Das muss ihnen der Neid lassen – wenn die Golfstaaten etwas zur Chefsache erklären, geht die Post ab. Dazu gehört auch das scheinbare Paradoxon, dass in einer Hochburg der Förderung fossiler Brennstoffe die Weichen für das nachfossile Energiezeitalter gestellt werden.
„Europa wird nicht annähernd genug Strom haben, um grünen Wasserstoff zu erzeugen. Eine Hoffnung der EU sind sonnenreiche Staaten in Nahost, die trotz Ölreserven Ökostrom-Anlagen bauen.“*
77 Quadratkilometer – mehr als die Fläche der Stadt Salzburg – umfasst der Solarpark in der Wüste 50 Kilometer südlich von Dubai. 2012 begann man mit der Planung, schon ein Jahr darauf startete die Produktion, heute trägt der nach dem Staatsoberhaupt benannte Mohammed bin Rashid Al Maktoum Solar Park** entscheidend dazu bei, dass in Dubai selbst bereits 15 Prozent des Bedarfs mit Strom aus ‚grünen‘, sprich nichtfossilen Quellen gedeckt werden. Und nicht nur das. Dubai hat sich als erstes Land auf der Arabischen Halbinsel zum Totalausstieg aus Erdgas und Erdöl verpflichtet (bis 2050 will man das geschafft haben).
Nicht kleckern – klotzen: Das gilt in der Stadt der Superlative offenbar für alles und jeden. Dubai stellt nicht nur das höchste Gebäude der Welt zur Schau – den 829,8 Meter messenden Burdj Khalifa –, verfügt nicht nur über die größte Einkaufsmeile, das größte Riesenrad, das größte Hotel und die längste vollautomatische Metro: die Stadt am Golf hat auch einen exorbitant hohen Stromverbrauch. Besonders im Sommerhalbjahr, wenn die Außentemperaturen auf über 50 Grad klettern, und die Klimaanlagen der Häuser, Büros, Hotels und Einkaufszentren auf Hochtouren laufen. Da muss dann, wie gesagt, auch bei der Stromproduktion ordentlich geklotzt werden.
Concentrated Solar Power. Ein Turm steht auch im Mohammed bin Rashid Al Maktoum Solar Park. Er ist zwar ‚nur‘ 262 Meter hoch, dafür kann er 100 Megawatt Solarstrom nicht nur erzeugen sondern auch speichern, sodass in den orientalischen Wüstennächten, wenn in der Luxusmetropole das Leben pulsiert, niemand im Dunkeln sitzen muss. Spaß beiseite. Das aus einem Kranz von Spiegeln zur Turmspitze hin gebündelte Sonnenlicht bringt Salz zum Schmelzen (unsere Beschreibung ist ein wenig laienhaft, aber hoffentlich nicht falsch), dabei wird Wasser erhitzt, der Dampf treibt Turbinen … und so weiter. „Der Vorteil […] ist, dass die geschmolzenen Salze die Hitze lange speichern und so bis zum Sonnenaufgang weiter Strom liefern können.“ *
To whom it belongs – Wasserstoff für die Welt. Die größte Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate boomt seit dreißig Jahren. Von den etwa 3,5 Millionen Einwohnern sind 80 Prozent Ausländer, in der überwiegenden Mehrzahl Arbeiter und Dienstmädchen aus Indien, Pakistan und Bangladesh … So weit, so typisch. „Und sehr viele reiche ‚Westler‘.“* Eben … so weit, so typisch. Globalisierung goes green, sozusagen und als Geschäftsmodell. Denn wie Experten des Welthandels und der Weltpolitik ausgerechnet haben, wird Dubai (wenn es bis dahin Welthandel und Dubai noch gibt) im Jahr 2050 den Energie- sprich Wasserstoffhunger der Welt zu einem guten Drittel stillen können. Vorerst allerdings herrscht noch Business as usual. Mit anderen Worten: Der CO2-Fußabdruck der Einwohner Dubais gehört zu den größten der Welt. Offenbar sind sie sich darüber im klaren. Ihr Energiehunger ist sicher kein Alleinstellungsmerkmal. Doch im Unterschied zu anderen Energie-Hungrigen haben sie aus ihrem Hunger die Startrampe für ein lukratives – ich wiederhole mich – Geschäftsmodell gemacht.
