren, impliziert auch das Recht der Zerstörung und Vernichtung. Bei konsequenter Anwendung dieses Rechtsgrundsatzes auf ganze Klassen von Lebewesen, also beispielsweise bei Zertifizierung und Patentierung von Arten oder Unterarten, Rassen oder Zuchtsorten, bedeutete das den Freibrief, nicht nur einzelne Individuen (Tiere, Pflanzen), sondern ganze Spezies (Tier- oder Pflanzenarten) als Ressource anzusehen, die im Extremfall ‚verbraucht‘, sprich straflos ausgerottet werden kann. Der logische Widersinn einer solchen Konstruktion sollte eigentlich ins Auge springen und jeden Versuch der Verrechtlichung monopolistischer Ansprüche auf ganze Klassen von Lebewesen im Keim ersticken. Sollte …

Der politische Realist: „Proaktive Änderungen sind nie angenehm, immer müsste irgend jemand auf irgend etwas verzichten. Angesichts des zu erwartenden Wahlverhaltens der Nation ist es daher ratsam, die Füße still zu halten.“ Der Zyniker: „Das Gute an der Klimakrise: sie braucht auf das Volk keine Rücksicht zu nehmen. Sie kommt auf jeden Fall. Und übrigens – das Wahlvolk weiß das auch.“ Der Pessimist: „Und das ist gut so.“

Mit seiner unorthodoxen Ansage hat der Pessimist ins Schwarze getroffen. Niemand muss sich vor der Klimakrise fürchten, denn sie ist bereits da. Was mit Sicherheit kommt, ist die Antwort des realen Lebens – nicht auf die Frage: Kommt die Krise oder kommt sie nicht? … sondern auf deren Unumkehrbarkeit. Mit anderen Worten: das Gute an der aufschiebenden Wirkung des Nichtstuns ist das katastrophale Ergebnis, denn dieses führt zur nachhaltigen Änderung des Verhaltens wenn schon nicht aller so doch der am meisten Betroffenen (also der Mehrheit). Das Laissez-faire in der Klimakrise führt zur Klimakatastrophe und diese zur Klimafitness (vgl. Liedl 2018, 90 ff.).*

Probleme, auf die man nicht warten muss, weil sie schon lange da sind. Der gebürtige Städter, die gelernte Urbane, so sie nur lange genug in der Stadt leben, um ein Gefühl für Zeit und Veränderung zu bekommen, könnten uns sicher die wichtigsten Entwicklungen, deren Zeugen sie geworden sind, an den Fingern herunter zählen. In abstrakte Formen gegossen wären ihre Erfahrungen wohl mit den Begriffen Überhitzung, Flächenfraß, Verkehrskollaps, Versorgungs-Unsicherheit, Stress und schwindende Lebensqualität recht gut auf den Punkt gebracht.

Mit Mitteln der Soziologie, Ökologie oder auch bloß geographisch könnte man jenen Makrobereich urbaner Entwicklung im Zeichen der Klimakrise als einen sich selbst verstärkenden Prozess darstellen, worin die klimabedingte Überhitzung durch das demographische Wachstum der Städte – ein unbezweifelbarer weltweiter Trend – noch weiter gesteigert wird, weil Städte eben nicht nur flächenfressend ins Umland ausgedehnt werden sondern sich dabei auch nach innen verdichten. Beide Vektoren führen zum gleichen Ergebnis: Vernichtung lebensqualitätsvoller Freiflächen.

‚Lebensqualität‘ in der Krise – und wie man sie allenfalls wieder herstellt. Leider muss man gegenwärtig davon ausgehen, dass die urbanen Lebensräume das Dilemma einer überausgebeuteten Welt perfekt spiegeln; das heißt natürlich, nicht nur sie selbst tun das. Auch andere Biome in ihrer näheren und weiteren Umgebung sind ins Dilemma einbezogen, sofern sie ja, um selbst einigermaßen über die Runden zu kommen, der urbanen Sphäre zuarbeiten – zuarbeiten müssen. Anders und frei heraus gesagt: weil sie von der urbanen Sphäre abhängig sind.**

Oberstes Gebot: der Überhitzung Einhalt gebieten. Das wichtigste Mittel dazu: den Flächenfraß zu stoppen.

Alles Weitere hängt davon ab – ohne adäquate Beantwortung dieser Hauptfrage ist den anderen Übeln nicht beizukommen: weder der klimabedingten Versorgungs-Unsicherheit (Ernährung, Wasser, Energie) noch dem systemischen Versagen der Ökonomie als solcher, einer Ökonomie, die an der Umweltzerstörung großen Anteil, um nicht zu sagen den Hauptanteil hat. Denkt man an den industriellen Komplex der Lebenmittelproduktion und einer davon total abhängigen Landwirtschaft, einen Komplex, der von einer bestimmten Methode, sich der Umwelt zu bedienen, viel zu sehr profitiert, um an einer Änderung solch profitabler, wiewohl ruinöser Strukturen auch nur das geringste Interesse zu haben, können einem schon pessimistische Anwandlungen kommen.

Was der geographische Raum, in dem die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, zur ökologisch-ökonomischen Wohlfahrt beitragen kann. Der Hinweis auf den agro-industriellen Komplex erfolgt nicht ohne methodische Hintergedanken. Denn dieser Komplex ist konsumorientiert. Mit anderen Worten, er ist bei weitem nicht so autonom, wie er sich nach außen hin darstellt; oder wie er es sich selbst einreden mag. Er ist abhängig vom Konsum jener Massen, die sich in den urbanen Räumen aufhalten. Also heute schon von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung, das sind über vier Milliarden potenzieller oder realer Abnehmer und Abnehmerinnen seiner Produkte.

Stadtnahe Landwirtschaft versus konsumorientierter agro-industrieller Komplex? Das hat sportliches Potenzial. Es mag zwar vorerst nur ein utopisches Gedankenspiel sein (oder auch wieder nicht, wenn die Anzeichen nicht trügen): gesetzt den Fall, nur ein Viertel der in Städten lebenden arbeitsfähigen Weltbevölkerung betriebe Landwirtschaft und das auch nur im Nebenerwerb, gesetzt also diesen minimalistischen Fall, dass bloß fünfundzwanzig Prozent der stadtsässigen Berufstätigen nebenher Lebensmittel und landwirtschaftlich generierte Energie produzierten (mit der heute zur Verfügung stehenden technischen und datenverarbeitenden Logistik wahrlich kein Kunststück), so wären das im Weltmaßstab schon heute mehr als eine halbe Milliarde zusätzlicher – ja, man dürfte sie so nennen: ‚in Städten ansässige Nebenerwerbslandwirte‘. Noch dazu solche, die als sogenannte Prosumer – Produzenten und Konsumenten in Personalunion – keinen großen ökologischen Fußabdruck hinterließen, weil sie ihre Produkte und Dienstleistungen hauptsächlich lokal, in unmittelbarer Nachbarschaft auf den Markt brächten.

Skeptikern sei in Erinnerung gerufen, wie unglaubwürdig, sagen wir um 1900, die Prognose geklungen haben mochte, dass es schon ein halbes Jahrhundert später in Haushalten der sogenannten besseren Gesellschaft (nicht zu reden vom Durchschnittshaushalt) keine Dienstboten, dafür jede Menge technischer Geräte zur Haushaltsführung geben würde. Die freigesetzten Dienstboten arbeiten nun in den Fabriken für Haushaltsgeräte. So wie die von der Agrarwirtschaft freigesetzten Landarbeiter und Landarbeiterinnen heute in den Produktionsstätten für Landmaschinen und in der Agrochemie zu finden sind. Wenn wir also hinsichtlich der ländlichen Szenarien darauf aufmerksam machen, dass es die Industrialisierung mit ihrem stattlichen Aufgebot an Maschinen und EDV dort zu agrarischen Großbetrieben gebracht hat, am Laufen gehalten von lediglich einer Handvoll Menschen, wo einst Dutzende Knechte und Mägde und Kohorten saisonaler Arbeitskräfte werkten, dann tun wir das natürlich mit Blick auf künftige urbane Landwirtschaftsszenarien erst recht. Diese – natürlich unter Berücksichtigung der anderen Ausgangssituation – lassen sich nämlich genauso gut analysieren und mit der nötigen Vorsicht vorhersagen, wie das bei der bereits weit fortgeschrittenen Entwicklung auf dem flachen Lande der Fall ist.

Wenn man einwendet – ein sehr treffender Einwand übrigens –, dass Industrie und Investmentkapital mit Sicherheit auch diesen Schauplatz betreten werden, sobald jene ‚neuen‘, sprich stadtnahen oder städtischen Formen landwirtschaftlichen Prosumertums ihre Marktreife bewiesen haben werden (und der Tag dafür ist nicht mehr fern), kann die Antwort nur lauten So what? Big Business und Investmentkapital werden, ob sie es wollen oder nicht, auf diesem Schauplatz ökologisch und sozial ganz andere Folgen zeitigen. Schon wegen der anderen Marktverhältnisse mit ihrer räumlichen und ideellen Nähe zwischen Produktion und Konsum.

„Ja, aber.“ Ein anderes Nutzungskonzept – ein anderes Raumkonzept. Vielleicht hat uns ja der Blick auf die Ernährungsfrage die Augen geöffnet für weitere Optionen des Urbanen und urbaner Denkungsart. Produktion, Konsum, Lebensweise und Lebensart werden lokal statt global verortet sein und Expansion findet weiterhin statt – doch nicht in die Breite sondern in die Höhe. Wie schon einmal, nämlich am Beginn der ‚klassischen‘ Moderne, sind die aufregendsten Formen neuester Metropolitan-Architektur die vertikalen. So betrachtet – durch die Brille der Architektinnen und Architekten, der Stadt- und Raumplaner-Community –,  ist die ökologisch gewendete Postmoderne in ihrem Kern eine Renaissance. Sicher nicht die schlechteste Form unter den vielen denkbaren Neuauflagen der Moderne …

Ökologisch gewendet heißt: Wo die ‚klassische‘ Moderne*** etwa als Punkthochhaus-Architektur (schöne Beispiele stehen in Stockholm oder in Roehampton im Großraum London) ‚Architektur im Grünen‘ sein möchte und ihre Wohntürme sehr elegant, aber auch sehr raumgreifend  einzeln in Parklandschaften plaziert (vgl. Tomaschek 1985, 17),**** nimmt die neueste Version, also die renaissancistisch-postmoderne Variante vertikalen Bauens, den Grünraum in die Höhe mit. Dadurch ist ihre Lizenz zur Verdichtung, über die sie neben der Erlaubnis zur hemmungslosen Nutzung des Luftraums ja ebenfalls verfügt, ökologisch nicht so bedenklich. Das Volumen an tier- und menschenfreundlichen, von vegetabilischen Elementen durchsetzten künstlich geschaffenen Biotopen in luftiger Höhe wiegt die Verdichtung, den horizontalen Flächenfraß beziehungsweise das Überbauen potenziellen Grünraums auf. Zumindest im Idealfall ist es so, wie ihn zum Beispiel die asiatische Metropole Singapur als gesetzliches Plansoll, das erfüllt zu werden hat, definiert. Diesem Ideal kosteneffizient, also durch Schaffung möglichst geräumiger Baukörper auf kleinstmöglicher Baufläche nahe zu kommen, zeichnet exzellente Architektur vor lediglich brauchbarer aus.

Zwei offene Stockwerksgärten eines Hochhauses in Singapur | © Globusliebe

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Sind Vertical architecture, Vertical farming, Vertical green integrale Bestandteile des größten Bioms unseres Planeten? Die vorhin angesprochenen Themen – von Urban farming, Greenbelt- und anderen Raumplanungsmodellen, die sich durch gezielten Einsatz öffentlichen Grüns als gestalterisches und sozialpolitisches Mittel auszeichnen, bis hin zur ‚klassischen‘ Raumplanung mittels Architektur – gehören alle in den städtebaulich-stadtgeographischen und stadthistorischen Makrobereich. Dazu zählt auch die globale demographische Entwicklung, deren Bedeutung durch die Tatsache unterstrichen wird, dass nach recht glaubwürdigen Prognosen bis 2050 – also innerhalb einer einzigen Generation – die in Städten lebende Menschheit auf 75 Prozent der Weltbevölkerung angewachsen sein wird. Drei Viertel der für 2050 vorhergesagten rund zehn Milliarden Menschen, sprich siebeneinhalb Milliarden werden im urbanen Umfeld leben. Damit wird sich das Lebensmodell ‚Stadt‘ zu dem Biom schlechthin, zum typischen Biom des Planeten Erde gemausert haben.

Was sich historisch-geographisch auf dieser Makro-Ebene abspielt und wie sich das abstrakt-typologische Weltbiom ‚Stadt‘ konkret in welchen Formen und lokalen Gestalten entfaltet und in welche unterschiedliche Biotope es sich dabei ausdifferenziert, das freilich ist Gegenstand der Mikrogeschichte; es gilt die allgemeinen Umrisse des Weltbioms ‚Stadt‘ in den unterschiedlichsten Farben auszumalen, um der vielen konkreten Maßnahmen, mit denen sich Städte den ökologisch-ökonomisch-demographischen Herausforderungen der Klimakrise theoretisch stellen könnten oder in der stadtpolitischen Praxis teilweise auch schon stellen, habhaft zu werden.

Dass das im engen Rahmen eines Blogs nicht geleistet werden kann und soll, bedarf keiner weiteren Erörterung. Literatur und Netz quellen über von Beispielen innovativer Methoden architektonisch-städtebaulicher Natur, die alle mit dem offensichtlichen Ziel gesucht, gefunden und eingesetzt werden, die Lebensqualität der Stadtbewohnerin, des Stadtbewohners zu verbessern, und zwar ungeachtet ihrer Herkunft aus der Menschenwelt oder dem Reich der Tiere oder Pflanzen. Die Krise ist, wie gesagt, schon lange da: als Krise des Raumes – Grünland-, Freiraum-, Bodenschwund –, als Energie- und Ressourcenkrise, als Umweltkrise und Krise der Lebensqualität, wozu (um nur die auffälligsten zu nennen) so unterschiedliche Phänomene wie Klimakrise und Naturzerstörung, Artenschwund und Sinnkrise zählen. Die Krise ist da; Lösungsversuche als Versuche, resilienter zu werden (frühere, weniger skeptische Generationen sprachen sogar von Krisenfestigkeit), folgen ihr auf dem Fuße.

Wenn das künftige Welt-Biom ein zutiefst urbanes ist; und wenn es als Summe der in ihm vereinigten Biotope tüchtig genug sein soll, um das zu leisten, was jedes gute Biotop schon für sich genommen zu leisten hat – so stabil wie nötig, so dynamisch wie möglich zu sein, um historisch bestehen zu können … wie darf man es sich als vorsichtig-skeptisch in die Zukunft blickender Historiker vorstellen? Was kann man sich innerhalb der bloß angedeuteten Konturen, wie der Volksmund so treffend sagt, ausmalen?

Die bereits heute weltweit zwar noch punktuell, aber doch signifikant genug  in Erscheinung tretenden Umgestaltungen urbaner Großlebensräume können nicht mehr ignoriert werden. In der Historiographie zielt man sicher nicht von Haus aus auf Trendforschung ab; soviel lässt sich aber aus den Entwicklungen des letzten Jahrhunderts – oder des letzten halben Jahrhunderts – für das nächste halbe Jahrhundert extrapolieren, dass es zu einer radikalen Revision der Raumordnung kommen wird, wo in den Beziehungen von Stadt und Land, Zentrum und Peripherie – die Formulierung mag ein wenig abgegriffen sein, passt hier aber perfekt –: ‚kein Stein auf dem anderen bleiben wird‘.

Das urbane Biom auf dem Prüfstand: Erstens, Landwirtschaft. Weil schon die Aufklärer darauf bestanden haben, dass alles, was zum Bonheur, zum Wohlergehen der Menschheit führt, mit dem Terroir, dem fruchtbaren Mutterboden anfängt und der wichtigste Beruf der des Cultivateur, des Laboureur, des Feldbestellers vulgo Landwirts sei, soll auch in der Analyse des urbanen Weltbioms ‚Stadt‘ zuerst die Landwirtschaftsfrage erörtert werden. Trocken-apodiktische Feststellung: Sie wird eine urbane Landwirtschaft sein (urban als aufgeklärt humanistisch zu lesen) – oder sie wird nicht sein. Frei nach Nietzsche: „Die Wüste wächst – weh dem, der Wüsten birgt.“

Im engeren Sinne urban ist sie mancherorten schon jetzt. Und es zeigt sich, dass der Gegensatz zwischen ökologisch bedenklich oder ökologisch korrekt nicht an der Frage festzumachen ist, wie ‚industrialisiert‘ sie sei – gesetzt nämlich, man versteht das Phänomen der Industrialisierung von der Rolle her, welche Wissenschaft dabei spielt. Urbane Landwirtschaft ist schon heute und wird in Zukunft noch viel ausschließlicher Agrikultur der höchsten Bildung sein, des größten Vertrauens auf ihr theoretisches Fundament, mit einem Wort: der wissenschaftlichen Herangehensweise (scientific approach).Das schließt alle möglichen Renaissancen und Wiederentdeckungen ‚traditioneller‘ Landwirtschaft nicht aus sondern ein.

Was es aber definitiv ausschließt, sind zwei Extreme. Unverträglich mit urbaner Agrarisierung ist einerseits der spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Weltherrschaft gelangte agro-industrielle Komplex als sozio-ökonomische Diktatur einer einzigen Produktions- und Konsumptionsweise unter Ausschluss jeglicher Alternativen.

Das zweite mit urbaner Agrarisierung unverträgliche Extrem stellen die weltweit als Kollateralschaden des agro-industriellen Komplexes auftretenden Rudimentär- und Verfallsformen von ‚Landwirtschaft‘ dar. Das sind die verschiedenen auf unterster sozialer Stufenleiter stehenden, im Grunde gar nicht artisanal sondern dilettantisch, von naturferner Warte aus durch eine depravierte Weder-Stadt-noch-Landbevölkerung (Karl Marx prägte dafür den plastischen Begriff Lumpenproletariat) betriebenen Varianten reiner Bodenausbeutung. Eine solche Landwirtschaft im Stadium ihres Verschwindens reicht von der mit raschem Verfallsdatum versehenen Übernutzung erschöpfend bewirtschafteter Böden in Gebieten jüngst gerodeter Primärvegetation (gleichgültig, ob in den Tropen oder wie neuerdings auch in subpolaren Zonen) bis zu Betriebsformen in den sogenannten Industrienationen, wo sich, nach dem Umstieg auf mechanisierte Formen von Ackerbau und Viehzucht, ein bäuerlicher Mittelstand hoch verschuldet seinem raschen Ende entgegeneilen sieht.

Alle anderen denkmöglichen oder schon realisierten Formen eines pfleglichen landwirtschaftlichen Umgangs mit natürlichen Ressourcen (das Zwillings-Kennwort lautet Nachhaltigkeit | Umweltverträglichkeit) passen perfekt ins urbane Konzept, lassen sich, um es auch für den Liebhaber, die Liebhaberin abstrakt-philosophischer Formulierungen angemessen auszudrücken, ins Narrativ einer modern-postmodernen Globalgeschichte der Stadt, Weltstadt, Megastadt, Metropole … oder wie immer die Etikettierung lauten mag, als Teil-Erzählungen perfekt einfügen.

Unter ökologischen Gesichtspunkten bedeutet ‚modern-postmodern‘ vor allem klimafit. Outdoor- oder Indoor-Farming, betrieben im eher konventionellen Hochbeet- oder als technikaffines Hydroponik-Verfahren,****** Stockwerks-, Nachbarschafts- oder Dachgärten, gewinnorientiert bewirtschaftet oder multifunktional zur Verfügung gestellt als soziale Allmende, als Erholungs- und Kommunikationsraum für Mensch und Tier (darunter eine stetig wachsende städtische Brutvogelpopulation) – was  allen diesen typisch urbanen, innovativen und benutzerfreundlichen, basisdemokratisch-bürgernahen Nachbarschaftsmodellen gemeinsam ist: ihr minimaler ökologischer Fußabdruck bei maximaler ökologischer Wirkung. Und last not least: Role Models wie das in dieser Hinsicht (wieder einmal) besonders avantgardistische New York liefern auch den Beweis, dass mit ökologischer Verträglichkeit, passgenau eingefügt ins Narrativ des American Way of Life, ein Glück (Bonheur) nach Art der Ökonomie einhergehen kann: das materielle Glück des Wohltäters, der mit urbanem Ackerbau seinen Profit macht (vgl. Bullinger | Röthlein 2012, 113 f.).***** 

Das urbane Biom auf dem Prüfstand: Zweitens, Raumordnung. Weil sie so bedeutungsvoll ist und vor allem äußerst folgenreich für das Bienestar, das Bonheur, das Wohlergehen der Menschheit, sei sie noch einmal in Erinnerung gerufen, die Zahl der Individuen der Spezies Homo sapiens, welche nach einer glaubwürdigen Prognose um die Mitte des 21. Jahrhunderts das urbane Biom bewohnen werden: 7,5 Milliarden.

Zwei Drittel der Weltbevölkerung auf einen verhältnismäßig kleinen Teil der bewohnbaren Fläche des Planeten zusammengedrängt – wie viel Raum die größten Megastädte auch einnehmen und wie sehr sie ihre Umgebung dominieren werden … es wird stets ein relativ beschränkter, auf die Geographie des Planeten und dessen Großräume inklusive Weltmeere bezogen gewissermaßen überschaubarer Raum sein. Soviel steht fest – je ökologisch verträglicher sie sein werden, je besser angepasst an ihre Umwelt, desto übersichtlicher und kompakter werden sich jene megastädtischen Bezirke innerhalb ihrer weiten, im Vergleich zu ihnen selbst geradezu grenzenlos weiten Umgebungen ausnehmen.

Diese Umgebungen werden sie wahrscheinlich mehr oder weniger ringförmig umschließen (Ruedo, ‚Ring‘ nennt man auch in Spanien seit Menschengedenken die unmittelbare Umgebung der traditioneller Weise immer schon sehr kompakt angelegten Städte … by the way eine der interessantesten und zukunftsfähigsten Interpretationen des alten Problems der Siedlungsgeographie – nämlich wie sich das Land, von der Stadt aus betrachtet, ausnimmt). Zersiedelung sieht anders aus und war nie Thema einer urban denkenden, urban fühlenden, urban wirtschaftenden Gesellschaft. Soviel hat die aufmerksame Leserin, der mitdenkende Leser schon begriffen: Es ist nicht von der Gesellschaft nördlich der Alpen die Rede. Dort ist Zersiedelung, Zerstückelung, Zerfledderung besonders der stadtnahen Landschaft die Regel.

Zurück zur Weltbevölkerung und ihrem stadtgebundenen Wachstum. Es bedarf keiner überragenden mathematischen Kenntnisse oder besonderer Geschicklichkeit im Aufstellen von Statistiken, um eine logische Verbindung herzustellen zwischen dem Wachstum kompakter, sprich infrastrukturell gut funktionierender Millionenstädte und dem mehr oder weniger markanten Entstehen nicht-urbaner Räume, die sich in demographischer Hinsicht als das schiere Gegenteil jener dicht besiedelten Kernzonen erweisen: SIE SIND LEER. Gesetze der Evolution gelten auch für die Geographie.

Wenn es stimmt (wie weiter oben geschlussfolgert wurde), dass ein Biotop à la longue nur dann überdauert, wenn es ökologisch angepasst ist, wenn es also dauerhafte Grundlage für ein dynamisch-stabiles Biom zu sein vermag – dann werden benachbarte Biotope in einen Konkurrenzkampf geraten: Auf dem Prüfstand (und auf dem Spiel) steht ihre Attraktivität als Grundlage möglichst vitaler, das heißt möglichst arten- und individuenreicher Biome; mit anderen Worten, als Playground möglichst großer Gemeinschaften möglichst vieler Arten im dynamischen Gleichgewicht. Biome, die diesem evolutionären Sollwert besser entsprechen als ihre Nachbarn, werden diesen das evolutionäre Wasser abgraben.

Im Fall von ökologisch optimal angepassten urbanen Biotopen wird sich das in der Demographie zeigen; hinter den demographischen Zahlen stehen natürlich die wirtschaftlich-sozialen Gegebenheiten; hinter der Attraktivität als Wohnort steht dessen Attraktivität als Garant höherer Lebensqualität, ökologisch-sozial gesprochen: als Raum der kurzen Wege, der billigen und verlässlich fließenden Energie, der ausgewogenen Verhältnisse von ‚Arbeit‘ und ‚Freizeit‘ (wie immer diese beiden dann definiert sein werden) sowie last not least als Begegnungsort von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘, als Hotspot dessen, was man das Symbolische Kapital des Wohlbefindens nennen könnte, welches immer dann gesucht und gefunden werden möchte, wenn die Basisbedürfnisse gestillt sind.

Ein letztes Mal zum agro-industriellen Komplex – und dessen nicht weniger konventionellen ‚Partnern‘ unschönen Angedenkens: Raubbau und Entwaldung, Flächenfraß, Ressourcenraub und Denaturierung. Deren Auswirkungen betreffen in erster Linie – genau! Nicht den urbanisierten Raum. Verwüstet und entwertet wird durch sie der ländliche Raum, was dessen Attraktivität als Lebensraum – und darüber hinaus als eigenständiges, wettbewerbsfähiges Biom – weiter mindert. So wie die Dinge in der postmodernen Wüste namens Weltallmende stehen, kann ‚Stadt‘ nur gewinnen (vgl. Liedl 2022, 280 ff., 293 ff., 305 ff.).*

Das urbane Biom auf dem Prüfstand: Drittens, Artenvielfalt und strukturelle Diversität. „Die gängige These, dass die ‚böse Stadt das gute Land frisst‘, ist nicht mehr haltbar!“ Genau. Einer der führenden Biologen im deutschsprachigen Raum wird nicht müde zu betonen, was sich langsam, sehr langsam, auch im öffentlichen Bewusstsein durchzusetzen beginnt und jener Binsenweisheit, die Stadt sei eine Betonwüste, in der nichts gedeihe, diametral entgegen steht. Urbane Landschaften sind für Flora und Fauna wahre Hotspots, und das Zusammenleben zwischen menschlichen und tierischen Stadtbewohnern „funktioniert meist hervorragend“. Womöglich noch wichtiger ist ein anderes Phänomen. Fest verankert in der ‚urbanen DNA' ist die Renaissance des Allmende-Gedankens, mit anderen Worten, Flora und Fauna „werden völlig zu Recht als Allgemeingut betrachtet, über das einzelne Interessenträger nicht allein verfügen dürfen“ (Reichholf 2023).*

Derzeit befindet sich die Welt der Städte in einer kritischen Übergangsphase, worin sich der Gegensatz Stadt-Land einem Kulminationspunkt nähert, ja vielleicht einem echten Kipppunkt. Wovon Flora und Fauna, wenn sie in die Stadt einwandern, profitieren, ist ja ein auf den ersten Blick höchst unorthodoxer Zustand: Das sogenannte flache Land verliert rasant an Lebensfreundlichkeit, seine Vitalpotenz schrumpft, während sie in der Stadt zumindest im selben Ausmaß, wahrscheinlich sogar darüber hinaus zunimmt. Da muss man nichts hineingeheimnissen – die Ursachen sind – um die Sache zugegebener Maßen plakativ, aber leider faktennah zu formulieren – in der Überausbeutung ausgeräumter Landschaften zu finden (sofern sie eben keine Stadtlandschaften sind), in einer uniformen Agrarstruktur, im Wildwuchs pseudo-urbaner (suburbaner) Bebauung, im profitgetriebenen Versiegelungswahn. Dem gegenüber sind urbane Lebensräume Schutzzonen, Rückzugsgebiete und inoffizielle ‚Nationalparks‘, von denen aus – wenn es denn je dazu kommen sollte – eine Wiederbesiedlung des Umlandes (das seinen Charakter allerdings zuvor gründlich ändern müsste) erfolgen mag.

Der Biologe Reichholf schildert das ‚Naturschutzgebiet Stadt‘ als das, was es ist – eine Wiederaufnahme des Allmende-Gedankens, wonach, wie es ein englischer Jurist der frühen Neuzeit einst als Rechtfertigung für strenge Forstgesetze seinem König in den Mund gelegt hat, zum Begriff der ‚Nation‘ – also aus städtischer Sicht zur Nachbarschaft, zur Community, mediterran gesprochen zu den Vecinos –  auch die anderen, die nicht-menschlichen Lebewesen gehören (vgl. Manwood 1717, 143; Liedl 2022, 94 ff.).* Reichholf: „Immer mehr dehnt sich diese Haltung auch auf die Säugetiere aus. Nicht nur Eichhörnchen werden beobachtet und gefüttert, sondern auch Biber an Stadtgewässern, Waschbären in Hinterhöfen, Füchse im Garten und die Igel ganz allgemein, obgleich gerade sie wirklich keine Streicheltiere sind. Ein gewisser Trend, Gärten schmetterlings- und wildbienenfreundlicher zu gestalten, macht sich bemerkbar. Baumschutz gehört zur Selbstverständlichkeit.“*

Schlauer urbaner Nischenfuchs | © Josef H. Reichholf

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Das eigentliche Geheimnis städtischer Artenvielfalt und der biologischen Tragfähigkeit von Stadtlandschaften ist natürlich nicht die aufgeklärt-naturalistische Denkungsart einer tier- und pflanzenfreundlichen Stadtbevölkerung; der eigentliche – ‚objektive‘ – Grund ist ein struktureller, auf ökologisch-geographischen Faktoren beruhender Wirkzusammenhang (cause-effect correlation). Das wird klar, wenn man die aufgrund der Territoriumsgröße theoretisch zu erwartende mit der im Stadtgebiet tatsächlich festgestellten Populationsgröße bestimmter Schlüsselarten (zum Beispiel Brutvogelarten) vergleicht. Hören wir wieder den Biologen:

„Zur Vogelwelt ist zu sagen, dass ihr Artenreichtum mit der Flächengröße der Städte ansteigt. Doch der Flächeneffekt erklärt nur etwa die Hälfte der Artenvielfalt. Die allermeisten Städte liegen deutlich über dem ihrer Flächengröße gemäßen Erwartungswert […]. Dass dem so ist, liegt an der besonderen Vielfalt an Strukturen, die es in den Städten gibt. Was ist mit ‚Strukturvielfalt‘ (wissenschaftlich: struktureller Diversität) gemeint? Sie umfasst nicht allein die uns geläufigen Hauptbestandteile, wie Gebäude, Straßen und Verkehrstraßen, Gärten und Parks sowie die Gewässer in der Stadt, sondern für jede dieser Kategorien zahlreiche Detailstrukturen. […] Kein natürlicher Lebensraum erreicht in dieser Hinsicht eine vergleichbar hohe Strukturvielfalt. Das gilt wiederum grundsätzlich auch für das enorm dichte Netzwerk von Straßen und Trassen, die verbinden und trennen. […] Zu dieser Raumstruktur am Boden mit tausendfacher Wiederholung in dennoch nie gleicher Version kommt eine weitere Strukturierung in der Vertikalen hinzu. Von offenem oder kurzrasig gehaltenem Boden über angelegte Beete mit unterschiedlicher Bepflanzung bis zu knie-, brust- oder übermannshohen Hecken entlang der Umzäunung und unterschiedlich hohen Bäumen reicht das Strukturspektrum.“*

Man vergleiche damit die durchschnittliche agrarisch-industriell genutzte Landschaft außerhalb der Städte. Das Wort ‚Wüste‘, so gerne gebraucht, um Stadtlandschaften zu beschreiben (‚Betonwüste‘) – wäre es nicht zur Definition des flachen Landes (und wie es heute genutzt wird) viel besser geeignet? Ist nicht das Wort Agrarsteppe in diesem Zusammenhang – – – purer Euphemismus?

Schöne neue Welt der Städte? Ein Fazit. Unsere Überlegungen zur Welt im klimabedingten Krisenmodus waren von der Überzeugung ausgegangen, dass die urbane Landschaft wie keine zweite den generellen Zustand des Globus wie in einem Spiegel, ja wie im Zerrspiegel vergrößert, vergröbert wiedergebe. Wenn man sich aber die Antworten ansieht, welche ‚die Natur selbst‘ in Gestalt zahlreicher Lebewesen gibt, denen Städte offensichtlich lieber sind als ihre angestammten ländlichen Provinzen, dann muss man sich sagen: wir Urbanen jammern eindeutig auf hohem Niveau.

Doch umgekehrt betrachtet, passen Jeremiaden und Fasziniertsein von urbanen Lebensräumen eigentlich ganz gut zusammen – halbwegs ernst genommen wird man als pessimistischer Jeremias, als Prophet der Katastrophen nur in der Stadt (‚Stadt‘ als Synonym verstanden für jenen Ort, wo Kants Dictum vom ‚Ausgang aus selbst verschuldeter Unmündigkeit‘ mehr oder weniger gilt). Nur die urbane Lebens- und Denkungsart ist dünnhäutig genug, Gefahren so zu wittern (ich sage nicht: wahrzunehmen), dass sich Lösungen vielleicht gerade noch ausgehen. Auf dem flachen Lande – das weiß man seit Ur und Uruk, seit Babylon und dem antiken Rom – sind die Bärenhäuter zuhause. Soviel zum Thema Dickfelligkeit.

„Als Stadtbewohner mag der Mensch dem Klimawandel einigermaßen erfolgreich Tribut zollen. Auch außerhalb der städtischen Agglomerationen, in den stadtnahen oder stadtfernen, mehr oder weniger kultivierten Ruedos (ringförmigen Landschaftszonen) werden sich mit oder ohne des Menschen Zutun Floren- und Faunenelemente neu, das heißt klimagerecht formieren, mischen und einnisten. Je näher zu den megalopolen Gravitationszentren einer dicht besiedelten Menschenwelt diese ‚Ringe‘ und ‚Zwischenräume‘ zu liegen kommen werden, desto artifizieller und abhängiger von agro-kulturellen Systemen und Kreisläufen werden sie sein. So werden sich relativ kleinräumig gestaltete Landschaften, in denen sich Vieh- und Wildtierzucht* mit Ackerbau und Gartenbau mischen, nach außen graduell zu immer einförmigeren, großartigeren und vor allem menschenleeren Räumen wandeln, in denen nun tatsächlich einem alten Ideal des Tier- und Pflanzenschutzes entsprechend Natur ‚sich selbst überlassen‘ bleiben kann. Vielleicht sind solche Zwischenräume und Ränder nicht gefeit davor, sich in Grauzonen der Ausbeutung zu verwandeln. Was es dennoch mit Sicherheit geben wird: Tabuzonen des sozusagen wieder hergestellten Gleichgewichts. Und seien es auch nur einige tolerierte Zwischenräume, Naturkorridore als Verbindungsachsen von Biotop zu Biotop“ (Liedl 2022, 307 ff., Zitat leicht verändert, gekürzt).*

Man mag dieses Szenario für wahrscheinlich halten oder auch nicht. Im letzteren Fall müsste man freilich zur (Öko-)Logik postmoderner, vertikal verdichteter (Mega-)Städte vom Typus Singapur oder Seoul separat Stellung beziehen und erklären, wie angesichts der Perfektion, ökologischen Verträglichkeit, Nachhaltigkeit und Lebensfreundlichkeit des urbanen Zentrums eine Peripherie aussehen muss, um mit so viel Vorsprung auch nur einigermaßen mithalten zu können; wie sie als nicht-urbane, strukturarme Peripherie die Start- und Nischenvorteile der raumsparend, weil vertikal verdichteten, energieeffizient gestalteten, mit Infrastruktur überreich ausgestatteten Metropole  auch nur einigermaßen wettmachen kann. Die Stadtgeschichte der letzten  zweihundert Jahre scheint zu lehren, dass wachsende urbane Zentren zwar einerseits das Umland ‚zersetzen‘ – sprich die eigenen Strukturen krebsartig in dieses Umland hinaus verlängern (mit ökologisch nicht unbedingt negativen, wiewohl sicherlich oft ambivalenten Folgen) –, andrerseits aber jenseits dieser Grau- und Vermischungszone einen weiteren ‚Ring‘ erzeugen – man könnte auch von einem Vakuum-ähnlichen Zustand sprechen –, wo Verödung und Ausdünnung herrschen.

Die Agrargeschichte der industriellen Ära sekundiert dieser Erkenntnis – und liefert ein indirektes Argument für die Strukturgesetzlichkeit der Stadt-Land-Divergenz. In den letzten 100 Jahren haben sich die Hektar-Erträge (Beispiel: Weizen) um mehr als 400 Prozent gesteigert, gleichzeitig sank die Rendite um etwa 25 Prozent (Preisentwicklung bei Nahrungsmitteln: vgl. Rossi 2009, 114).*

Preisentwicklung Lebensmittel 1900–1990 | © Alessandro Rossi

So grob das Bild ist, das die Statistik hier bietet, die Aussage und deren Konsequenzen sind klar. Die als Basis für Ertragssteigerung unabdingbare Strukturbereinigung, ist gleich Vergrößerung der Anbauflächen bei gleichzeitiger Verödung des Landschaftsbildes, ist gleich Ausräumung der Landschaft bis hin zur sprichwörtlichen Agrarwüste, spiegelt strukturgesetzliche Vorgänge innerhalb eines ökonomischen Kalküls, zum Beispiel die abnehmende Profitrate. Diesen Vorgang – dass sich ein ökonomisches Gesetz auf einem ökologisch-landschaftlichen Zustand sozusagen eins zu eins abbildet, ja geradezu spiegelt – gibt es im urbanen Raum in dieser Form nicht.

Wie auch immer. Klimafitness im urbanen Raum bedeutet – egal, was dafür an Maßnahmen im konkreten Fall getroffen werden muss: wenn man damit Erfolg hat, erhöht sich die Attraktivität des ‚Weltbioms Stadt‘ abermals um ein gutes Stück. Was dann wohl auch gleichbedeutend ist mit der Vergrößerung des Abstands zu all jenen Biotopen (und Biomen), die über jene Start- und Nischenvorteile ihrer urbanen Nachbarn nicht verfügen.