Noch ein Wort zum Naturschutz. Nachbar und Rivale Dubais ist der Zwergstaat Qatar. Aber keine Sorge … wir werden die von uns gelegte Rutsche nicht betreten. Politisiert wird nicht. Es sei denn im Sinn der Hypothese, dass es kaum etwas Politischeres gibt als den Naturschutz. Weil wir mit dieser Ansicht aber ziemlich allein dastehen, lesen wir, statt zu politisieren, Zeitung.
Der Qatar Tribune (Sonntags-Ausgabe) zufolge ist jetzt der Artenschutz auch am Arabischen Golf angekommen. Seit der Gründung des Friends of the Environment Centre – so lesen wir – wurde, um der Bevölkerung die Umweltfrage näher zu bringen („to raise awareness about environmental diversity in Qatar“) so manche Kampagne lanciert. Zum Beispiel die Jugendbewegung My Country’s Bird, eine Vogelschutz-Initiative mit erzieherischem Mehrwert. Volksbildung und Birdwatching, Tierschutz und Wissensvermittlung unter einem Dach: „To provide Qatar’s youth and members of the community information about the birds of Qatar and to promote their interest in birds“.
Qatar Tribune, Sonntagsausgabe vom 31.10.2021
Der Aufklärung folgt die humanistische Tat, „in order to establish a culture that calls for the care and preservation of birds and their living spaces, ultimately contributing to biodiversity“. Tierfreunde und Naturliebhaber im Good old Europe der Romantik und Aufklärung hätten das Projekt einer Citizen-Science-geboosteten Vogelschutzrichtlinie zur Erhaltung der Biodiversität nicht besser formuliert. Auch der Vogel des Jahres fehlt nicht: „We aim to introduce the birds of Qatar by celebrating a different local bird each year as the ‚Bird of the Year’”. Für die Jungen (our children 6 to 14) gibt es das Forum EcoKids. Zum besseren Verständnis der heimatlichen Natur.***
Und für die Großen Agro-Science. „Qatars Hauptproblem in der Landwirtschaft ist der Mangel an Süßwasser und fruchtbarem Boden. Oberflächengewässer gibt es nicht, deshalb ist Grundwasser die wichtigste Quelle für landwirtschaftliche Nutzung. Für den Anbau von Tierfutter wird allerdings entsalztes Meerwasser verwendet. Zur Deckung des steigenden Bedarfs an Süßwasser (die neuen Entsalzungsanlagen müssen mit Energie versorgt werden) ist ein eigener Solarenergiepark im Süden des Landes vorgesehen. Die interessanteste Entwicklung ist jedoch im Bereich sogenannter hydroponischer Systeme zu erwarten. […Diese] kommen gänzlich ohne Erde aus, da sich die Pflanzenwurzeln in ständig bewegtem Wasser, angereichert durch Mineralien und Nährstoffe, befinden. […] Hydroponische Systeme sind äußerst effizient und benötigen nur 25% der Fläche und nur 10% des Wassers im Vergleich zum konventionellen Anbau, weil das Wasser in einen Kreislauf gebracht wird, der vor Verdunstung geschützt ist […]. Alles scheint darauf hinzuweisen, dass diese innovative Technologie großes Zukunftspotential hat und Teil der Lösung der weltweiten Nahrungsmittelproblematik sein könnte. Möglicher Weise führt sie sogar eine echte Wende herbei, indem sie die Kapitalien von ihrem unstillbar scheinenden ‚Landhunger‘ kuriert und ihnen ein anderes, ebenso lukratives, dabei aber weniger riskantes und vor allem ökologisch verträglicheres Investitionsfeld anbietet“ (Al-Aifari 2017, Seite 178 f.). Wer sagt's denn ... Naturschutz für Erwachsene.****
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* KURIER vom 30.5.2023, Seite 4