Für die Menschen bedeutet das eine deutliche Verschiebung überkommener Lebensweisen und Verhaltensmuster. Die ‚Ringe‘ rund um die urbanen Groß-Zentren, also jene peripheren Übergangs- und Grauzonen mit ihren abnehmenden ökologisch-ökonomischen Qualitäten werden eines mit hoher Wahrscheinlichkeit sein: relativ menschenleer. Dünn besiedelt, wie sie dann sind, mag sich sogar so etwas wie eine ökologische Trendwende in und an ihnen ereignen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Möglicher Weise werden sie auch zu Spielwiesen einer privilegierten Klasse von Nutzern, die aus dem volkswirtschaftlichen Wertverlust ganzer Landstriche einen persönlichen Gewinn ziehen – Stichwort Luxus-Latifundie in garantiert ruhiger Lage. Den damit verbundenen enormen Aufwand für eine halbwegs passable Infrastruktur wird man sich eben ‚leisten‘, wie man sich Luxusyacht und Privatjet ‚leistet‘ – als fürs Prestige unverzichtbares Symbolisches Kapital.

Volkswirtschaftlich entscheidend hingegen ist die produzierend-konsumierende Masse; welche – wenn die Prognosen richtig liegen – um die Mitte des Jahrhunderts 7,5 Milliarden Stadtmenschen stark sein wird (drei Viertel der Weltbevölkerung). Für die Stadtlandschaft bedeutet das: genau hier und nirgendwo anders wird sich die Wertschöpfung abspielen. Und die Menschen selbst  (nebst der kopfstarken und artenreichen Mitbewohnerschaft aus dem Tier- und Pflanzenreich)? Werden sie an ihrem strukturierten und diversifizierten Lebensmittelpunkt sesshaft? Wird ihre Mobilität zu- oder abnehmen? Wie globalisiert wird diese neue Community of urban dwellers noch sein, wenn sich praktisch alles, was Homo sapiens an Voraussetzungen für Bonheur benötigt, vor Ort befindet? Vertikales Wachstum an Orten der kurzen Wege mag man ja auch so interpretieren, dass die zu ebener Erde zurückgelegten Distanzen ebenfalls eher kurz sein werden.

Die Fragen sind natürlich immer noch die selben: Wer gewinnt? Wer verliert? Wer verzichtet worauf? Und wer nicht – im neuen, kompakten, vertikalen Lebensraum Stadtlandschaft? Möglicher Weise werden sich Naturgenuss, Unterhaltung, Erholung – gesetzt, diese Kategorien sind bis dahin noch nicht verschwunden – nur mehr für die Wenigsten an fernen Ufern abspielen oder mit exotischen Orten verbinden. Wie gesagt … gut möglich, dass der Hang zur Sesshaftigkeit inmitten grüner Öko-Stadtlandschaften wächst. Man soll den Wert der guten Nachbarschaft nicht unterschätzen. Das wussten schon die alten Polis-Zivilisationen.

In der Kommunikation, also digital, ist man ja ohnedies von Geburt an postmodern.

Will sagen: Weltbürger.

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*Zur typischen Reaktion des Menschen auf die ‚Klimaschaukel‘ vgl. Gottfried Liedl: Ökologiegeschichte. Ein Reader zum interdisziplinären Gebrauch, Band 1: Konturen, Teilband 1/1 – Das Anthropozoikum. Turia und Kant: Wien – Berlin 2018, 90 ff.

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*Zur Stadtökologie vgl. Gottfried Liedl: Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte. Turia + Kant: Wien – Berlin 2022, 243 ff. (besds. 280 ff., 293 ff., 305 ff.)

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*Zur urbanen Artenvielfalt vgl. Josef H. Reichholf: Stadtnatur. Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen. Oekom-Verlag: München 2023.

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*Zur englischen Forstgesetzgebung vgl. John Manwood: Manwood’s Treatise of the Forest Laws. Edition: William Nelson. 4th corr. & enl. ed. London 1717.

*Zum post-industriellen Szenario stadtnaher Landschaften mit Game Farming (Literaturauswahl):

John Dawson Skinner: An appraisal of the eland as a farm animal in Africa. Animal Breeding Abstracts, 35 (1967), 177–186; John Dawson Skinner: Productivity of the eland: An appraisal of the last five years research. South African Journal of Science, 67| 12 (1971), 534–539; Günter Reinken: Damtierhaltung. 2., neubearbeitete Auflage. Stuttgart 1987; Markus Nuding: Potential der Wildtierbewirtschaftung für die Entwicklungszusammenarbeit. Studie, erstellt im Auftrag des Tropenökologischen Begleitprogramms (TÖB) der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Eschborn 1996; Christoph Schüle: Ökosystemare Aspekte von Wildtiernutzungsstrategien auf der Südhalbkugel. Inaugural-Dissertation, Fachbereich VI (Geographie | Geowissenschaften) der Universität Trier. Trier 2004.

* Zur Entwicklung der Agrarpreise: Alessandro Rossi: Agrarpreise. Wiederholt sich die Geschichte? In: AGRAR Forschung 16 | 4 (2009), 112–117.

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** Stadt und Land:

Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa – von der Eiszeit bis zur Gegenwart. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2010, 376 ff.;

Gerlind Weber: Der (strukturschwache) ländliche Raum in Österreich – eine Standortbestimmung. In: Hubert Christian Ehalt |  Josef Hochgerner | Wilhelm Hopf (Hg.): „Die Wahrheit liegt im Feld“. Roland Girtler zum 65. LIT Verlag: Wien 2006, 78–90, hier: 81 f.;

Gerd Sammer | Gerlind Weber et al.: MOVE – Mobilitäts- und Versorgungserfordernisse im strukturschwachen ländlichen Raum als Folge des Strukturwandels. Im Auftrag des Rektors der Universität für Bodenkultur sowie der Landesregierungen von Burgenland, Oberösterreich, Niederösterreich und Steiermark. Wien 2002.

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*** Moderne und postmoderne Architektur (Literaturauswahl):

Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts. München 1978 ff. [Bari 1960]; Kenneth Frampton: Die Architektur der Moderne. Eine kritische Baugeschichte. Stuttgart 1983 [London 1980]; Paul Goldberger: Wolkenkratzer. Das Hochhaus in Geschichte und Gegenwart. Stuttgart 1984 [New York 1981]; Thilo Hilpert (Hg.): Le Corbusiers „Charta von Athen“. Texte und Dokumente. Braunschweig – Wiesbaden 1984; Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 1980 [London 1977 ff.]; Charles Jencks: Spätmoderne Architektur. Beiträge über die Transformation des Internationalen Stils. Stuttgart 1981 [London 1980]; Philip Johnson: Texte zur Architektur. Stuttgart 1982 [Oxford 1979]; Le Corbusier (Schriften), hgg. von Willy Boesinger. Studio paperback: Zürich 1972 ff.; Le Corbusier: Städtebau, übers. u. hgg. von Hans Hildebrandt. Stuttgart 1979 [Reprint der Ausg. Stuttgart 1929]; Adolf Loos: Trotzdem. Wien 1982 [Unveränderter Neudr. der Ausg. Innsbruck 1936]; Nikolaus Pevsner: Europäische Architektur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1978 [Harmondsworth 1943]; Roland Rainer: Kriterien der wohnlichen Stadt. Trendwende in Wohnungswesen und Städtebau. Graz 1978.

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**** Monica Tomaschek: Das Schöpfwerk. Städtische Wohnhausanlage der Siebzigerjahre. Abschlussarbeit am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien (unveröff. Typoskript): Wien 1985.

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***** Hans-Jörg Bullinger | Brigitte Röthlein: Morgenstadt. Wie wir morgen leben. Hanser Verlag: München 2012.

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****** Hydroponik-Verfahren:

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Definitionen:

BIOM. Lebensgemeinschaft von Tieren und Pflanzen in einem größeren geografischen Raum.

BIOTOP. Durch bestimmte Pflanzen- und Tiergesellschaften gekennzeichneter Lebensraum; bzw. Lebensraum einer einzelnen Art.

Offenbar ist es dem modernen Menschen in die Wiege gelegt, Themen, die Jahrzehnte, möglicher Weise Jahrhunderte lang niemanden so richtig interessierten, plötzlich aufpoppen zu lassen und – aus meist schwer zu ergründenden Motiven – zu problematisieren. Immerhin ist es aber nicht ganz unwahrscheinlich, dass solch Lancieren neuer Themen mit einem Generationenwechsel zu tun hat. Intellektuelle Wortführer geben nicht nur neuen Ideen sondern auch neuartigen Idiosynkrasien – intellektuell verbrämten Vorlieben und Abneigungen, Lebensarten und Weltanschauungen – eine Plattform; mit einem Schlag offenbart sich die ‚Bildungslandschaft‘ als grundlegend verändert, und die so ganz anders formierte neue Generation von Bildungseliten setzt ihre Benchmarks. Diese neue Wort- und Themenführerschaft bildet sich in drei Phasen heraus. Anfangs werden die in Geltung stehenden Sichtweisen ignoriert und parallele Deutungsuniversen errichtet, dann folgt die Phase der Kritik, bei der das Herkömmliche als veraltet gebranntmarkt wird, um am Ende – wenn der Generationenwechsel definitiv vollzogen ist – offen bekämpft zu werden.

Um diese doch einigermaßen verblüffende Kehrtwende zu verstehen, muss man ein wenig ausholen – und nicht nur ein wenig sondern recht intensiv über gewsse ideologisch-technologisch-wissenschaftstheoretische Werkzeuge nachdenken, die schon lange bevor sie als gesamtgesellschaftliches Phänomen (‚neue Denkungsart‘) zu Tage traten, für sehr spezielle – nämlich militärische – Zwecke entwickelt worden waren. Man kennt dieses Phänomen seit den 40-er-Jahren des vorigen Jahrhunderts unter der Bezeichnung Kybernetik.  Nach einer eingängigen Definition ist das „die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und deren Analogie zur Handlungsweise von lebenden Organismen […]. [Man] vergleicht den Istwert [eines Systems …] mit einem Sollwert, [… wobei] eine Abweichung zwischen diesen beiden Werten [das System dazu veranlasst, sich selbst] so zu regulieren, dass sich der Istwert dem Sollwert angleicht.“* Praktisch und in der Maschinensprache ausgedrückt kommt hier das binäre (zweiwertige) Prinzip JA/NEIN beziehungsweise 0/1 (Istzustand erreicht/nicht erreicht) zur Geltung.

Auch dazu gibt es eine einfache und für den intellektuellen Hausgebrauch ausreichende Beschreibung: „Binärcodes lassen sich technisch sehr leicht abbilden und verarbeiten, z. B. durch Spannungen: Spannung liegt an → entspricht 1 oder logisch wahr, Spannung liegt nicht an → entspricht 0 oder logisch falsch. Diese kleinste Informationseinheit aus 1/0 bzw. wahr/falsch bezeichnet man in der Informatik auch als Bit. Durch logische Verknüpfung […] dieser einfachen Werte […] lassen sich komplexere, höherwertige Informationen abbilden.“** Im Vertrauen auf die behauptete universelle Anwendbarkeit auch jenseits der Maschinenwelt wollen wir den Spuren des kybernetischen Systems mit seiner binären Logik folgen – bis tief in die Menschenwelt hinein.

Kybernetisierung einer Generation. Was bedeutet die binäre Logik für die Gesellschaft? Statt einer raschen Antwort stellen wir eine Behauptung an den Anfang; vielmehr eine Negation. Was in den neuen Hermeneutiken (Hermeneutik als Erklärungsprozess verstanden), also in der vorhin beschriebenen zweiwertigen Welt des ENTWEDER – ODER nicht zum Tragen kommt, ist das Gesamthafte eines Systems. Die zur Erfassung ‚des Ganzen‘ (griech. ‚holos‘ = ‚ganz‘, ‚das Ganze‘) nötigen holistischen Methoden sind immer vergleichsweise mühsam, weil man mit ihnen Einzelphänomene sowohl als sie selbst als auch in Hinblick auf ein – allenfalls noch auszuarbeitendes – Ganzes anzusehen und zu untersuchen hat; zahlreich sind dagegen die separatistischen Anschauungen. In diesen gibt es – wir wechseln jetzt in die moralische Diktion – kein Jenseits von Gut und Böse; weder Grauzonen mit Übergängen zwischen Gut und Böse, noch ein Changieren von Gut und Böse. Was der separatistischen Anschauung also fehlt, ist ein Sensorium für die Komplexität des Ganzen und dessen Strukturen. Das würde eine Offenheit zur Zukunft hin bedeuten, und Zukunft ist nie eindeutig sondern zwei-, ja vieldeutig. Wo jedoch nichts offen bleiben darf, gibt es keine Zukunft: nichts und niemand bekommt eine Chance zu zeigen, was in ihm steckt. Schon sind wir mitten im Problem, um nicht zu sagen Dilemma.

Disjunktion statt Konjunktion. Das Denken in Differenzen (Gut und Böse, Weiß und Schwarz, Nützlich – Schädlich) ist keineswegs neu, neu ist sein ungeheuer erweiterter und vertiefter Geltungsbereich; diese Apotheose der Polarisierung (wenn man es denn so pathetisch ausdrücken mag) verdankt sich einer Entwicklung, die man ‚Kybernetisierung des Daseins‘ nennen könnte. Die Historikerin Andrea Komlosy beschreibt das gegenwärtige gesellschaftliche Sein (und nicht nur das gesellschaftliche) als gradezu vom binären Denken beherrscht (Komlosy 2023).***** Ein Denkansatz, dem zu folgen sich lohnt.

In diesem Szenario ist das strukturierte Ganze (das als solches gar nicht mehr wahrgenommen wird) längst in seine Teile zerfallen, aufgesplittert – wie man den Sachverhalt pointiert, möglicher Weise allzu pointiert beschreiben könnte – als ‚bits and bytes‘ in Form von Tausend und einer Ansicht, Tausend und einer Meinung, Tausend und einer Behauptung. Da gibt es keine Diskussion, nur mehr Konsens oder Widerspruch … Abstrakt gesprochen: Differenz ist zur entscheidenden hermeneutischen Kategorie geworden.

In der zweiwertigen Logik des ENTWEDER – ODER sind Entwicklung und Veränderung von Sachverhalten – beispielsweise die Vertauschung der Vorzeichen Plus und Minus – eine Denkunmöglichkeit. Ein Zustand, etwa die Zusammensetzung von Arten in einem gegebenen Biom, ist gemäß solch digitaler ist gleich zweiwertiger Logik niemals nur Momentaufnahme sondern immer schon die ganze Wahrheit. Bekanntlich dulden ganze Wahrheiten keine anderen Wahrheiten neben sich. Im Denken, das den Leitlinien der zweiwertigen Logik folgt, stehen Qualitäten notwendig gegeneinander, ohne jemals ineinander überzugehen; nicht einmal vermischen können sie sich. Komlosy: „Bei jedem digitalen Auswahlprozess erhebt sich das binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen.“

Wer schafft an? Statt linearem Herrschaftswissen kybernetische Optimierung. So unwillkürlich die Gesellschaft digital zustande gekommene ‚Wahrheiten‘ in sich aufnimmt und so selbstverständlich sie an deren Faktizität glaubt, so willkürlich sind deren Inhalte. Beinahe zufällig und auf Grund von eigentlich gleichgültigen Vorurteilen wählt die Öffentliche Meinung ihre Gegenstände aus. Im Falle der pflanzlichen und tierischen Invaders scheint es prinzipiell egal zu sein, welche Geschichte hinter deren Auftreten in der Umwelt steckt und welche biologische Rolle sie tatsächlich spielen. Vielmehr sind sie alle durchs digitale Nadelöhr gegangen und verdanken ihre gesellschaftliche Bedeutung (ihr mediales, oft auch juristisches Dasein) der Passgenauigkeit, mit der sie, um nochmals Komlosy paraphrasierend zu zitieren, im „digitalen Auswahlprozess [als] binäre 0 oder 1, Ja oder Nein, zur unendlich wiederholbaren Entscheidung über alternative Optionen“ taugen. Egal ob ‚guter‘ Fuchs (Spieler) oder ‚böser‘ Waschbär (Gegenspieler) – immer gilt es eine Entscheidung zu treffen, bei welcher der eine bleiben darf, der andere gehen muss. 0 oder 1, Fuchs oder Waschbär … und so weiter in endloser Kette virtuell austauschbarer Objekte, die zur Wahl stehen, nein: nach dem Zufallsprinzip aus dem Hut gezogen und dem verblüfften Publikum willkürlich zur Wahl gestellt werden. „Bist du dafür oder dagegen, dass der Einwanderer Waschbär den Einheimischen Fuchs verdrängt? Entscheide dich!“ „Ich will aber beide.“ „Das geht nicht.“

Die postmoderne, unter dem Szepter der  Kybernetik stehende Denkungsart ist alles Andere als das, was sich eine fröhliche Wissenschaft noch in den 60-er-, 70-er-Jahren des letzten Jahrhunderts von ihr erwartet haben mochte. Es kam genau umgekehrt, sie hat statt der erträumten, im weitesten Sinn ‚antiautoritär-demokratischen‘, von der Basis her kontrollierten und kontrollierbaren Richtlinien für Wissenschaft, Management und Politik – ein neues Setting der Macht für jene drei Bereiche gebracht. Wie denn auch nicht?  „Schließlich geht der Begriff ja auf das altgriechische ‚kybernetes‘ zurück, den Steuermann. Kybernetik steht dementsprechend für die Kunst des Steuerns und wird sowohl für technische als auch für politische Belange angewandt. Auch ‚Gouverneur‘ oder ‚Gouvernor‘ leitet sich davon ab“  (Komlosy).*****

Schon in den 70-er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Berliner Politikwissenschaftler Vincent August den Begriff technologisches Steuerungsdenken geprägt – es gibt bis heute keinen besseren, um den Wechsel  von den „Fortschritts- und Legitimitätsversprechen der Nachkriegsmoderne“ (Komlosy) hin zu deren Gegenmodell zu bezeichnen: dem Netzwerk- und Systemdenken. „Kybernetik verwandelte sich damit sukzessive von einem technischen Instrument für die Steuerung des Wachstums zu einer grundsätzlichen Infragestellung der Prinzipien, die die westliche Moderne geprägt hatten, insbesondere die Vorstellung eines durch kluge Politik geleiteten Staates, das damit verbundene Menschenbild des souveränen und mündigen Bürgers sowie den Glauben an ein von Linearität geprägtes Fortschrittsideal“ (ebd.).

Der Naturschutzgedanke war davon nicht ausgenommen. Ursprünglich ein dem Fortschritts-Theorem zwar skeptisch, aber nicht grundsätzlich feindselig gegenüberstehender ‚Wille zur Verbesserung der Welt‘ – als den man ihn bis zur kybernetischen Wende ansehen durfte –, zerplatzte sein Optimismus wie ein schöner Traum … und zerfiel in tausend separatistische Optionen, Möglichkeiten und Wege, aus denen man sich nach dem oben beschriebenen binären Auswahlprinzip (Null oder Eins) jeweils ausschließlich eine Option, ein Modell auszusuchen hatte und hat. Dass eine solche Reduzierung auf die eine Lösung („Eins tut not“, Lukas 10, 42) durch und durch autoritäre Modelle erzeugte und erzeugt – in unserem Fall eben Modelle eines fundamentalökologischen Naturschutzes –, verwundert nicht; zumindest dann nicht, wenn man dahinter die logische Konsequenz besagten Paradigmenwechsels erkennt.

Unfreiwillige Player in autoritären Szenarien. „Manchmal niedlich, manchmal fies.“ So beschreibt der populäre Eintrag im Netz jene Tier- und Pflanzenarten, die seit einiger Zeit das Interesse einer vordergründig Naturschutz-bewegten Öffentlichkeit erregen, weil sie im Konzept des Naturschutzes, nein, nicht als Gegenstand der Fürsorge sondern als Störfaktoren gelten (Link: Invasive Arten 1).*** Wo  immer man ins Weltweite Netz hineingreift, fördert man puncto ‚invasive Arten‘ mit Sicherheit mehr alarmistische als gelassen-objektive Beschreibungen, Beurteilungen und Definitionen zu Tage. Mittlerweile auch schon legistische – und zwar, wenig überraschend: Definitionen aus Sicht einer Limitierungs- und Verbotspolitik. Die Biologie hat den Paradigmen-, sprich Generationswechsel, von dem eingangs die Rede war, mitvollzogen: auch an dieser Front sind Alarmismus und dystopische Szenarien in der Überzahl. Vom klassischen Evolutionsgedanken, für welchen ‚Natur‘ die Bühne symbolisierte, auf der die Arten im Wandel ihrer Rolle (und je nachdem, wie gut sie diese spielen) auf- und wieder abtreten, scheint sich eine ganze Generation, die sich dann vorsorglich gleich einmal ‚die letzte‘ nennt, definitiv verabschiedet zu haben. Nicht Bühne sondern Schlachtfeld ist ihr die Natur (und vergessen wir nicht: es handelt sich dabei um eine Alternativlosigkeit; eine Alternativlosigkeit unter dem Siegel nicht der Verschwiegenheit, sondern der binären und digitalen Entscheidung).

Der Begriff ‚Schlachtfeld‘ ist hier wirklich am Platz. Invasive Arten implizieren eine Alternative – Sieg oder Niederlage: „Der Begriff Invasion stammt aus dem Kriegskontext, ist aber […] im Umweltschutz etabliert. Invasive Arten sind solche, die aus einer anderen Region oder Weltgegend stammen und sich im neuen Lebensraum nicht nur etablieren, sondern sich so stark vermehren, dass sie einheimische Arten verdrängen, ihnen Licht und Nährstoffe streitig machen oder diese mit eingeschleppten Krankheitserregern infizieren. Laut dem Report des Biodiversitätsrats stellen sie eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, die unterschätzt und häufig nicht ernstgenommen wird“ (Link: Invasive Arten 2). Ohne damit über den inhaltlichen Aspekt im Positiven oder Negativen etwas auszusagen, sei doch zur Form („Invasive Arten spielen eine Schlüsselrolle beim Artensterben, warnt der Weltbiodiversitätsrat“) eine Anmerkung erlaubt: mehr Alarmismus geht nicht.

Objektive Gründe ... für eine Sprache der Gewalt? An Beispielen von Störungen durch invasive Arten herrscht kein Mangel, nicht darin liegt das Überraschungsmoment. Interessant ist die Sprache, mit der dieser Sachverhalt beschrieben wird – ein Tonfall, ein … Zungenschlag: „Der Salamanderfresser, ein Pilz, rafft derzeit Salamander-Bestände in Deutschland dahin. Er löchert die Haut der Lurche. Viele befallene Tiere sterben schon eine Woche nach der Infektion. Seine Heimat ist Asien, aber durch den weltweiten Tierhandel ist er vermutlich eingeschleppt worden. Im Wattenmeer an der deutschen Nordseeküste wimmelt es von scharfkantigen Pazifischen Austern. Ursprünglich wollte man sie als Delikatesse in abgeschotteten Zuchtbetrieben päppeln, etwa auf Sylt seit den 80er-Jahren. Doch ihre Larven brachen aus und überwucherten Miesmuschel-Bänke. […] Im Bodensee und am Genfer See explodieren die Bestände der Quaggamuschel und verdrängen andere Arten. Stellenweise siedeln Zehntausende Tiere auf dem Quadratmeter. Sie verstopfen Trinkwasser-Förderleitungen und verursachen dadurch Schäden in Millionenhöhe. Die Quaggamuschel stammt aus dem Schwarzmeerraum“ (Link: Invasive Arten 2). Es wird dahingerafft, eingeschleppt, sodass es von scharfkantigem Zeug nur so wimmelt; aber man hat die Invasoren ja aufgepäppelt, nun sind sie ausgebrochen und überwuchern alles. Das unerwünschte (unwerte) Leben explodiert und verdrängt Wertvolles, Erwünschtes. Zu Zehntausenden drängen die Invasoren aus dem Schwarzen Meer in den Bodensee. Ein Kriegsszenario.

Erster vorläufiger Eindruck: „Niedliche Waschbären, duftende Kanadische Goldruten, edle Pazifische Austern …“ Aber der Schein trügt, hinter der ‚Niedlichkeit‘ lauert Gefahr. „Von insgesamt 37.000 Pflanzen, Tier- und Mikrobenarten weltweit, die sich in der Fremde etabliert haben, gelten mehr als 3.500 Arten als invasiv. Invasive Arten spielen dem bislang umfassendsten Bericht des Weltbiodiversitätsrats zufolge eine Schlüsselrolle beim Artensterben. Sie stellen eine ‚ernste globale Bedrohung‘ dar, so der Bericht“ (Link: Invasive Arten 2).

Alarmismus oder reale Gefahr? Beides. Unsere ganz und gar nicht binäre Antwort mag die Alarmschlagenden befremden; doch so aus der Mode gekommen kann unser Hauptargument gar nicht sein, dass es nicht immer noch sticht. Es lautet: Was an einem Ort die Wirkung A entfaltet, kann schon wenige Meilen weiter die gegenteilige Wirkung B zeigen. In dieser Konstellation ist A genau nicht einwertig. Und sein Verhältnis zu B somit nicht-binär. Wem dies zu spekulativ ist, findet die passenden Beispiele in der Globalgeschichte des Artentransfers – eines Zweigs der Natur- und Ökologiegeschichte, der, um es neudeutsch zu sagen, deutlich underrated ist (vgl. Liedl 2024, 179 ff.)***** Beispielsweise lässt ein und dieselbe genetische Flaschenhals-Situation (die Ausgangspopulation einer Art besteht aus wenigen, nahe miteinander verwandten Exemplaren) zwei gegenteilige Lösungen zu, je nachdem, wo sich das Ereignis abspielt. Auf einer Insel lässt sie die neue (Unter-)Art zur optimal angepassten Spezialistin werden, die darum aber auch recht unflexibel ist gegenüber ökologischen Veränderungen; auf dem Festland macht dasselbe Ereignis die betreffende Spezies genetisch flexibel und ökologisch resilient (vgl. McDonald 1981, 227 ff., 248 ff., 262 f.)*****

Nicht dass wir hier einen Verdacht schüren wollen gegen Zahlenangaben aus dem alarmistischen Eck – oder vielmehr doch. Das beliebte Beispiel der durch invasive Arten angerichteten ‚Schäden‘ – handelt es sich dabei um vorgebliche (aus einer Situation in eine andere, nicht vergleichbare Situation hinein-extrapolierte) oder um tatsächliche Schäden? Ein Satz wie der folgende erscheint doch reichlich lapidar: „Der Schaden, den invasive Arten verursachen, hat sich seit den 1970er-Jahren jedes Jahrzehnt vervierfacht: Der Weltbiodiversitätsrat beziffert die Kosten auf gut 420 Milliarden US-Dollar“ (Link: Invasive Arten 2). Das gilt auch für den Report der Vereinten Nationen, welcher „zeigt, dass invasive Arten […] in 60 Prozent aller beobachteten Fälle […] in der Vergangenheit ein wichtiger Faktor gewesen sein sollen, wenn Pflanzen- oder Tierarten verschwunden sind“ (ebd.); ja, „sein sollen“ – möglicherweise. Möglicherweise aber auch nicht. Hier wird die Beweiskette nicht leicht zu schließen sein. Von den meisten Aussterbe- oder Ausrottungsereignissen kennt man gerade einmal das Faktum selbst. Und dass es stets die neuen, notabene ‚invasiven‘ Arten seien, die zu einer Biodiversitätkrise führen sollen (ebd.), ist nicht wahrscheinlicher als die umgekehrte Interpretation: Dass die Erfolge neuer Arten nicht Ursache sondern Ergebnis einer Krise sind. Zumal, wie es im Bericht ebenfalls heißt, diese Krise „durch Zerstörung natürlicher Lebensräume sowie Übernutzung durch Wilderei noch verschärft wird“ (Link: Invasive Arten 2).

Hier wollen wir innehalten. Niemand leugnet die Gefahren, die sich aus abrupten Änderungen des Biodiversitätsgefüges gerade auch für den Menschen ergeben – jüngstes Beispiel das neue, europäische Verbreitungsgebiet der Asiatischen Tigermücke,**** welche – jedenfalls in ihren tropisch-subtropischen Herkunftsgebieten – Krankheiten wie Denguefieber oder West-Nil-Fieber überträgt. Aber wer hat denn diese Änderungen des Biodiversitätsgefüges in erster Instanz herbeigeführt? Die Mücke wohl kaum – Umweltveränderungen, die tropisch-subtropischen Lebewesen ganze neue Biotope eröffnen, übersteigen die Kräfte selbst eines Dämons von Insekt. „Invasive Pflanzenarten wie die Ambrosia aus den USA, die sich mittlerweile in Europa ausgebreitet haben, produzieren nicht nur sehr viele und hochallergene Samen, sondern blühen spät und verlängern damit die Pollen-Saison für Allergiker bis in den Herbst hinein“ (Link: Invasive Arten 2) – aber gewiss doch, nur … es war nicht die Pflanze, die alles aus dem Weg geräumt und den Boden so degradiert hat, dass außer ihr selbst kaum noch etwas darauf gedeihen kann, geschweige denn die schon vorher verschwundenen ‚Autochthonen‘. Nicht die Pflanze, sondern …?

Kriegsmetaphern, Formeln und Formen von ‚Bekämpfung‘. Die von Ökologen, ja Naturschützern zuletzt immer häufiger und lauter gestellte Frage: „Wie lassen sich invasive Arten bekämpfen?“ könnte aus psychologischer Sicht auch auf Verdrängung deuten. Wenn der Krug in Scherben auf dem Boden liegt, tagt das Scherbengericht. Aber wer hat den Krug zerbrochen? „Aus Sicht der Autorinnen und Autoren des Reports sind die Gegenmaßnahmen, die bisher ergriffen werden, grundsätzlich ungenügend. Fast die Hälfte aller Länder unternimmt gar nichts gegen biologische Invasionen“ (Link: Invasive Arten 2). Gar nichts gegen die Invasionen? Sollte es nicht heißen ‚Gar nichts gegen die Ursachen der Invasionen?‘– – – Die hier zitierten Wissenschaftler „glauben aber, dass es möglich ist, bei der Bekämpfung invasiver, gebietsfremder Arten Fortschritte zu erzielen“ (ebd.). Aufmüpfige Frage, die Zweite: Wäre es nicht ihre vordringliche Aufgabe als Biologen, Umweltexperten und so weiter, sich Gedanken prinzipieller Natur zu machen? Statt den ungeschoren bleibenden Verursachern der Misere nützliche Handlangerdienste  zu leisten? Fragen eines denkenden Arbeiters, frei nach Bertold Brecht …

„Aber auch Ausrottung, Eindämmung und Kontrolle sind in bestimmten Situationen wirksam“ (ebd.). Sowie Machtspiele und Verbotspolitik: „Bei Arten, die als besonders invasiv gelten, müsse über Besitz- und Vermarktungsverbote nachgedacht werden, um der Verbreitung zuvorzukommen, [… und] wenn Ausrottung nicht mehr möglich ist, sind Management-Maßnahmen gefragt. Dann geht es darum, die Verbreitung zu kontrollieren. Das gelingt nicht immer […]. Jährlich wird ein großer Anteil an Waschbären**** […] geschossen, trotzdem bleibt der Bestand relativ stabil“ (Link: Invasive Arten 2). Genug zitiert. Durch Wiederholung des Alten lernt man nichts Neues.

Hören wir zum Schluss ein paar Stimmen der Vernunft und der Gelassenheit. „Heute kennt man über 37.000 Pflanzen-, Tier- und Mikrobenarten, die sich in der Fremde etabliert haben. Von ihnen sind laut dem Report mehr als 3.500 invasiv, das heißt, sie haben negative Auswirkungen auf Ökosysteme, auf die menschliche Gesundheit und die Nahrungsmittelversorgung. Die meisten Neuzugänge bereiten also keine Probleme, sondern finden im Laufe der Zeit ihre ökologische Nische und werden zum Bestandteil der einheimischen Vegetation“ (NABU – Naturschutzbund, Website, vgl. Link: Invasive Arten 2). Und noch deutlicher: „Ökosysteme, die nicht mehr intakt sind, machen es Neophyten – also gebietsfremden Pflanzen – allerdings leichter, sich anzusiedeln. Weitgehend intakte Biotope können sich hingegen vergleichsweise gut selbst regenerieren und beherbergen meistens weniger Neophyten“ (NABU, Website). Das klingt doch schon gleich ganz anders.

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Mensch:

* Kybernetik 1

** Kybernetik 2

Natur:

*** Invasive Arten 1

*** Invasive Arten 2

**** Tiere:

Tigermücke

Marienkäfer

Buchsbaumzünsler

Hornisse

Krallenfrosch

Ochsenfrosch

Jagd 1: Waschbär & Co.

Jagd 2: Nutria

Jagd 3: Nilgans

***** Literatur:

Komlosy 2023 = Andrea Komlosy: Freiheit von Wissenschaft und Sprache: Über das eisige Unverständnis zwischen den Lagern. Telepolis, Beitrag vom 12. November 2023.

Link

Liedl 2024 = Gottfried Liedl: Der Mensch ist ein Beutegreifer. Unzeitgemäßes zur Ökologie. Ökologiegeschichte Online, Band 1. Wien 2024.

Link

McDonald 1981 = Jerry N. McDonald: North American Bison. Their Classification and Evolution. Berkely – Los Angeles – London 1981.

Man wird mir vielleicht raten wollen, mit dem Schwelgen in Erinnerungen aufzuhören. Es sei naiv, so zu tun, als wären Zeiten des Aufbruchs und der guten Absichten – Zeiten utopischer Strömungen, die sich ‚Verbesserung‘ (möglicher Weise sogar der Welt) an die Fahnen hefteten – nicht schon immer auch zynische Zeiten gewesen. Hermann Hesse in Amerika?* Ein deutscher Spätromantiker und Wandervogel als Steppenwolf? Wiederentdeckt von einer Jugend mit ungewaschenen Füßen und langen Haaren, die irdische Paradiese für machbar hält? Nun – sentimental mag sie gewesen sein, die Aufbruchstimmung der schnellen Jahre einer jugendkultigen Umweltbewegung; zynisch war sie nicht. Also gut – noch nicht.

Wissen auf Rädern – The Whole Earth Truck Store. Der amerikanische Sachbuchautor Andrew Kirk (Counterculture Green) betont den praktisch-reformistischen Ursprung des Whole Earth Catalog. Er erinnert an den (man ist versucht zu sagen ‚amerikatypischen‘) Umstand, dass dem emblematischen Buch das emblematische Automobil vorausgegangen ist. 

„Whole Earth Truck Store“ hieß das mobile Labor, ein Lastwagen der Marke Dodge, Baujahr 1963, mit der sich im ‚Revolutionsjahr‘ 1968 der damals 29-jährige Steward Brand und seine Frau Lois auf einen „Kommunal-Roadtrip“ begaben, „in der Absicht, zu den verschiedenen Bildungsmessen im Land zu reisen. Der Truck war nicht nur ein Geschäft, sondern auch eine alternative Leihbibliothek und ein mobiler Mikrobildungsdienst“ (Wikipediaeintrag).**** Selbst eine Art Hippie, verkaufte Brand seiner Peer Group praktische Utopie – seine Angebote nannte er tools, „Werkzeuge“ –, und sein Hauptangebot, sein „meistverkauftes Werkzeug war […] der von ihm kommentierte Katalog voll mit Werkzeugen, die nicht in seinen LKW passten“ (Kevin Kelly, Herausgeber späterer Ausgaben des Whole Earth Catalog: Wikipedia, ebd.).**** Wie man sieht, fällt nichts fertig vom Himmel, auch nicht ein genialer Katalog.

Der „Truck Store“ ließ sich schließlich in Menlo Park, Kalifornien, nieder. Dort entstanden „immer größere Versionen des Werkzeugkatalogs“ (Kevin Kelly). Und eines schönen Tages war sie dann selbst da, die Ausgabe # 1 des Whole Earth Catalog. An dieser Stelle halten wir inne, um den Blick auf das zu richten, was Truck Stores und Kataloge der geschilderten Art überhaupt erst möglich gemacht hat: die optimistische Geschichte einer Umweltbewegung in Kalifornien, die zu Steward Brands Zeiten schon ein dreiviertel Jahrhundert alt war. Begonnen hatte sie (wenn man denn unbedingt des symbolträchtigen Anfangs bedarf) mit der Gründung eines Vereins namens Sierra Club.

Der Sierra Club … Naturschutz als Gesellschaftsvertrag. Der Sierra Club ist die älteste und größte Naturschutzorganisation der Vereinigten Staaten. Er wurde am 28. Mai 1892 in San Francisco vom Naturschützer John Muir sowie einigen Professoren der University of California, Berkeley, und der Stanford University gegründet. Nach eigenen Angaben hat der Club heute etwa 2,4 Millionen Mitglieder in den USA und weitere 10.000 Mitglieder in Kanada.

„Zweck des Sierra Clubs sind Erkundung, Genuss und Schutz der wilden Orte der Erde; er möchte den verantwortlichen Umgang mit dem Ökosystem der Erde und den Ressourcen üben und fördern; er möchte die Menschheit dazu erziehen und dafür gewinnen, die Qualität der natürlichen und menschgemachten Umwelt zu erhalten beziehungsweise wiederherzustellen; und alle rechtmäßigen Mittel zur Realisierung dieser Ziele zu nutzen.“ Aus der Präambel des Gründungsdokuments.

In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens machte sich der Verein vor allem für die Schaffung von Nationalparks in den USA stark. Verdienstvoll war auch sein Kampf für den Schutz der Mammutbäume und die Verhinderung des Baus des Echo Park Dam im Dinosaur National Monument in Utah, und das zu einer Zeit (um 1950), als Umweltthemen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielten und technische Großprojekte überall begrüßt wurden. Seit den 1960er Jahren setzt sich der Club auch für die Einführung von Umweltstandards ein; Gesetze wie der United States Clean Air Act, der Toxic Substances Control Act oder der Surface Mining Control and Reclamation Act von 1977 verdanken ihre Existenz zu einem guten Teil der Öffentlichkeitsarbeit des Sierra Club.