*** „The six incredible Animals of Qatar“, The Qatar Tribune, Sunday, October 31, 2021
**** Al-Aifari 2017 = Zaid Al-Aifari: Landgrabbing – Agrarinvestition im Zeitalter der Globalisierung. In: Gottfried Liedl | Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 158–179
Gottfried Liedl | Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Mandelbaum Verlag: Wien 2017 [Zur Geschichte der ‚arabischen‘ (‚islamischen‘) Landwirtschaft]
„Die Sacher-Würstel waren schon mal besser.“ – „Ja wenn du auch so fleischsüchtig bist … Wegen Leuten wie dir brennen die Regenwälder.“ Cafés sind Orte der Belehrung. Und die schöne Unbekannte am Nebentisch hat ja auch recht. Der Druck globaler Landwirtschaft auf Ökosysteme und Biodiversität ist zu rund zwei Dritteln auf Viehhaltung zurückzuführen. Tierische Produkte, selbst mit den bestmöglichen Verfahren hergestellt, erzeugen bei gleichen Nährwerten höhere ökologische Auswirkungen als pflanzliche Lebensmittel (Roux et al. 2022).*
Aber die Viehzucht ist bloß die Spitze des Eisbergs. Selbst im veganen Chili sin carne stecken möglicher Weise umweltfeindliche Praktiken. Moderne Landwirtschaft ist kein Ponyhof. Das weiß auch der Birdwatcher. „Die intensive Landwirtschaft trägt die Hauptschuld am Vogelsterben … In den vergangenen 40 Jahren ging die Vogelpopulation in Europa um ein Viertel zurück. Feld- und Wiesenvögel gibt es nur mehr halb so viele. Eine Ursache ist, dass viele Tiere keine Insekten oder Würmer mehr finden, um sich zu ernähren.“**
Entwicklung und Fortschritt – die Erzählung. Allerlei Schönes vom Aufschwung der Landwirtschaft weiß die Geschichtsschreibung zu berichten, seit im Neolithikum vor 10.000 Jahren Menschen erstmals sesshaft wurden und Pflanzen nicht mehr sammelten sondern anbauten, Tiere nicht mehr jagten sondern züchteten. Groß waren die Mühen, noch größer die Errungenschaften – aus Dörfern wurden Städte, überall schossen Türme, Pyramiden und Kornspeicher aus dem Boden, Flüsse wurden begradigt und eingedämmt, man pflügte den Boden, bewässerte das Land … kurz, die Menschheit wuchs und mehrte sich.
Man kann aber auch einen weniger konventionellen Blick auf die Agrargeschichte werfen, indem man sie zum Beispiel von der Evolution des Ernährungsregimes her zu verstehen sucht.*** „Ernährung und Expansion“ sind dann zwei Seiten einer Medaille (Tinhof 2017, Seite 138 ff.) – sie gehören als „Stationen auf dem Weg zur Globalisierung“ (ebd.) zusammen –, wozu noch ein Drittes kommt, der ökologische Aspekt. Mittelalterliche Rodungsexpansion und ‚Vergetreidung‘ der Ernährung führen zu Bevölkerungswachstum; aber ebenso gewiss ist dessen jähes Ende in einer „Rückkehr des Hungers“ (der französische Mittelalterforscher Jacques Le Goff). Die Menschen des Mittelalters – zumindest die Eliten – entwickelten ein Krisenbewusstsein, das bereits eine – wenn man sie denn so nennen will – Ahnung von ökologischen Zusammenhängen bedeutet haben mag und beispielsweise Waldverwüstung mit Bodendegradierung, ausgelaugte Böden mit Unterernährung oder Holzmangel mit wirtschaftlichem Abstieg, sozialem Niedergang und politischem Ruin in Beziehung zu setzen verstand (Tinhof 2017, Seite 142 ff.). Typischer Weise schwächen sich derlei ‚ökologische‘ Sensibilitäten mit den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung wieder ab, der Weg des Umweltschutzes, den Forstgesetzgebung und Bergrecht bereits beschritten hatten, wurde verlassen – zugunsten des alten Schlendrians, der nur den Ressourcenverbrauch kennt, nicht deren nachhaltige Nutzung (ebd., Seite 144).