In Anlehnung an den berühmten Gesellschaftsvertrag der Aufklärung (Jean-Jacques Rousseau: Du contrat social ou Principes du droit politique) könnte man das Wirken des Sierra Club (und seiner Nachfolger im Geiste) als einen ‚anderen‘ Gesellschaftsvertrag, einen der Spätaufklärung und der Postmoderne bezeichnen, worin die Gesellschafter nicht nur einer einzigen Art (nämlich Homo sapiens) angehören.*** Einen solchen artüberschreitenden contrat social beförderten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auch einzelne herausragende Persönlichkeiten der Intellektuellen- und Wissenschaftler-Szene; auch dies eine Bedingung der Möglichkeit, dass educational truck stores durch die Lande tingeln … Wir sind und bleiben beim Thema.

The good American: Wissenschaft. Everything is connected to everything else. Der US-amerikanische Biologe und Ökologe Barry Commoner, Autor mehrerer einflussreicher Sachbücher über Umweltschutz,** gilt als einer der führenden frühen Vertreter der modernen (nord)amerikanischen Umweltbewegung. So steht es im Netz.**** Als  Professor für Biologie (Washington University, St. Louis, ab 1947), als Professor für Geo- und Umweltwissenschaften (ab 1981, Queens College, City University of New York) blieb Commoner schwerpunktmäßig Pflanzenphysiologe, aber mit untrüglichem Gespür für die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Gesellschaft. Im von ihm selbst gegründeten Center for the Biology of Natural Systems gab es die ersten umfassenden Forschungen zu Ökosystemen.

The good American: Aufklärung. Barry Commoner (auch das steht im Netz und ist somit nicht nichts sondern common sense) gilt als einer der Begründer der modernen amerikanischen Umweltbewegung, also jener zweiten Welle, jenes Relaunch um 1950, der sich durch eine revidierte Schwerpunktsetzung auszeichnete. Neue Gesichtspunkte waren etwa die Atomwaffentests: Commoner gründete 1959 das Greater St. Louis Citizens’ Committee for Nuclear Information, dessen Untersuchungen für die Atomlobby verheerend waren und wohl in John F. Kennedys neue Strategie mit eingeflossen sind (1963 Unterzeichnung des Moskauer Atomstoppabkommens). „Commoners Fähigkeit, Wissenschaft einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie daran teilhaben zu lassen, trug wesentlich zum politischen Erfolg der Untersuchung bei.“ ****

Als Umweltwissenschaftler führte er ganzheitliche Sichtweisen in die Theoriebildung ein, was zu ganzheitlichen Verfahren führte, die er in der Forschung anwenden konnte. Dieser Holismus war ein absolutes Novum für die auf empiristisch-reduktionistische Methoden vertrauende Naturwissenschaft seiner Zeit.

Seine viel zitierten (weil auch witzigen) ökologischen Gesetze, erstmals veröffentlicht im Buch The Closing Circle von 1971, zwei Jahre später erschien die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Wachstumswahn und Umweltkrise“,** lauten: Erstens, „Alles steht mit allem in Verbindung“ (Everything is connected to everything else); zweitens, „Alles muss irgendwo bleiben“ (Everything must go somewhere, also: Glaubt nicht, irgend etwas unter den Teppich kehren zu können); drittens, „Die Natur weiß es besser“ (Nature knows best); viertens, „So etwas wie Gratismahlzeiten gibt es nicht“ (There is no such thing as a free lunch).

Barry Commoner war Gründer der Umweltpartei Citizens Party. Bei der Präsidentschaftswahl 1980 trat er als Kandidat für diese Partei an. Er erhielt knapp 0,3 % der abgegebenen Stimmen. Nun ja. Viel ist anders. Aber … Everything is connected to everything else. Da nach diesem Satz auch die Wenigen mit den Vielen verbunden sind, wäre das … ein Hoffnungsschimmer?

Everything is connected to everything else. An diesen Satz knüpfte der Whole Earth Catalog an. Besonders in pragmatischer Hinsicht. Der Katalog von 1968 gliederte sich in sieben große Abschnitte: Ganze Systeme verstehen; Behausung und Landnutzung; Industrie und Handwerk; Kommunikation; Gemeinschaft; Nomaden; Lernen. In jedem Abschnitt wurden die besten Werkzeuge und Bücher zusammen mit Bildern, Rezensionen, Anwendungen, Preisen und Lieferanten zusammengestellt und aufgelistet. Holistisch war auch die „Werkzeug“-Definition. Es gab informative Hilfsmittel wie Bücher, Karten, Fachzeitschriften, Kurse. Es gab Gartengeräte, Tischler- und Maurerwerkzeuge, Schweißgeräte, Kettensägen, Glasfasermaterialien, Zelte, Wanderschuhe und Töpferscheiben. Es gab sogar frühe Synthesizer und Computer.

Im aufgeschlagenen Zustand offenbarte der Katalog seinen hybriden Charakter: Links Textbuch, Lehrbuch, Enzyklopädie  –  rechts Marktplatz der Dinge und Waren. So konnte man beispielsweise auf der linken Seite Texte und Illustrationen aus Joseph Needhams Science and Civilization in China abgedruckt finden, mit einem astronomischen Glockenturm oder einer ausführlich kommentierten Kettenpumpen-Windmühle. Auf der rechten Seite präsentierte sich dann die Ware selbst – ein Fachbuch der modernen Technologie für Anfänger, inklusive Rezension. An anderer Stelle bespricht die Rückseite Bücher über Buchhaltung und Nebenjobs, während auf der Vorderseite ein Artikel steht, in dem Menschen die Geschichte einer von ihnen gegründeten Kreditgenossenschaft erzählen. Auf einem weiteren Seitenpaar werden verschiedene Kajaks, Schlauchboote und Hausboote dargestellt und besprochen.

Als Kind ihrer Zeit trat die Publikation alles andere als schüchtern auf. Mehr ist mehr oder Nicht kleckern, klotzen: „Die übergroßen Seiten hatten ein Format von 28 x 36 cm (11 x 14 Zoll). Spätere Ausgaben waren mehr als einen Zoll dick. […] Der sogenannte ‚Last Whole Earth Catalogue‘ (Juni 1971) gewann den ersten U.S. National Book Award in der Kategorie ‚Contemporary Affairs‘. Es war das erste Mal, dass ein Katalog eine solche Auszeichnung erhielt“ (Netzeintrag).****

Die Veröffentlichung des Katalogs fiel mit dem Höhepunkt einer alternativen Strömung, Geisteshaltung, Denkungsart zusammen, die man als eine Fusion von Experimentalismus mit Do-it-yourself-Allüren beschreiben könnte, und mit der die typische Gegenkultur – nicht nur die amerikanische – seit jeher verbunden ist. Angesprochen wurden also die Schwarmintelligenz des Movements, aber auch der einzelne Kreative, der alternativ lebende Outdoor-Mensch in seiner Landkommune. Wenig verwunderlich, dass der Whole Earth Catalog zum Vademecum einiger Kreativer wurde, die ein Ding entwickelten, das sich Drop City nannte.

Drop City, Mutter aller Landkommunen. Das digitale Gedächtnis hat in bündiger Form folgende Fakten, als der Überlieferung wert, in die Cloud gestellt: „Drop City war eine Künstler-Community der Gegenkultur, gegründet 1960 in der Nähe der Stadt Trinidad im Süden Colorados. Bekannt geworden als ‚erste ländliche Hippie-Kommune‘, wurde der Ort im Jahre 1979 wieder aufgegeben und verlassen.“ ****

Namen sind, entgegen landläufiger Meinung, keineswegs Schall und Rauch. Drop City liefert den vierfachen Beweis in Gestalt seiner Gründerväter und -mütter sowie deren Namen: Gene Bernofsky („Curly Benson“), JoAnn Bernofsky („Drop Lady“), Richard Kallweit („Larry Lard“) und Clark Richert („Clard Svenson“), allesamt Kunststudenten und Filmemacher der Universitäten Kansas und Colorado. Für das Projekt eines ‚lebenden‘, dynamischen Gesamtkunstwerks – besagte Drop Art (die von manchen auch shit, ‚Kot‘ genannt und in Happenings, ‚Ereignissen‘ à la John Cage, Robert Rauschenberg, Allan Kaprow oder Buckminster Fuller präsentiert wurde) – hatte man ein 7 Acres (28.000 m2) großes Stück Land gekauft. Dorthin pilgerte bald eine ansehnliche Schar interessierter Fans. Inspiriert von den architektonischen Ideen Buckminster Fullers und Steve Baers bauten die Bewohner aus geometrischen Platten, die sie aus Autodächern herausschnitten, sehr typische kuppelförmige Behausungen:

Wohnhaus in Drop City © Archive / Drop city

Der Höhepunkt des Ruhms von Drop City war das Joy Festival im Juni 1967, das Hunderte von Hippies anzog, von denen einige blieben. Zu den zahlreichen innovativen Unternehmungen, die aus Drop City hervorgingen, gehören – um nur drei zu nennen – ein frühes Solarenergieunternehmen, die Künstlergruppe Criss-Cross, die in den 1970er Jahren in New York und Colorado aktiv war, und in den frühen 1980er Jahren „die wichtige Entdeckung einer kubischen Fusion sich durchdringender fraktaler Tetraeder“ durch den Objektkünstler Richard Kallweit („Working with mathematical patterns“).****

Von Drop City selbst ist außer einigen Trümmern und Gebäuderesten nichts geblieben. 1979 war der Ort aufgegeben worden; die Mitglieder der gemeinnützigen Organisation, in deren Obhut das Projekt damals stand, hatten beschlossen, das Gelände an den Rancher von nebenan zu verkaufen. Die letzte der ikonischen Kuppeln wurde erst Ende der 1990er Jahre vom Besitzer einer LKW-Reparaturwerkstatt, die sich heute auf einem Teil des Geländes breitmacht, abgerissen. Sic transit gloria mundi.

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* Hermann Hesse in Amerika: „In den bewegten sechziger Jahren wurde das Werk [Der Steppenwolf] zum Kultbuch einer Generation, einem Buch, das junge Leser begeisterte […]. Die Wirkung hält seitdem unvermindert an, so dass Hesse auch mehr als 60 Jahre später aufgrund seiner ethisch-spirituellen Sichtweisen enorm populär ist. […] In den USA wurde der Steppenwolf in den 1960er Jahren als unmoralisch mehrfach aus Bibliotheken entfernt. In Colorado wurde dem Roman vorgeworfen, er propagiere Drogenmissbrauch und sexuelle Perversionen. Infolge dieser Umstände wurde eine neue umfangreiche Hesse-Rezeption während der 60er und 70er Jahre in Amerika und Deutschland ausgelöst“ (Wikipedia – oder Wie man es auch sagen kann).

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** Barry Commoner, Schriften (Auswahl):

- Science and Survival. Viking Press, New York 1966.

The Closing Circle. Nature, Man, and Technology. New York 1971.

Wachstumswahn und Umweltkrise. Einführung von Klaus Mehnert. Bertelsmann 1973, ISBN 3-570-04596-X.

Energieeinsatz und Wirtschaftskrise. 1977, ISBN 3-499-14193-0 (englisch: The Poverty of Power: Energy and the Economic Crisis. New York 1976).

Radikale Energiewirtschaft : konkrete Kursänderung in der Energiepolitik. 1980, ISBN 3-922594-04-2 (englisch: The Politics of Energy. New York 1979).

Making Peace With the Planet. Pantheon Books, New York 1990, ISBN 0-394-56598-3.

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*** Kritische Nachbemerkung zum Sierra Club. Wie zum klassischen Gesellschaftsvertrag die Guillotine der Französischen Revolution mitgedacht gehört, so auch zur postmodernen Umweltbewegung ihre spezifische Versuchung, ihr typischer Sündenfall: Käuflichkeit. Im Jahr 2008 hat den Sierra Club der Fluch des Pragmatismus ereilt. In einem Abkommen mit dem Chemiekonzern Clorox (2004 von der Public Interest Research Group als einer aus dem „gefährlichen Dutzend“ von Chemiekonzernen bezeichnet) verpflichtete sich der Club, eine Reihe von Clorox-Produkten zu bewerben. Der Vertrag brachte dem Club Einkünfte in Höhe von 1,3 Millionen US-Dollar … Zwischen 2007 und 2010 nahm dann die Erdgas-Industrie den Platz der Chemieindustrie ein und spendete 25 Millionen US-Dollar. Größter ‚Unterstützer‘ war Chesapeake Energy, der seinen Rohstoff unter anderem mit dem besonders umweltschädlichen Fracking aus der Erde holt. Der für diese Verträge verantwortliche Vorsitzende des Sierra Club trat im November 2011 zurück.

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**** Links: Der Steppenwolf; The Whole Earth Catalog; Sierra Club; Barry Commoner; Drop City; Richard Kallweit; Mathematical Patterns

All the leaves are brown (all the leaves are brown) / and the sky is gray (and the sky is gray) / I've been for a walk (I've been for a walk) / On a winter's day (on a winter's day) / I'd be safe and warm (I'd be safe and warm) / If I was in L.A. (if I was in L.A.) / California dreamin' (California dreamin') / On such a winter's day (The Mamas and the Papas, 1965)

Als ich mich als grüner Junge, unreif und naiv, mit einer mir heute mythisch vorkommenden Verve aufs Abenteuer der Neuen Welt einließ (in der sympathischen, nämlich kanadischen Varante) und studierend, Überland-Transporte begleitend, Seniorenheimen als Mädchen für alles dienend, Bauarbeitern zur Hand gehend und im Dienst der lokalen Naturschutzbehörde auf einsamen Hochständen den Horizont nach Rauchsäulen absuchend das weite Land meiner Sehnsüchte und Träume erkundete, fiel mir eines Tages das seltsamste Buch in die Hände, das mir bis dahin untergekommen war – und heute kann ich sagen, dass es tatsächlich das seltsamste Buch ist, das einem wie mir unterkommen konnte.

Der schöne Name des Wälzers: The Whole Earth Catalog. Großformatig und asketisch, mit seinem rauen Papier und groben Druck irgendwie archaisch, auf jeden Fall aus der Zeit gefallen wirkend, war es ganz im Gegenteil das Zeitdokument schlechthin. Die folgenden Zeilen sind diesem Dokument, seinen Meisterdenkern und Followern gewidmet.

„Stay hungry. Stay foolish“: The Whole Earth Catalog. Am 1. September 1968 erschien die erste Nummer gleich mit einem optischen Paukenschlag („optischer Paukenschlag“, eine zugegebener Maßen schräge Metapher, doch einem zugegebener Maßen schrägen Produkt wohl angemessen): Die erste Nummer des Whole Earth Catalog zeigte auf ihrem Cover das aus dem Weltall aufgenommene Farbbild der Erde, ein digitales Bildmosaik, das 1967 als eines der ersten realen Abbilder des Blauen Planeten vom Satelliten ATS-3 aufgenommen worden war.

The Whole Earth Catalog # 1 (1968)  © Wikipedia

Wie wir lesen, „war der Whole Earth Catalog (WEC) ein Magazin der amerikanischen Gegenkultur und ein Produktkatalog, der zwischen 1968 und 1972 mehrmals im Jahr und danach gelegentlich bis 1998 von Stewart Brand herausgegeben wurde. Das Magazin enthielt Essays und Artikel, konzentrierte sich jedoch hauptsächlich auf Produktrezensionen. Der redaktionelle Schwerpunkt lag auf den Themen Selbstversorgung, Ökologie, alternative Bildung, ‚Do it yourself‘ (DIY) und Ganzheitlichkeit und stand unter dem Motto ‚Zugang zu Werkzeugen‘.“ * Lange nach Erscheinen der letzten Nummer verglich ein gewisser Steve Jobs in seiner Eröffnungsrede an der Stanford University im Juni 2005 den Whole Earth Catalog mit der Internetsuchmaschine Google: Als ich jung war, gab es eine erstaunliche Publikation namens „The Whole Earth Catalog“, die eine der Bibeln meiner Generation war … Es war so etwas wie Google in Taschenbuchform, 35 Jahre bevor Google auf den Markt kam. Es war idealistisch und voller toller Werkzeuge und toller Ideen. –  Soviel zum Thema Geschichtsmächtigeit gewisser Dinge und Erscheinungen. Am Schluss seiner Stanford-Rede zitiert Jobs die Abschiedsbotschaft auf der Rückseite der letzten Ausgabe des Katalogs von 1974 („Whole Earth Epilog“): Stay hungry. Stay foolish. Was war da passiert? Welche geheimnisvolle Verbindung von Zukunftsgläubigkeit, Kritik am Technizismus und Technologiebejahung, von Pragmatik und Utopie hatte sich da auf grobem Papier zu Wort gemeldet? Oder sollte man besser sagen gezeigt? Wieder einmal geht es – pure and simply – um Geschichte. 

Ursprung und Ideale einer Bewegung. 1965 erfand der US-amerikanische Dichter Allen Ginsberg ein Wort, das die kulturelle, politische, soziale, psychische und philosophische Befindlichkeit einer ganzen Generation, einer weltweiten Bewegung prägen sollte – einen jener seltenen Schlachtrufe in der an Schlachtrufen so reichen Menschheitsgeschichte, die gerade nicht zum Kampf aufrufen (oder doch?). Allen Ginsbergs Schlagwort Flower-Power bündelte die Ideen eines humaneren und friedlicheren Lebens des modernen Individuums zur zeitlosen Vorstellung einer Versöhnung von Mensch und Mensch, Mensch und Natur. Ginsbergs „Blumenmacht“ wurde zum Synonym der Hippiebewegung.