Damit hatte man „die zweite Stufe – koloniale Expansion und europäische Agrarrevolution“ erreicht (Tinhof, ebd.). „Von der Frühphase der Spanier […] zu den Portugiesen und Niederländern mit den Stützpunktkolonien, dann zu den Engländern mit dem Aufbau von Siedlungskolonien [… bis zum] Abschluss dieser Entwicklung, [… dem] Imperialismus der konkurrierenden Kolonialmächte“ führt der Weg (ebd., Seite 144 f.). Ökologisch verschärfte sich die Gangart im gegenseitigen „Austausch von Pflanzen und Tieren zwischen der Alten und Neuen Welt, auch als Columbian Exchange bezeichnet“ (ebd., Seite 145).
Neue Bewirtschaftungsformen und Landnutzungssysteme (Stall- und Koppelhaltung, Viehfutteranbau, künstliche Düngung, Flurbereinigungen bei fortschreitender Mechanisierung, Auflösen der letzten Reste des Gemeineigentums … man nennt diesen Komplex ‚Agrarrevolution‘) begründen die folgende, die „dritte Stufe, [die] globale Expansion im 20. Jahrhundert“ (149 ff.), die sich durch Industrialisierung, aber auch Reglementierung der Landwirtschaft auszeichnet (ein Wechselspiel aus Liberalisierungs- und Fördermaßnahmen beziehungsweise Protektionismus). Auch im Ernährungsregime bleibt kein Stein auf dem anderen. In Gang gesetzt und aufrecht erhalten „durch einen gewaltigen Energieaufwand und politisch garantierte Handelsfreiheiten“ sorgt „der billige, die verschiedenen Monokulturen miteinander verbindende Transport“ für ständig verfügbare, varianten- und facettenreiche Lebensmittel; was nicht automatisch deren qualitative Güte bedeutet – und schon gar nicht deren ökologische Unbedenklichkeit. Mit dem bekannten Kalauer (der keiner ist), „dass die Zutaten für eine im Supermarkt erhältliche Steinofenpizza aus etwa 20 verschiedenen Ländern kommen und dabei rund 80.000 Kilometer zurücklegen“ (ebd., Seite 150), lässt sich die dritte Stufe des Ernährungs- und Agrarregimes in entwicklungsgeschichtlicher Absicht als Kulminationspunkt suggerieren, sodass die vierte und vorerst letzte ‚Stufe‘ (wenn es denn eine ist) mit der Formel „neue Formen des Agrarischen im 21. Jahrhundert“ beschrieben werden kann und dabei wie ein Einschnitt, Bruch oder Paradigmenwechsel wirkt. Die Umkehrlogik jener (vermeintlich) neuen Formen ist offensichtlich. Urban Gardenig, City Farming, Stadtteil-Gärtnern, Boden-Genossenschaften, Humus-Akademien … und wie die Formen einer niederschwelligen, öko-affinen Nachbarschafts(agri)kultur alle heißen mögen: als Renaissance der vielleicht zu früh totgesagten Allmende bilden sie „eine echte Alternative zur industriellen Landwirtschaft [… und] möglicherweise eine starke Gegenbewegung zur derzeit aktuellen Globalisierung“ (Tinhof 2017, Seite 155; 157).
‚Agrarisierung‘ der Welt. Wenn Utopie den harten Fakten des Status quo begegnet, kippt sie leicht in ihr dystopisches Gegenteil. Ein Blick vom Satelliten hinab auf die Erde zeigt uns, dass es mit der kleinteiligen, umweltverträglichen, gut nachbarschaftlichen Landwirtschaft der Zukunft nicht so weit her ist.
Fakt ist: Wüsten wachsen – ‚echte‘ Wüsten und Agrarwüsten. Was schwindet, sind die letzten tropischen Wälder. „Etwa 11 % der eisfreien Landoberfläche werden weltweit für den Ackerbau genutzt, 26 % als Weideland. Eine Ausweitung der Ackerbaufläche ist nicht zu erwarten, im Gegenteil: In vielen Regionen ist in den letzten 150 Jahren die Hälfte des fruchtbaren Ackerbodens verloren gegangen. Zusätzlich verringert Wüstenbildung die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen“ (Schuh 2008, Seite 148 [Zitat gekürzt]).**** Das mit der „nicht zu erwartenden Ausweitung“ ist natürlich ein Missverständnis. Wie gesagt, die Wüste wächst … Gerodet werden die Wälder als Ersatz für die steigende Zahl ehemals fruchtbarer, nun aber heruntergewirtschafteter Ländereien. Die „in den letzten 150 Jahren verloren gegangene Hälfte“ ist also um ziemlich genau die gleiche Fläche vernichteten Tropenwaldes zu verdoppeln. So funktioniert die Mathematik der Zerstörung: Minus mal Minus ergibt hier nicht Plus …
Gebiete mit großflächiger Bodendegradierung:
Landnutzung im Zeitalter der Globalisierung | © G.Liedl
„Futtertrog, Tank und Teller – sprich Futtermittel, Treibstoff und Nahrungsmittel – sind die drei primären Ziele von Landnutzung, wenn es um die Frage geht, was man auf den verfügbaren Agrarflächen anbaut. In einem globalen Kontext der stetig wachsenden Weltbevölkerung [… erhebt sich die Frage], wie sich das Profitstreben und die Produktionssysteme der internationalen Investoren mit den Bedürfnissen und Produktionssystemen der einheimischen Bevölkerungen zusammenführen lassen. Anders gefragt: Wer hat die Kontrolle über die verfügbaren Ressourcen und zu welchem Zweck?“ (Schmid / Falter 2017, Seite 33 f.; 49 [Zitat gekürzt]).*****
Gute Frage … (Einige werden wohl widersprechen und statt ‚gute Frage‘ ‚Gretchenfrage‘ sagen). Ohnedies kann eine Agrargeschichte ‚der anderen Art‘ (wie sie hier versucht wird) jenes Cui bono – wem zu Nutzen? – nicht beantworten, ohne gleichzeitig eine Ernährungsgeschichte ‚der anderen Art‘ ins Auge zu fassen. „Landwirtschaft [ist nur] als komplexes System ökologischer, ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Elemente [zu] begreifen“ (ebd., Seite 51). Als solchen Spiegel des Nahrungsregimes lassen sich (in chronologischer Reihenfolge) drei Phänomene ausmachen: Industrialisierung, Kapitalisierung und Flexibilisierung ist gleich Globalisierung der Landwirtschaft.
Industrialisierung, Technisierung und Rationalisierung – ungefähr ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – erzeugen im Agrarsektor ein Gefälle der Rentabilität. Als Ausweg bietet sich eine stärkere Kapitalisierung an, um Chancengleichheit zwischen lokalen und internationalen, kleinen und großen Playern zu wahren, mit gravierenden Folgen. Etwa seit 1950 nimmt die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Großinvestoren weltweit zu, Technisierung und Rationalisierung lassen lokale Subsistenzbetriebe verschwinden, ersetzt werden sie durch eine immer weniger diversifizierte, immer präziser dem Weltmarkt angepasste Landwirtschaft. Agrikultur wird zum Gegenstand wissenschaftlich-technologischer Interventionen (Stichwort Green Revolution). Und dann – etwa ab der Jahrtausendwende – betritt auch das vorerst letzte ‚neue‘ Nahrungsmittelregime die Bühne, welches sich „[dadurch] [aus]zeichnet […], dass es flexibel ist“ (Schmid / Falter 2017, Seite 56). Flexibel und global ist dieses Regime, „wobei sich der Wettbewerb […] verschärfte“: ökonomisch durch das Erscheinen neuer Akteure (vor allem in Asien und Lateinamerika), entwicklungspolitisch durch eine Art Neuauflage der Green Revolution – mit ähnlichen Begleiterscheinungen, nämlich Entmündigung lokaler Produzenten und globale Dominanz einiger weniger großer Biotec-Konzerne. Letzten Endes verschärfte sich dieser ‚Ausleseprozess‘ auch ökologisch – durch eine Bodenvernichtung ungeahnten Ausmaßes in Begleitung prägnanter Umweltschäden. Auffälliges Indiz des geänderten Nahrungsmittelregimes und eine unmittelbare Folge davon sind dessen hohe ökologische und soziale Kosten (Schmid / Falter 2017, Seite 59). Ganz zu schweigen von den Faktoren Klimakrise und Artenschwund. Wir wollen es kurz machen: Der postmodernen Landwirtschaft, der Landwirtschaft im beginnenden 21. Jahrhundert ein auch nur halbwegs gutes Zeugnis auszustellen, wird nicht leicht sein. Dagegen ist die Quadratur des Kreises ein Kinderspiel.