„If you’re going to San Francisco …“ ** Die von San Francisco ausgehende Hippiebewegung „stellte die ihrer Meinung nach sinnentleerten Wohlstandsideale der Mittelschicht in Frage und propagierte eine von Zwängen und bürgerlichen Tabus befreite Lebensvorstellung. Im Vergleich zur 68er-Bewegung […] dominierten dabei stärker gemeinschaftliche (Selbstverwirklichung) als gesellschaftspolitische Konzepte, teilweise überschnitten sich die Ideale der Bewegungen.“ *

‚Hip‘, angesagt war für das flower child der 1960er und frühen 1970er Jahre die Gegenkultur einer Jugendbewegung, die sich naturverbunden und konsumkritisch auf den Weg gemacht hatte in eine friedlichere und humane Welt, und zwar, wie sie meinte, befreit und frei von den zeitgenössischen Lebens- und Moralvorstellungen. Da schloss sich ein Kreis: Denn diese Ideale wurden in neuartigen Gemeinschaften umgesetzt. Man kann das Eskapismus nennen. Zumal sich die Dinge sehr oft in ländlichen Gemeinschaften, rural communities abspielten, wo sich besagte Ideale, wie es schien, leichter umsetzen ließen. Eine eigenartig elitäre Stadtflucht war das, diametral entgegengesetzt dem säkularen Trend der Massen. ***

Ist die Geschichte dialektisch? Manche sagen ja. Den Niedergang der Hippiebewegung besiegelte ihre Kommerzialisierung in Mode und Popkultur. Apolitisch im Sinne des tagespolitischen Engagements, wie sich die Mehrheit ihrer Adepten verstand, war man gegen die Verführungen des eigenen Mythos wehrlos. „[Es] handelt sich […] um ein Übergangsphänomen von den rationalistischen Fortschrittserzählungen der Moderne (darunter auch 68er-Bewegung und Sozialismus) hin zur Neomystik der Postmoderne“ (Link: Hippiebewegung).* Von historischer Logik geprägt sind denn auch die ‚Fortsetzungserzählungen‘ des Hippietums. Die Punks (etwa seit 1977), aber auch deren Antagonisten, die hedonistisch-erfolgsorientierten Yuppies (eine neue Generation fröhlicher Kapitalisten seit den 1980ern) ziehen eine scharfe Grenze zum Innerlichkeitsdenken, zur aufgesetzten Sanftheit der Blumenkinder. Aber auch zu deren Naturliebe. Die empfanden sie als verlogen. Was durchaus nicht folgenlos blieb für die weitere Entwicklung der Umweltbewegung.

Erben der Blumenkinder? Historiker, Historikerinnen zeigen eine ausgeprägte Abneigung gegen zu kurz gezogene genealogische Linien. Den Zeithorizont so tief wie möglich anzusetzen, ist ihnen oberstes Gebot und Ausdruck intellektueller Redlichkeit. Ein Phänomen wie die Umweltbewegung datiert der Historiker Joachim Radkau denn auch nicht etwa in die hoch- und spätfordistische Ära des US-Kapitalismus – die Blütezeit der Blumenkinder, Indienfahrer und Landkommunarden –,  sondern verfolgt es weit in die Vergangenheit, beispielsweise bis in die Zeit um 1800, als in Europa eine große Debatte rund um verwüstete, ausgeplünderte Wälder – Stichwort Holznot – den Diskurs der tonangebenden Denker und Macher befeuerte. „Die Ängste vor der Holznot, einer Versorgungskrise beim Rohstoff Holz, kamen parallel zum ‚Naturkult‘ der Wald-Romantik zu Zeiten der Aufklärung auf. In der Folge wurden der deutschsprachige Raum zum Vorreiter der Aufforstung und Japan zum Pionier einer nachhaltigen Forstwirtschaft“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).* Von den USA war in dieser Hinsicht noch lange nichts zu hören. Erste Korrektur.

Die zweite Korrektur betrifft das ideologische Moment. Eine philosophische, soziale und politische Bewegung wie die ökologische fällt nicht vom Himmel und hat ihre Wurzeln in einer Vielzahl einander nicht selten diametral entgegenstehender Erzählungen und Überzeugungen.  Einzige aber wichtige Schnittstelle ist der Wille zur Neugestaltung der Verhältnisse zwischen Mensch und Natur. Phänomenologisch (also vom gegenwärtigen Zustand aus betrachtet) reicht die Spannweite dieses Willens zur Neugestaltung von weit Rechts bis weit Links, „von Unternehmen bis zu Graswurzelbewegungen […]. Aufgrund ihrer großen Mitgliederzahl, ihrer unterschiedlichen und starken Überzeugungen und ihres gelegentlich spekulativen Charakters ist sich die Umweltbewegung in ihren Zielen nicht immer einig. Die Bewegung umfasst auch einige andere Bewegungen mit einem spezifischeren Fokus, wie z. B. die Klimabewegung. Im weitesten Sinne umfasst die Bewegung Privatpersonen, Fachleute, religiöse Anhänger, Politiker, Wissenschaftler, gemeinnützige Organisationen und einzelne Befürworter“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).* Wenn es erst einmal auf Wikipedia steht, haben es die Spatzen längst von allen Dächern gepfiffen.

Die lange Genealogie des Umweltschutzes. Nach Radkau leidet die Umweltbewegung an Geschichtsblindheit. An ausgeprägtem Desinteresse für die historisch-kulturellen Wurzeln des Phänomens, als deren einzig wahre Vertreter die jeweiligen Akteure gesehen werden möchten. So ist ein großer Teil der heutigen europäischen Umweltszene der Ansicht, sich auf die amerikanische Naturschutzbewegung des 19. Jahrhunderts zurückführen zu sollen, obwohl die genuin europäischen Wurzeln ökologischer Sensibilität, vermittelt über die Jagd- und Forstwirtschaft, bis weit in die Frühe Neuzeit, ja bis ins Mittelalter hinabreichen. Soviel zum Thema falsche Bescheidenheit.  

Was die Zeitgeschichte betrifft, so ist auch der moderne Relaunch des Natur- und Umweltschutzes, seine Internationalisierung und Einbettung in Weltpolitik ein europäisches Ereignis. „Das Europäische Naturschutzjahr 1970, die erste europaweite Umweltkampagne mit über 200.000 Aktionen, gilt als Geburtsjahr der modernen Umweltbewegung. 1971 [wurde …] ein internationaler Zusammenschluss von Umweltschutzorganisationen gegründet, die Friends of the Earth: 2011 mit über zwei Millionen Mitgliedern und Unterstützern in 76 Ländern vertreten.“ *

Und auch dieser ‚Relaunch‘, diese Wiederaufnahme steht nicht isoliert da, sondern zieht ihre Geschichtsmächtigkeit aus einer langen und verästelten Vorgeschichte, von der jener ‚mitteleuropäische Weg‘ (grosso modo die Traditionen im deutschsprachigen Raum) selbst wieder nur ein einzelner Aspekt ist.****

Langer Abschied von den Blumenkindern (In deutschen Landen). Aus dem Vergessen, Vergessenwollen ihrer romantisch-nationalistischen Anfänge heraus suchte die Umweltbewegung in Deutschland eine neue Startposition. Dafür bot sich – als einer der vielen Seitenzweige der Studentenrevolte – die Politische Ökonomie an. Gleich der arbeitenden Menschheit sei auch die Natur durch die industrielle Wirtschaftsweise bedroht. Stoßrichtungen waren Atomwirtschaft und Chemiepolitik, Waldsterben und Tropenwaldvernichtung sowie die Gefährdung der Erdatmosphäre (Stichwort Ozonloch; CO2 war in den 1980er Jahren noch nicht auf dem Radar). Für die DDR-Umweltbewegung bestand das Politische in Sozialismuskritik. Umweltprobleme nannte die politische Klasse „Überbleibsel des Kapitalismus“ und machte Ökologie zum Tabuthema.

Die wichtigsten kulturellen Formen dieser Bewegung bezogen ihre Legitimation jetzt nicht mehr aus der sozial, ethisch, religiös-philosophisch oder naturalistisch unterfütterten Empathie für Natur als die große Andere  sondern aus dem Pathos, das eine neue Leitwissenschaft zu erlauben schien – die Ökologie (auch als Politische Ökologie). „Indem das Wort ‚Ökologie‘ […] Eingang in die tägliche Umgangssprache fand, veränderte sich seine Bedeutung. Die zunächst neutrale ökologische Wissenschaft wurde positiv besetzt, sodass ‚ökologisch‘ gleichbedeutend wurde mit ‚umweltverträglich, sauber, rücksichtsvoll, biologisch abbaubar, unbedenklich‘ etc.“*

Doch verschlungen sind die Wege der Historie. Die, wie der Netzeintrag sie nennt, „subkulturellen Formen“, schlugen sich „in einem ‚alternativen Lebensstil‘ nieder […, der] sich in den ausgehenden 1970er-Jahren zunehmend ausdifferenzierte. Besonders deutlich war die Abgrenzung zur zeitgleichen Discoszene und zu den Poppern. Die Ökoszene entwickelte eine charakteristische Ästhetik, die sich aus der Hippie-Ästhetik entwickelte …“ (Link: Geschichte der Umweltbewegung).*

Da sind wir wieder. Und nein. Ich habe auf das zentrale Anliegen dieser Untersuchung nicht vergessen: Einem der seltsamsten Bücher meiner Jugendzeit ‚kanadischen Angedenkens‘ ein Plätzchen frei zu machen in der Geschichte des Umweltschutzes, wie sie sich mir heute darstellt. Makro- und Mikrogeschichte sind verzahnt, ein Buch ist verzahnt mit einer Bewegung und diese mit Ambitionen und Affekten – und alles von weit hergekommen auf ziemlich verschlungenen Wegen, die dem Anschein nach oder auch tatsächlich mit einer sogenannten Nationalgeschichte (hier: the American way) verbunden sind, was man aber nur im Nachhinein so wohlfeil sagen und behaupten kann.

Thoreau,  Emerson, Muir. Drei Väter der amerikanischen Umweltbewegung. Keine Ökologiegeschichte der USA kommt an den Schutzheiligen jenes weiten Feldes mit den undeutlichen Grenzen vorbei, das der amerikanische Mythos als wilderness bezeichnet. Ohne sie wäre das Heroische und Transzendentale an besagter Wildnis wohl nie entdeckt worden; ohne sie hätte es besagte Wildnis schwerlich zum Core value, zum innersten Kern amerikanischer Robustheit, Ursprünglichkeit und Identität gebracht. Denn entgegen einem anderen Mythos waren es gerade nicht die Eroberer des Westens, die dem politisch-kulturellen Begriff ‚Großartigkeit‘ – und logischer Weise kann das nur die Großartigkeit eines Raumes, Großartigkeit von Landschaft und Natur sein – seine naturrechtliche Würde, Unangreifbarkeit und identitätsstiftende Wirkung gaben, sondern Männer der Feder, des Wortes und der Kontemplation von der Ostküste.      

Am 4. Juli 1845, dem Amerikanischen Unabhängigkeitstag, bezog Thoreau seine selbstgebaute Blockhütte,  Walden Hut, auf seines Freundes Emerson abgelegenem Grundstück in der Nähe von Concord, Massachusetts. In seinem Werk Walden. Or Life in the Woods beschrieb er sein einfaches Leben am See und dessen Natur und setzte diese Erfahrung in Kontrast zu den großen gesellschaftspolitischen Themen.

Aus einer Schilderung seines Freundes Ralph Waldo Emerson: „Er führte ein Leben voller Entsagungen wie nur wenige Menschen. Er hatte keinen Beruf erlernt und lebte allein. Von einem schönen Haus, Kleidung, Sitten und Gesprächen kultivierter Menschen hielt er nichts. Er traf sich lieber mit einem ‚guten Indianer‘. [… Auch] zu jungen Menschen fühlte er sich hingezogen. Ebenso zu Bauern, die sein praktisches Wissen schätzten. […] Sein Wissen über die Geheimnisse der Natur und ihre Zusammenhänge war umfassend. […] Er liebte die Natur so sehr, war so glücklich in ihrer Einsamkeit, dass er Städte mit Argwohn betrachtete und [… als Orte ansah, wo Luxus und dessen Verlockungen] den Menschen und seine Umwelt zugrunde richten“ (Link: Henry David Thoreau).* Nachsatz: Thoreau war wie sein Freund Emerson geschworener Feind der Sklaverei.

Die Rezeption seiner Werke erfolgte langsam, aber mit Nachdruck. „Naturschützer und Ökologen waren begeistert von seinen Tiraden gegen materialistisches Profitdenken. Verfechter politischer Emanzipation, von Mahatma Gandhi bis zu den linken Studenten von 1968, erklärten ihn zum Vorbild. Heute ist Thoreau zu einer Art US-amerikanischer Konsensfigur geworden, die zwar meist in linken Kreisen, aber durchaus auch von als eher konservativ geltenden Denkern gern zitiert wird“ (Link: Henry David Thoreau).*  

Auch Ralph Waldo Emerson hat Zeit seines Lebens die Notwendigkeit einer radikalen Erneuerung und geistigen Selbstbestimmung der amerikanischen Kultur und Lebensart betont. Auf einer Europareise hatte er den deutschen Idealismus entdeckt und sich mit indischer Philosophie vertraut gemacht, wovon sein späteres Werk deutlich geprägt ist. Schon in seinem ersten Buch, Nature (veröffentlicht 1836), kommt das Kernthema seines religiösen Naturalismus zum Ausdruck: Menschen sollten auf einfache Art und Weise im Einklang mit der Natur leben. Natur aber nicht als solche oder an und für sich genommen, sondern strikt menschbezogen, genauer: aufs Individuum bezogen. Natur als Quelle der Selbstbestimmung – der amerikanische Freiheitsbegriff. „Build, therefore, your own world“ lautet der Schlusssatz jenes Buchs, mit dem er die Bühne der Öffentlichkeit betrat (Emerson, Nature).

„If you’re going to San Francisco …“ Der Dritte und Jüngste im Bunde, John Muir, ist der am meisten Praxisbezogene. Ein großer Reisender und Aktivist, Kenner, Bewunderer und Propagandist des Amerikanischen Westens, betätigte er sich, wie es im Netzeintrag heißt, „als Naturalist, Entdecker, Schriftsteller, Erfinder, Ingenieur und Geologe“ (Link: John Muir).* Als wertschätzender Kenner der heroischen amerikanischen Landschaften wurde er „vom Naturforscher mehr und mehr zum Naturschützer […] und nahm dabei viele der Ideen der heutigen Öko- und Tierrechtsbewegung vorweg. Er war Mitbegründer des Sierra Clubs, der ältesten und größten Naturschutzorganisation in den Vereinigten Staaten“ (ebd.).

Vielleicht versteht man den offensichtlichen, ganz umweglosen Einfluss John Muirs auf die nachgeborenen Generationen der Hippies bis hin zu Amerikas Umweltbewegungen besser – die Faszination, die er auf diese Bewegungen noch heute ausübt –, wenn man sich eine Schilderung seines Lebens im Yosemite-Tal zu Gemüte führt und die Emphase beachtet, die in der anonymen digitalen Rede des Netzeintrags unüberhörbar mitschwingt:

„Am 2. März 1868 erreichte John Muir San Francisco. Er war mit dem Dampfschiff von New York angereist. Er war jetzt 30 Jahre alt und wollte unbedingt ins Yosemite-Gebiet. Im Gegensatz zum typischen Reisenden von damals, der die Fähre von San Francisco nach Stockton, dann eine Postkutsche nach Coulterville bestieg und von hier ein Pferd nahm, machte Muir den Weg zu Fuß. Er nahm die Fähre nach Oakland und wanderte durch das Santa Clara Tal, über den Pachero Pass, durchquerte das San Joaquin Tal nach Snelling, aufwärts zu den Ausläufern des Gebirges durch Coulterville, Mariposa County, und erreichte das Yosemite Tal um den 22. Mai 1868. Er war überwältigt von der Schönheit der Natur, den Bergen und Seen. Hier würde er die nächsten zehn Jahre verbringen und jedes Gebiet erkunden“ (Netzeintrag John Muir).*

Auch über seine eminente, identitätsstiftende Langzeitwirkung auf den naturalistischen Geist der amerikanischen Gesellschaft informiert uns der digitale Anonymus. „Mit seinen Schriften wurde er zu einem der Pioniere der Naturphilosophie und der philosophischen Begründung des Naturschutzes. 1871 prägte er den Begriff interpretation, ‚Übersetzung‘ für den Umgang des Menschen mit der Natur. Das Konzept der Natur- und Kulturinterpretation, das der Informations- und Bildungsarbeit aller Nationalparks in den USA zugrunde liegt, erinnert noch heute daran.“ Was zu beweisen war.

Nachbemerkung: 1892 gründeten John Muir und Mitstreiter den Sierra Club, eine der ersten Naturschutzorganisationen modernen Zuschnitts und bis heute eine der größten und einflussreichsten Umweltorganisationen Nordamerikas. Mit Nachdruck setzte er sich dafür ein, Wälder und andere öffentliche Flächen des amerikanischen Westens ganz aus der Nutzung zu nehmen, wobei er auch vor Kontroversen mit der Forstwirtschaft, etwa mit dem Gründer des United States Forest Service, Gifford Pinchot, nicht zurückschreckte. Der Debatte entstammen wichtige ökologische Fachbegriffe wie ‚Conservation‘ für nachhaltige Nutzung und ‚Preservation‘ für den Nutzungsverzicht. Der Vater der Nationalparks, Wildnisprophet und Bürger des Universums (Beinamen, die ihm die amerikanische Öffentlichkeit verlieh) verbrachte seinen Lebensabend hochgeehrt in Los Angeles, wo er am 24. Dezember 1914 starb. Seit 1989 begeht der Bundesstaat Kalifornien jährlich am 21. April den John Muir Day, an dem besonders an Schulen seiner Werke und seines Wirkens gedacht wird.

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* Links: The Whole Earth Catalog; Hippiebewegung; Geschichte der Umweltbewegung; Henry David Thoreau; Ralph Waldo Emerson; John Muir

Anmerkungen:

** If you’re going to San Francisco … Das von John Phillips geschriebene und von Scott McKenzie gesungene Lied (veröffentlicht im Mai 1967) wird als die inoffizielle Hymne der Gegenkulturbewegung der 1960er Jahre, einschließlich der Hippie-, Anti-Vietnamkriegs- und Flower-Power-Bewegungen bezeichnet. Das Lied gilt neben „All You Need Is Love“ (The Beatles) als prägendes Lied des Summer of Love.

*** Soziologisch betrachtet, bestanden die Hippies im Wesentlichen aus westeuropäischen und nordamerikanischen Mittelstandskindern, überwiegend unter 30 Jahren, aus Auswanderern und Aussteigern, Lebenskünstlern und Bohémiens, Studenten, Arbeitsverweigerern, Fahnenflüchtigen und Drogenkonsumenten. Bands wie Grateful Dead, The Beatles, The Rolling Stones, The Who, Santana, Musiker wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Melanie und Jim Morrison, Künstler wie Robert Crumb, Schauspieler wie Peter Fonda und Arlo Guthrie sowie Aktivisten wie Ken Kesey und Allen Ginsberg zeigen unterschiedliche Facetten der pluralen, heterogenen Hippie-Bewegung. Oftmals stellten Hippies eine Bohème dar, wie in den Vierteln Haight-Ashbury in San Francisco und Greenwich Village in New York, wo sie als Subkultur Orte des Undergrounds schufen. (Zitat: Wikipedia)

**** Moderne Umweltschutz- und Naturschutzgeschichte im deutschsprachigen Raum (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

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Wir sind die Krone der Schöpfung
Na, dann is‘ ja gut
Nach uns die Sintflut, nach uns die Sintflut
Seid auf der Hut
Wir sind die Krone der Schöpfung
(Die Prinzen)

Gestern Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte von einem Gorilla, der sich auf die Brust schlug und dabei ausrief: „Ich geh‘ jetzt! Auf Nimmerwiedersehen.“ Als ich aufwachte, war mein erster Gedanke: Der Affe hat recht. Gorilla & Co. haben einfach das Pech, in einer Welt zu leben, die ihnen nicht gehört. Als mehr oder weniger geduldeten Untermietern der Menschheit überreicht ihnen jetzt der Gerichtsvollzieher den Räumungsbescheid: „Der Wohnungsbesitzer hat Eigenbedarf angemeldet.“

Als Pendant zum Traum gab‘s eine Lesung. Eine immerhin mit dem Wissenschaftsbuchpreis ausgezeichnete Autorin* stellte in einer renommierten Wiener Buchhandlung ihr neuestes Buch** vor und berichtete über Ergebnisse auf dem Gebiet der Elefantenforschung. Um es kurz zu machen – das Interesse an Loxodonta africana und Elephas maximus, beide Gattungen in großer Gefahr, von unserem Planeten auf immer zu verschwinden, hielt sich in Grenzen … Mehr noch: in der sehr überschaubaren Schar der Anwesenden war die Vortragende mit ihren 47 Jahren die eindeutig Jüngste im Raum, den Altersschnitt der Runde würde man mit 70 Jahren sicher nicht überschätzt haben.   