(Wird fortgesetzt)
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* Roux et al. 2022 = Nicolas Roux / Lisa Kaufmann / Manan Bhan / Julia Le Noe / Sarah Matej / Perrine Laroche / Thomas Kastner / Alberte Bondeau / Helmut Haberl / Karlheinz Erb: Embodied HANPP of feed and animal products: Tracing pressure on ecosystems along trilateral livestock supply chains 1986–2013. In: Science of the Total Environment, 24. August 2022
** KURIER vom 10.5.2023, Seite 21
*** Tinhof 2017 = Hannes Tinhof: Ernährung und Expansion – Stationen auf dem Weg zur Globalisierung. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 138–157
**** Schuh 2008 = Bernd Schuh: Das visuelle Lexikon der Umwelt. Hildesheim 2008
***** Schmid / Falter 2017 = Michael Schmid / Lisa Falter: Botanische und ernährungspolitische Aspekte des Landraubs. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 33–69
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Zweckdienliche Nachbemerkungen eines Naturliebhabers …
Ein paar Zahlen, die angeben, welchen Stellenwert bei der Wiener Stadtverwaltung Natur und Umwelt haben (aus dem Budget-Voranschlag für 2023)
Geplante Gesamtausgaben: 16.659,1 Millionen Euro (16,66 Milliarden). Davon Umweltausgaben: knapp 932 Millionen (5,6 %):
Tabelle der für 2023 geplanten Umweltausgaben (aufgeschlüsselt)
Quelle: Voranschlag der Bundeshauptstadt Wien für das Jahr 2023 (Wien 2021)
5,6 % der geplanten Gesamtausgaben … wieviel ist das? Für den Umweltschutz im engeren Sinn (etwas mehr als 8,5 Mio.) macht das der MA 22 (Magistratsabteilung für Umweltschutz) zur Verfügung stehende Volumen gerade einmal 0,05 % des Gesamtvoranschlags aus. Nicht wirklich berauschend im Vergleich mit den durchschnittlich 7 %, die für Verkehr bereit stehen, den 14 % für Verwaltung, den 15 % für Bildung und Sport (nicht dass man mich hier missversteht: eh fein, dass man auch für Bildung etwas übrig hat). Aber 0,05 Prozent? Dagegen ist sogar der mikrige Kulturbereich – hier macht die Stadtverwaltung im Durchschnitt 1,5 % bis 1,8 % locker – ein Quotenriese.
Unlängst hat sich ein Teilnehmer meines Ökologie-Seminars über meinen Sager beschwert, Landwirte seien stets die größten Umweltsünder gewesen (bevor sie die Industrie überholte). „Dieser These würde ich persönlich insofern widersprechen, als ich der Meinung bin, dass die Menschen am Land […] (verdienter Maßen) mit Stolz auf das von ihnen Geschaffene blicken. Ich bezweifle bis zu einem gewissen Punkt, dass der Landmensch den Stadtmensch um seinen Lebensraum beneidet“ (Benedict Kessler, Rezension: Gottfried Liedl, Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte, 3 Bände). Geschenkt, Herr Kollege. Aber ich spreche ja auch nicht von heutigen gebildeten und urbanen Landwirten der ‚Generation achtsam‘ (vulgo Biobauern). Sondern habe – Historiker, der ich nun mal bin, seit ich mich selbst aus den elysischen Gefilden der Philosophie verbannte – einen Bauernstand vor Augen, den eine vieltausendjährige Geschichte der Not, des Mangels, der Sorge und der Unterdrückung geprägt hat.