Kein Schwein interessiert sich für Elefanten. Es mag ja sein, dass für ‚die Menschheit‘ und in der so oft bemühten ‚(Kultur-) Geschichte der Menschheit‘ der Elefant ein emblematisches Tier ist. Für jene sehr konkrete Masse, gebildet aus mehr als acht Milliarden Individuen, die heute den Planeten bevölkern, ist er es ganz sicher nicht. Den meisten Erdenbürgern der Spezies Homo sapiens sind die anderen Arten – mit Ausnahme ihrer Eignung, von Homo sapiens verspeist oder sonstwie genutzt werden zu können – volkstümlich gesprochen wurscht (schnuppe, schnurz, piepegal, wayne … you name it). Die Aussage, dass der Elefant „bester Freund, Partner, Forschungssubjekt, Arbeitsgerät, Geldquelle oder Feind […] für einen Menschen sein [kann]“ (Stöger 2023, Seite 16), ist nur unter der Einschränkung wahr, dass es sich bei besagtem 'Menschen' um das Individuum einer Teilmenge handelt, die so klein ist, dass man sie mit der Lupe suchen muss. Nähe zur Natur, Verständnis für Natur oder gar Naturschutz waren stets und sind heute mehr denn je ein Minderheitenprogramm (BLOG # 20: Kaum Chancen für Mutter Erde).

Was Natur den Vielen bedeutet. Wenn der wackere Nachfahre Adams, die typische Evatochter egal wo immer auf diesem Planeten Natur interessant, nett, toll, wichtig oder sympathisch findet, liegt der Skeptiker, die stringent Denkende sicher nicht falsch mit der Vermutung, dass es sich bei solch positiver Einstellung zur Natur um ein höchst interessegeleitetes Verhalten handle. ‚Natur‘ ist dort, wo sie nicht Objekt unlustbehafteter Tätigkeit, vulgo Arbeit ist – also im Idealfall –, Sportgerät oder Kulisse: wandernd, Berge erklimmend beziehungsweise von den Gipfeln derselben per Mountainbike, Snowboard oder Ski zu Tale eilend, ist der aktive, um nicht zu sagen hyperaktive Mensch ganz bei sich; auch dem Einfamilienhausbesitzer sind Wald und Wiese nur Kulisse. Und dann ist da noch jenes kleine Segment der Hominiden, welche die Natur in Besitz genommen haben: als Quelle eines meist nicht unerheblichen, wiewohl prekären Reichtums. Und die Anderen, die Wenigen? Sie mögen sich auf den Kopf stellen, an Brückengeländer ketten oder auf die Straße kleben: die Herzen der Vielen gewinnen sie nicht.

Worüber die Chronik dennoch nicht schweigen sollte. „Jetzt erst recht.“ Manchmal trifft das Gift auf Gegengift. Zwar nur in kleinen Dosen, aber immerhin. Exkurs über drei Maßnahmen gegen die Trägheit des Herzens.

Maßnahme eins betrifft die Schwerkraft der Zeit: Man trachtet danach, Verschwindendes am Verschwinden zu hindern („aufgehaltenes Schwinden“). „Auf dem afrikanischen Kontinent sind erstmals seit einem Jahrzehnt mehr Nashörner als im Vorjahr festgestellt worden. Wie die Weltnaturschutzunion (IUCN) bekannt gab, lebten Ende 2022 fast 23.300 Nashörner in Afrika – und damit 5,2 Prozent mehr als noch 2021. Demnach stieg sowohl die Zahl der Breitmaulnashörner als auch die der Spitzmaulnashörner wieder an. Michael Knight, Wildtierforscher und Leiter der IUCN-Expertengruppe für Nashörner in Afrika, sprach von einer ‚guten Nachricht‘, dank der die Organisation ‚zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt wieder aufatmen‘ könne“ (Richard Klug, ARD Johannesburg).***

„Wieder aufatmen“ könnte nach dieser Lesart auch der Amazonas-Regenwald, sofern Maßnahme Nummer zwei hält, was sie zu versprechen scheint: „Es gibt Dinge, die wir loslassen müssen, wie zum Beispiel die Vorstellung, dass Brasilien eine Agrarmacht ist, weil es große für die Landwirtschaft geeignete Gebiete besitze und der Wald in Ackerland umgewandelt werden könne. Diese Idee muss aufgegeben werden. Null Entwaldung impliziert wirtschaftliche Aktivität nur in Gebieten, die legal genutzt werden können. Wir können nicht weiter nur vom Rohstoffboom leben – auch diese Idee muss aufgegeben werden“ (Marina Silva, brasilianische Umweltministerin in einem Interview mit Bloomberg Green: Bloomberg Green, Newsletter vom 15. September 2023).

Die Umwandlung politischer Theorie in umweltpolitische Praxis zeigt die dritte hier vorzustellende Maßnahme; im Mittelpunkt steht wieder der Amazonas-Regenwald mit dessen autochthonen Bewohnern als ‚Wächtern des Waldes‘: „Der Einsatz hochtechnologischer Überwachungsinstrumente [Drohnen] in einem der tiefsten Winkel des Amazonas-Regenwaldes [Ecuadors] zeigt, wie fortschrittliche Technik genutzt werden kann, um Abholzung und andere illegale Aktivitäten, welche die Ökosysteme schädigen, zu verhindern. Zugleich ist das ein Beitrag zum Schutz traditioneller Lebensweisen. […] In Ecuador besitzen indigene Gemeinschaften Landrechte an großen Teilen des Amazonasgebiets, das die östliche Hälfte des Landes ausmacht“ (Drohnen für den Amazonas: Bloomberg Green, Newsletter vom 22. September 2023).   

Wohl wahr, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Gedanken zum Tod der Umweltschutzbewegung. Man kann es auch übertreiben. An einem bestimmten Punkt führt der Appell, gut zu sein, zum Überdruss am Guten. Dreimal täglich Wienerschnitzel, siebenmal die Woche, ist wahrscheinlich eine äußerst probate Methode, Fleischfresser zu Veganern zu machen. Romantischer Überschwang in der Wertschätzung egal welcher Sache führt bei den Wertschätzenden selbst in der Regel zu Messianismus und bei den Missionierten zum Nein, danke-Syndrom. „Die Natur wird’s schon richten. Lass‘ sie nur machen … und mich in Ruhe.“ Vielleicht ist es ja nicht nur logisch sondern auch vernünftig, dass die Vielen dem Trägheitsmoment huldigen und so das Schwungrad des Eiferers bremsen. Dass die Chronik, die das Erinnerungswürdige für die Vielen aufbewahrt, in Bezug auf Missionare und Eiferer eher zum Schweigen tendiert, ist so betrachtet kein Wunder. Obwohl sicherlich kein unumstößliches Naturgesetz, ist auf dem Felde der Geschichte der Widerwille der Chronisten, dem Extremismus ein Gedächtnis zu geben, nützlich, sozial bekömmlich und daher in Ordnung.

Nachsatz: Weniger sozial Bekömmliches (Stichwort: Gier) ist unlängst von der Umweltsprecherin einer österreichischen Partei im Parlament angesprochen worden. Rohstoffverbrauch & Bodenverbrauch, in der Alpenrepublik ohnehin schon weit über EU-Durchschnitt liegend, will einfach nicht geringer werden. „Weil es um ein riesiges Wirtschaftsgut geht, an dem alle auch immer gut verdient haben.“ Der Clou liegt im Wörtchen ‚Alle‘. Der Begriff bedeutet hier die Gesamtheit einer Minderheit, die glaubwürdig und überzeugend (Stichwort: Reichtum) den Vielen zeigt und sagt, wo‘s lang geht.

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* Angela Stöger ist eine österreichische Ethologin,  Kognitionsbiologin, Expertin für Bioakustik und Lautkommunikation mit dem Schwerpunkt Elefantenforschung. Sie arbeitet am Institut für Schallforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und am Mammal Communication Lab der Universität Wien.

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** Stöger 2023 = Angela Stöger: Elefanten. Ihre Weisheit, ihre Sprache und ihr soziales Miteinander. In Zusammenarbeit mit Patricia McAllister-Käfer. Christian Brandstätter Verlag: Wien 2023  

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*** Richard Klug, ARD Johannesburg, Tagesschau, 22.09.2023, 20:00 Uhr: Über das aufgehaltene Verschwinden der Nashörner

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Das war ja zu erwarten gewesen. Wegen „Bagatellisierung des Artensterbens“ – so ein aufgebrachter Naturfreund, dem meine harsche Kritik am Begriff Noxious Wildlife, ‚Schädling‘, zu weit ging – wurde ich ordentlich gebasht. And rightly so. „Wie – du gibst ihm recht?“ – „Ja. Beziehungsweise: nein. Also irgendwie.“

Natürlich haben die Argumente derjenigen, die das Gefahrenpotenzial betonen, wie es unkontrolliert verbreiteten nicht-einheimischen Arten innewohnt, einiges für sich. Die Ausrottungsgeschichte zeigt aber, dass es in erster und letzter Instanz nicht die ‚schädlichen‘ Arten als solche waren und sind, welche ein vorgefundenes ökologisches Gleichgewicht stören oder gar zerstören, sondern die Menschen, die den Neuankömmlingen den Einstieg ins Ökosystem erst ermöglicht haben.

Zwei Fragen drängen sich auf. Erstens: Wie groß, wie definitiv ist der angerichtete Schaden? Zweitens: Lässt er sich wiedergutmachen – und um welchen Preis?

„Geschichte lebt.“ Von der bloß scheinbaren Stabilität der Ökosysteme. In meiner Schulzeit gab man uns ein Buch zu lesen, das trug den Titel „Geschichte lebt“. Darin wurde die Hypothese aufgestellt, dass Ereignisse aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken. Nicht jedem Ereignis wohnt die Kraft der Fernwirkung inne, nur Schlüsselereignisse verfügen über sie. Nach solchen ‚besonderen Voraussetzungen‘ gilt es also zu suchen im Rahmen ökologiehistorischer Fragestellung – getreu der Maxime: „Vor den Schlussfolgerungen das Verstehen, vor dem Verstehen die Analyse.“

Das gilt auch für die Ausrottungsgeschichte. Wann, wo und unter welchen besonderen Umständen wirken sich Umwelt-verändernde Akte des Homo sapiens auf das Netzwerk des Lebens aus – und wie einschneidend, wie nachhaltig, wie umfassend, wie folgenschwer sind sie? Zweitens der Versuch, zu verstehen: Nicht überall sind die Auswirkungen ein und desselben Eingriffs gleich einschneidend, nachhaltig, umfassend, folgenschwer. Daher drittens der Akt des Schlussfolgerns: Wenn es keine einheitlichen Regeln zu geben scheint, nach denen sich das Drama der Umweltveränderung überall und zu allen Zeiten identisch zeigt – und zu diesem Schluss kommen Historiker, Historikerinnen unweigerlich, sobald sie sich beobachtend durch Zeit und Raum bewegen –, kommt auch in der Ausrottungsgeschichte nur selten vor, was Marcel Mauss (1872–1950) ein Fait social total genannt hat, ein in sich abgeschlossenes Ereignis mit eindeutiger, vorhersagbarer und feststehender Wirkung hinsichtlich des Ganzen und all seiner Teile (Marcel Mauss: Die Gabe / Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaiques Link).

Es kommt nicht nur darauf an, was, sondern auch wo es geschieht. Von der ökologischen Divergenz.  Impact ist nicht gleich Impact. Seit dem kreativen, Ökologie-affinen Ansatz des Amerikanisten Alfred W. Crosby (1931–2018)* hat sich der Blick geweitet. Bis dahin unbezweifelte Annahmen erscheinen in neuem Licht. Vor allem die sogenannte Entdeckungsgeschichte, die man besser Eroberungsgeschichte nennt und von der die Ausrottungsgeschichte ein wichtiger Zweig ist, hat sich gegen die Verlockungen und Versuchungen des Determinismus („wie es kam, so musste es kommen“) ein Stück weit immunisiert.

Crosby konnte zeigen, dass sich ein und derselbe faktenhistorische Vorgang – zum Beispiel die Eroberung eines Territoriums – in der Alten Welt ganz anders vollzieht als in der Neuen Welt nach deren ‚Entdeckung‘ durch die Europäer: nämlich unter ökologischen und epidemiologischen Aspekten genau konträr. In diesem, wie Crosby ihn nennt, Columbian Exchange (Austausch von Menschen, Tieren und Pflanzen „ab der Zeit des Columbus“, sprich seit dem ominösen Datum 1492) scheint sich die Europäische Expansion von den Eroberungen und Rückeroberungen, wie sie in der Alten Welt, also auf dem Eurasiatisch-Afrikanischen ‚Superkontinent‘ seit vielen Jahrtausenden üblich waren und immer noch sind, verblüffend deutlich zu unterscheiden. Die Ökologie der Alten Welt erscheint durch das Auf und Ab der Menschheitsgeschichte ungleich weniger stark in Mitleidenschaft gezogen, als dies in den wenigen hundert Jahren europäischer Besiedlung Nord- und Südamerikas der Fall war, wo der ursprüngliche Floren- und Faunenbestand vielfach so stark überformt, verändert oder zerstört wurde, dass eine Rekonstruktion der Situation vor Columbus fast nicht mehr möglich ist (Crosby: Columbian Exchange, Seite 211 f.; Link).*

Je isolierter ein Ökosystem ist, desto geringer seine Resilienz.  Auf dieser Annahme hat Crosby seine Akklimatisationstheorie errichtet, indem er zu zeigen versuchte (mit teilweise hoher, teilweise weniger hoher Plausibilität), dass die Ökosysteme Nord- und Südamerikas aufgrund ihrer Jahrtausende währenden Abgeschiedenheit vom Rest der Welt dem Input neuer Spezies erliegen mussten; die ‚Neuen‘, aus ihrer viel ‚weltoffeneren‘ Entwicklungsgeschichte heraus biologisch anpassungsfähiger, resilienter und weniger stressanfällig (sprich weniger anfällig für Krankheiten und Seuchen), ‚outperformten‘ die Einheimischen.

Historiker wie Richard H. Grove verknüpften Crosby’s biologistische Sicht mit der älteren Imperialismus-Theorie und machten – durchaus im Einklang mit Erkenntnissen der ökologischen Forschung – das ‚Inseltheorem‘ zu einem brauchbaren Werkzeug der Geschichtswissenschaft.* Grove konnte zeigen, dass die ersten europäischen Kolonien, insofern sie Stützpunkt- oder Inselkolonien waren, als Orte massiver ökologischer Degradation zugleich Brennpunkte eines hocheffizienten Artentransfers darstellten und ergo dessen als echte Hotspots der Ausrottungsgeschichte anzusehen sind. Genau da beginnt es problematisch zu werden – nicht für die Historiographie sondern für die angewandten Umweltwissenschaften.

Die Insel als umweltpolitisches Paradigma. Die Schicksale von Pflanzen und Tieren, die auf Inseln vorkommen, so stellt die Wissenschaft fest und zuletzt auch wieder der Naturfilmer, Volksbildner und Umweltexperte David Attenborough* (ich beziehe mich gern auf ihn, weil ich ihn schätze, ja verehre), zeigen verblüffende Ähnlichkeiten untereinander. Sehr oft handelt es sich um Arten oder Unterarten, die endemisch sind, also nur lokal vorkommen. Zu ihren nächsten Verwandten auf dem Festland weisen sie auffallende genetische Unterschiede auf – die Palette reicht von verminderter Immunstärke bis zum Verlust lebens- und arterhaltender Fertigkeiten (etwa der Flugfähigkeit bei Vögeln) und Instinkte wie Feindvermeidung, Tarnung etc. Das bekannteste Beispiel ist der berühmte Dodo von Mauritius, eine plumpe Taube, die weder fliegen konnte, noch über ein ausgeprägtes Flucht- oder Tarnverhalten verfügte … und prompt ausgerottet wurde. Ebenfalls keine Seltenheit bei Inselpopulationen sind auffällige Zwerg- oder Riesenformen (größere Tiere verzwergen, kleine Tiere entwickeln sich zu Giganten).

Fluch oder Segen – der genetische Flaschenhals. All das – und die Abwesenheit von Fressfeinden beziehungsweise Nahrungskonkurrenten – hat dazu geführt, dass sich als Ergebnis solch evolutionärer Engführung hochspezialisierte, phänotypisch extreme, zahlenmäßig eher kleine und lokal begrenzte Inselpopulationen von Arten herausgebildet haben, die anderswo unspezialisierte Formen und zahlenmäßig starke Populationen entwickelt hätten oder auch haben. Dabei sind genetische Flaschenhälse per se nichts Nachteiliges für eine sich dabei umformende oder neu herausbildende Spezies. Das zeigt etwa das Schicksal von Bison bison L., der sich genau auf diese Weise aus recht spezialisierten, bezüglich Umweltbedingungen ziemlich anspruchsvollen Stammformen zu einem der anpassungsfähigsten und kopfstärksten Vertreter der nordamerikanischen Großtierfauna entwickelt hat.

Nicht so die typischen Inselformen. Die wenigen Individuen der Ausgangspopulation – der sogenannte genetische Flaschenhals – sind hinsichtlich der Ausbreitungsmöglichkeit ihrer Nachkommen ohne große Perspektive (eine Insel setzt jeder Massenvermehrung sehr rasch sehr klare Grenzen). Damit aber können die inzuchtbedingten genetischen Nachteile nicht ausgeglichen werden, auch nicht in Jahrhunderten ungestörter Entwicklung – Paradoxon einer Überangepasstheit, so typisch für Bewohner kleiner und kleinster ökologischer Nischen.

„Wir könnten nun wenigstens annehmen, dass Inseltiere [und Pflanzen, G.L.] so gut an ihre jeweilige Umgebung angepasst sind und deren Ressourcen so optimal ausnutzen, dass kein Eindringling es vermag, ihren Platz einzunehmen. Dem ist aber nicht so. Stattdessen wirkt es, als hätten die Insulaner im Schutz ihrer abgelegenen Inseln und fernab des Trubels großer, vielfältiger Gesellschaften die Streitkunst verlernt. Sie können ihre Position gegenüber der neuen Konkurrenz nicht behaupten. Und es scheint, als wären viele Inselbewohner dem Untergang geweiht, sobald die Schutzbarriere ihrer Heimat erst einmal durchbrochen ist“ (Attenborough: Der lebendige Planet, Seite 275).*

Neuseeland & Co. als umweltpolitisches Vorbild? Ökologiehistorisch betrachtet, entspricht der insularen Nische eine einzigartige Typologie evolutionärer Prozesse – mit unverwechselbaren Mustern beim Übergang von Zeiten ökologischen Gleichgewichts (Klimax) zu Phasen des Umbruchs und der Neuordnung. Im Unterschied zum Rest der Welt geht die Evolution auf Inseln oder, allgemein gesprochen, überall dort, wo das Ökosystem Merkmale von Inseln aufweist, einen Sonderweg. Auch in isolierten ökologischen Nischen (einzelne Hochtäler, Überreste ehemaliger Naturlandschaften oder Biome mit besonders schutzwürdigen Populationen bedrohter Arten) kann es zwischen alter und neuer Ordnung, Klimax und Umbruch keine Kompromisse geben, weil schon die Evolution als solche dort keine sanften Übergänge vorsieht. Mit anderen Worten: Inseln und inselähnliche Lebensräume sind prädestiniert für ‚harte‘ Veränderungen nach Art des Columbian Exchange.

Der Name ‚Neuseeland‘ steht hier für die unzähligen großen und kleinen Inselbiome des Blauen Planeten – von den Antillen in der Karibik bis zu Polynesien und den Galápagosinseln im Pazifischen Ozean; auf St. Helena und auf Madagaskar, auf Mauritius oder den Seychellen, von Neuguinea bis Tasmanien oder Neuseeland herrschen überall die typischen, oben skizzierten Bedingungen …  

Diese Inselbedingungen – lassen sie sich auf andere, ‚kontinentale‘ Verhältnisse übertragen? Oder zumindest in diese hinein übersetzen? Wohl eher nicht. Und wenn doch, handelt es sich mit Sicherheit um ‚inselähnliche‘ Situationen nach Art der ebenfalls weiter oben beschriebenen ökologischen Nischen oder Reste ehemals ausgedehnterer Lebensräume. Was bedeutet das für den Umweltschutz im globalen Maßstab?

Umweltveränderung als ökologischer Großversuch. Auf Neuseeland und den anderen Inseln, deren paradigmatische Bedeutung für den modernen Umweltgedanken man nicht in Frage stellen muss (wohl aber bisweilen die Übersetzung dieser Bedeutung in die Praxis), spielen sich sowohl Evolution als auch moderne Umweltveränderung und Naturzerstörung gewissermaßen im Zeitraffertempo ab. So hat die Evolution auf Neuseeland eine Artenzusammensetzung entstehen lassen, wo 85 Prozent der etwa 2.300 einheimischen Pflanzen endemisch sind, also ursprünglich nur auf diesen beiden Inseln beziehungsweise deren Nebeninseln vorkamen. Mittlerweile wachsen viele dieser ‚Solitäre‘ über die ganze Welt verstreut in Arboreten und Botanischen Gärten … aber das ist schon eine andere Geschichte, eine, die mit der europäischen Expansion zu tun hat und von der schon öfter die Rede war.**

Vielleicht noch deutlicher als die florale Welt zeigt sich Neuseelands Fauna*** als Erbe eines insularen Sonderwegs. Zu nennen wären mehrere Pinguinarten; der flugunfähige Schnepfenstrauß, besser bekannt unter seinem einheimischen Namen Kiwi – das Wappentier der Insel ist mit gleich fünf Arten vertreten –; aus der Familie der Papageien drei Arten: der flugunfähige Eulenpapagei (Kakapo), der für seine Schlauheit und Intelligenz berühmte Kea und der Waldpapagei (Kaka); weitere, weniger bekannte endemische Arten sind Saumschnabelente, Neuseelandente, Schwarzer Stelzenläufer, Takahe und Wekaralle, die Maori-Fruchttaube, der Maorifalke; aus der Klasse der Säugetiere der vom Aussterben bedrohte Maui-Delfin … und viele andere mehr.

Auch für den anderen, den negativen Aspekt von ‚Insularität‘ (wenn man denn das Phänomen eines ökologisch-historischen Sonderwegs so nennen mag) bietet sich Neuseeland als prominentes Untersuchungsfeld an: Mit einer seit dem Beginn des zweiten Jahrtausends europäischer Zeitrechnung, als die ersten Maori-Boote landeten, kontinuierlich ansteigenden Zahl von ausgerotteten oder ausgestorbenen Spezies erweist sich die Doppelinsel als perfektes Beispiel für den Zusammenhang von menschlicher Siedlungspolitik und radikaler Umweltzerstörung. Ob Chatham-Rabe, Maorikrähe, Haastadler, Südinsel-Riesengans oder der phantastische straußenartige Moa, deren größte (Unter)Art eine Schulterhöhe von (mehr als) zwei Metern erreichte – sie alle waren den neu angekommenen Zweibeinern wehrlos ausgeliefert; vor allem auch deren vierbeinigen Begleitern wie Hund und Schwein; und als sich auch noch die Europäer einstellten, kamen Schafe, Rinder, Rot- und Damhirsche, Gämsen und Thare, Katzen, Wiesel, Ratten und ein ganzer Zoo weiterer Exoten hinzu, die teilweise verwilderten und sich unter den einheimischen Spezies breit machten. Mit ihrem ‚insularen Charakter‘ waren die Autochthonen den Einwanderern hilflos ausgeliefert. „So löste wahrscheinlich auch bei den Moas das Auftauchen von menschlichen Jägern weder Flucht noch Gegenwehr aus.“ Die Experten Worthy und Holdaway meinen dazu nicht unironisch, man dürfe vermuten, „dass die Moa-Jagd eher einem ‚Einkauf im Supermarkt‘ als einer Jagd gleichgekommen sein dürfte“ (Netzeintrag „Moas“, siehe Link).

Den britischen Siedlern im 19. Jahrhundert war die autochthone Flora und Fauna mehr oder weniger gleichgültig; gemäß dem Zeitgeist, der einer ‚Europäisierung der Welt‘ das Wort redete, war ihnen wichtiger, möglichst viel Heimat in die Kolonien mitzubringen. Ziel war nicht nur die authentische Rekonstruktion einer ‚europäischen Natur‘. Es galt auch die globale Präsenz Europas, den Anspruch eines einzelnen Kontinents, über den Rest der Welt zu herrschen, symbolisch auszudrücken – indem man überall, wo man hinkam, durch möglichst spektakuläre, umfassende und tiefgreifende Umgestaltungen der Naturlandschaft eine künstliche Natur, eine Natur aus zweiter Hand erschuf. Diesem Zweck diente ein hemmungsloser Transfer von Tieren und Pflanzen rund um den Globus, vor allem aber von Tieren:****

Globale Tiertransfers in der Neuzeit © G.Liedl

Fundamentalökologie beruhigt das Gewissen. Die ‚Insellogik‘ enthält, wie Bild zeigt, das Phantasma einer nach Belieben planbaren und frei zu gestaltenden Natur; denn die Inselnatur – das konnte hoffentlich plausibel gemacht werden – ist eine fragile, eine prekäre Angelegenheit. Plakativ gesprochen ist die scheinbar so perfekt ausbalancierte Ökologie der Inseln ein Zustand auf Abruf.

Bleiben wir auf der exemplarischen Doppelinsel Neuseeland. Im 19. Jahrhundert verschifften Acclimatisation Societies englisches Rot- und Damwild, amerikanische Wapitis, indische Himalaya-Thare, Pfaue, Truthühner, Schwäne, Hasen, Marder, Wiesel, Eichhörnchen … und natürlich heimische Singvögel über den Ozean in die Kolonien, vor allem in die ‚weißen‘ Siedlungskolonien. Als Pointe kann angefügt werden, dass 1907 Kaiser Franz Joseph I. eine Gruppe Gämsen offerierte – das Geschenk wurde dankend angenommen, Gämsen bevölkern seitdem nicht nur die Europäischen sondern auch die Neuseeländischen Alpen.

Euphorie schlägt bekanntlich gern in Depressionen um. Aus dem ökologischen Selbstermächtigungstraum des 19. Jahrhunderts gibt es im 20. Jahrhundert ein böses Erwachen. „Als etwa um 1930 das Rotwild in Neuseeland […] zu zahlreich wurde, erklärte man es zum Schädling und hob jegliche Schutzmaßnahmen auf. Im darauffolgenden Jahr begannen dann die ‚Kontrollmaßnahmen‘ der Regierung, und Tausende Hirsche wurden Jahr für Jahr abgeschlachtet. Dabei war man aber nur am Verkauf der Häute interessiert, das Wildbret, wahrscheinlich an die 3.000, 4.000 Tonnen, ließ man im Busch verrotten. Weitere 75.000 Hirsche überließ man kommerziellen Fleischjägern, die allein im Jahre 1967 rund 2.600 Tonnen Wildfleisch nach Europa exportierten. Die Bestandsreduktion wurde aber nicht allein mit Schusswaffen durchgeführt, ein paar Jahre lang versuchte man es auch mit vergifteten Karotten, die man von Flugzeugen abwarf. Eigentlich war diese Methode gegen Gämsen und Thare gedacht, doch fielen ihr auch unzählige Hirsche zum Opfer“ (Whitehead: Encyclopedia of Deer, Seite 53).*   

Was im Inselstaat lange vor der Jahrhundertmitte als gigantischer Freilandversuch in Gang gesetzt worden war – ein unbarmherziger Vernichtungskrieg (noch dazu mit untauglichen Mitteln) gegen einen gar nicht kleinen Teil der lokalen Fauna –, erreichte, als neueste Erkenntnis der Umweltwissenschaften etikettiert, im letzten Drittel des Jahrhunderts Europa, genauer gesagt das deutschsprachige Mitteleuropa, wo der Boden durch eine romantisch getönten Heimat-Ideologie sozusagen immer schon aufbereitet war. Denn auch der Heimatbegriff gehorcht ja der Insel-Logik (wie der Philosoph sagen würde). Etwa ab 1980 wendete sich der Naturschutz von konkreten tages- und wirtschaftspolitischen Fragestellungen, vom Kampf gegen Umweltschädiger aus Landwirtschaft, Industrie und Politik ab und einer ideologisch getönten Grundsatzdebatte zu – ob und wie die heimatliche Natur von fremden, ergo dessen schädlichen Einflüssen gereinigt werden könne.

Umweltschutz – grundsätzlich oder pragmatisch? Schon die frühesten Beispiele für eine ‚überfremdete‘ Natur sind eingebettet in das Theorem der Faunen- und Florenfälschung, womit man einer auch im Nationalsozialismus gängigen Wortwahl folgt. Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus), Regenbogenforelle (Oncorhynchus mykiss) und Waschbär (Procyon lotor) – alle drei Arten stammen aus Nordamerika – wurden stellvertretend für eine ganze Entwicklung, eine Veränderung, einen Trend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt: Sie standen und stehen für die Störung einer perfekten, weil stabilen natürlichen Ordnung. Schon mit ihrer bloßen Existenz widersprechen sie dem Idealbild dessen, was Land und Leuten erst ihre wahre Identität verleiht: der unverrückbaren natürlichen Ordnung, wo alles seinen angestammten Platz hat, was im Gegenzug jede Veränderung durch irgendwie neu Hinzukommendes ausschließt. Natur steht im Gegensatz zur künstlich-volatilen Welt der Ökonomie (Wirtschaft und Politik, Industrie, Wissenschaft, Welthandel usw.), man kann sich auf sie verlassen. Dauerhaft und stetig, repräsentiert sie den Boden, die Erde, Luft und Wasser, majestätische Berge, Landschaften im Jahreskreis – mit einem Wort: Heimat. Projektion nennt das der Psychologe.    

Grundsätze mögen wichtig sein. Der Weisheit letzter Schluss sind sie nicht. Die Wirklichkeit – und wir bleiben bei den gewählten drei Beispielen – sieht nämlich so aus, dass schon im 19. Jahrhundert Flüsse und Bäche durch ihre hemmungslose Nutzung im Geist der Industriellen Revolution derart ruiniert waren, dass die einheimische Fauna – im Fall der mitteleuropäischen Gewässer waren dies Flusskrebs (Astacus astacus L.) und Bachforelle (Salmo trutta fario)  – daraus verschwanden. Die ‚landfremden‘ Nachfolger, Signalkrebs und Regenbogenforelle, zeichneten sich durch eine höhere Toleranz gegenüber schlechter Wasserqualität und Verschmutzung aus. Die Krise, in der sich die Gewässer Mitteleuropas befanden, war in positiver Umkehrung der Beweis der Resilienz, über die jene neuen Arten verfügten. Ökologisch gesprochen haben Regenbogenforelle und Signalkrebs niemanden verdrängt, sondern nur in Besitz genommen, was an aufgegebenen Lebensräumen und Nischen zur Verfügung stand.

Schon wahr, werte Ökologinnen und Ökologen: Heute, wo die Gewässergüte teilweise wiederhergestellt ist, mag es so scheinen, als wären Regenbogenforelle und Signalkrebs ‚schuld‘ am Verschwinden von Bachforelle und Flusskrebs. Richtigerweise sollte man sagen: die beiden haben ihre Chance genutzt und geben jetzt, wo sich die heiklen Europäer wieder hineinreklamieren möchten in ihre ökologischen Nischen, diese nicht freiwillig auf. Und sie verteidigen ihre Position mit den geeigneten biologischen Waffen: so ist der amerikanische Signalkrebs Träger der Krebspest, gegen die er selbst immun ist, nicht aber der europäische Flusskrebs, und die mit Klimawandel & Co. besser zurechtkommende Regenbogenforelle hat höhere Vermehrungsraten als ihre europäische Konkurrentin.

Ähnliche Dispositive wird man auch bei vielen anderen Alien Species entdecken; so konnte sich unser drittes Beispiel, der Waschbär, in den von konkurrierenden Beutegreifern weitgehend frei gemachten Revieren niederlassen (die Zeit seines Aufstiegs fällt mit der Hochblüte der ‚Raubzeug‘-Bekämpfung zusammen, als etwa dem Fuchs großflächig mit allen Mitteln, selbst durch Vergasen seiner Baue zu Leibe gerückt wurde, und der Fischotter ausgerottet war).     

Dabei wäre die pragmatische Lösung dieses bloß vermeintlichen Dilemmas einfach, wie sie ja auch auf der Hand liegt. Man unterstelle möglichst viele der als problematisch empfundenen Neuankömmlinge (deren Ankunft in freier Wildbahn ja meist ohnedies schon viele Jahrzehnte, manchmal sogar über ein Jahrhundert zurückliegt) der Jagdgesetzgebung, dem Fischereirecht oder anderen vergleichbaren Regelungen – sie unterlägen damit automatisch dem Grundsatz lokal abgestimmter Kontrolle bei nachhaltiger Nutzung ihres ökologischen und wirtschaftlichen Potenzials: Krebse und Forellen sind, wie man hört, stark nachgefragte Delikatessen; und der Waschbärpelz (ich weiß, hier betrete ich vermintes Terrain ...) zierte früher die Schultern so mancher schönen Dame. Im Gegensatz zu einer Insel sind die Landschaften Mitteleuropas keine isolierten Ökosysteme; sind die dort lebenden Pflanzen und Tiere an den ständigen Wandel, das Kommen und Gehen alter und neuer Weggefährten gewöhnt, seit Tausenden von Jahren. Wäre es anders, sie wären längst nicht mehr da.

Und was ist mit dem ökologischen Gleichgewicht? Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, den Verfechtern einer von ‚Störfaktoren‘ und Fremdeinflüssen gesäuberten Natur ihre Sorge um besagte Natur abzunehmen. Wer im Zusammenhang mit lebenden Wesen Kriegsmetaphern gebraucht, von notwendiger ‚Bekämpfung‘, gar ‚Vernichtung‘ spricht, kann nicht als Naturfreund gelten. Nicht in meiner Welt.

„Aber das sind doch Experten, die sich auf Erkenntnisse von Menschen stützen, die sich in Sachen Naturwissenschaft auskennen.“ – Nach diesem Argument ist auch der Vivisecteur ein Freund der Tiere und der Natur: in Sachen Naturwissenschaft ist er zweifellos ein Auskenner. Zugegeben, das klingt reichlich simpel und einigermaßen naiv. Sorry, Girls & Boys: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ (Martin Luther).

Sir David Attenborough hat einmal gesagt (man könnte auch Konrad Lorenz zitieren, der sich ähnlich geäußert hat): „Aus meiner Sicht ist die Natur die größte Quelle der Begeisterung, die größte Quelle der Schönheit und die größte Quelle der Erkenntnis. Sie ist die wichtigste Quelle von vielem, was das Leben lebenswert macht.“

In dieser Natur gibt es keine ‚guten‘ und ‚bösen‘ Lebewesen. Nur Lebewesen.

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* Literatur:

David Attenborough: Der lebendige Planet. Wie alles mit allem vernetzt ist [Living Planet. The Web of Life on Earth]. Franckh – Kosmos Verlag: Stuttgart 2022

Simon Franz Canaval: Globalisierung der Naturnutzung am Beispiel einer Jagdwildart (Dama dama). Diplomarbeit, Universität Wien: Wien 2014

Simon Franz Canaval: The Story of the Fallow Deer: An Exotic Aspect of British Globalisation. In: Environment and Nature in New Zealand (ENNZ), Vol. 9 | 2 (2014)

Alfred W. Crosby: The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492. Westport, Connecticut 1972; deutsche Ausgabe:

Die Früchte des weißen Mannes. Ökologischer Imperialismus 900 – 1900. Darmstadt 1991 (Cambridge 1986)

Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997

Sophia Perdikaris / Allison Bain / Sandrine Grouard / Karis Baker / Edith
Gonzalez / A. Rus Hoelzel / Holly Miller / Reaksha Persaud / Naomi Sykes: From Icon of Empire to National Emblem: New Evidence for the Fallow Deer of Barbuda. The Journal of Human Palaeoecology Volume 23: 1, 2018, Seite 4755

G. Kenneth Whitehead: The Whitehead Encyclopedia of Deer. Shrewsbury 1993

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** Zur europäischen Expansion: BLOG # 17; BLOG # 18; BLOG # 23; BLOG # 27

*** Endemische Tiere Neuseelands – Link

**** Zu einem Beispiel des Bedeutungswandels im ökologischen Akkulturationsprozess Damwild auf der Antilleninsel Barbuda: Perdikaris et al. 2018, Seite 47 ff.; Canaval 2014

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Was wirklich schädlich ist. Ein Zitat als Postscriptum. „Es ist schwer, die Welt ehrenamtlich zu retten, solange andere sie hauptberuflich zerstören. Deshalb müssen wir offenlegen, wer daran interessiert ist, dass alles so weiterläuft wie bisher. Keiner wird mit seiner Bambuszahnbürste und seinem Jutebeutel diese Welt retten können. Was wir brauchen, ist gute Politik“ (Eckart von Hirschhausen, Arzt und Kabarettist; zitiert nach KURIER freizeit, vom Samstag, 12. August 2023, Seite 26).

Darf ich ergänzen? Was wir brauchen, ist gute Politik. Spätromantik mit autoritärer Schlagseite eher nicht.