Geplünderte Plünderer, zerstörte Zerstörer. Von einem Leibeigenen des Feudalzeitalters Empathie für Mutter Natur, für Tiere und Pflanzen zu erwarten, ist ungefähr so realistisch wie die Annahme, afrikanische Wilderer könnten zu Rettern der letzten Nashörner mutieren. Für den Leibeigenen oder, um noch ein wenig weiter zurück zu gehen in der Geschichte der Landwirtschaft, für den Feldsklaven eines römischen Latifundienbesitzers waren Naturgegenstände Inbegriff von Zwangsarbeit, Leid und Entbehrung. „Im Schweiße deines Angesichts …“ Wie recht sie doch manchmal haben, die Heiligen Bücher. Zum Ehrennamen wurde ‚Bauer‘ erst durch das Missverständnis (ein Missverständnis, wie es nur urbanem Müßiggang entspringt), Natur sei idyllisch. Geschätzt und geschützt wurde diese ‚Natur‘ denn auch nicht von denen, die sie im Schweiße ihres Angesichts zur (Bauern-)Landschaft machten, sondern von solchen, die in ihren Gefilden lustwandelten. Bis hin zum Grenzwert besagten Lustwandelns, der Jagd – denn selbst diese lässt den wilden Tieren und Pflanzen mehr Schutz angedeihen als der Landwirt, für den besagte Tiere und Pflanzen lästige Ernteschädlinge sind. Warum auch sollte er teilen, wo doch Schicksal und Natur ihn selbst dazu verdammt zu haben schienen, immer nur abzugeben und herzuschenken, bis ihm selbst kaum das Lebensnotwendigste blieb. Geiz und Bauernschläue prägen das Land; Überfluss und ideale Werte gibt es nur in Burgen, Schlössern und Palais. Und in der Stadt, deren Luft bekanntlich frei macht.
Ein Lehrstück von Bauernschläue und Geiz. „Also sagt nicht ‚Bauern’, wenn ihr die gewerbsmäßigen Agenten moderner Landwirtschaft meint. Sonst werdet ihr Opfer eures eigenen urbanen Idealismus, der ‚auf dem Lande‘ den Hüter der Natur zu finden meint, wo in Wirklichkeit deren Zerstörer sitzen.“
Gegenwärtig wird in den Hotspots der Agro-Industrie gern vom Bauerntum gesprochen … und wie man es schützt, hegt und pflegt. „Wutbauern mischen die Regierung auf. Niederlande: Die neue Bauer-Bürger-Bewegung erzielte einen fulminanten Sieg bei den Regionalwahlen. Ihr Ziel: Das strenge Umweltprogramm der Regierung stoppen“ (KURIER vom 17.3.2023). Mit dem Ruf ‚Höfe vor der Schließung bewahren!‘ zogen Hollands Landwirte, unterstützt von Hollands extremer Rechten und begleitet von idealistischen Bürgern, in die Wahlschlacht. Den Gewinn streifen natürlich nicht sie ein. Sondern andere. „Agrarplayer“ (KURIER), in deren vollautomatischen Massentierhaltungs-Ställen rund 35 Millionen Tiere auf den Tod im voll automatisierten Schlachthof vorbereitet werden, sind klarerweise genau nicht jene, deren ‚Höfe‘ (ein Euphemismus, wie er im Buche steht) geschlossen werden sollen.
‚Bauern‘ als Umweltschützer … Wie war das nochmal mit dem Wolf im Schafspelz? „Die mit rund 17 Millionen Einwohnern dicht besiedelten Niederlande haben ein gewaltges Umweltproblem. So groß, dass das höchste Verwaltungsgericht bereits 2019 urteilte: Bis 2030 müssen zwingend 55 Prozent des Treibhausgas-Ausstoßes (ausgehend vom Niveau 1990) verringert werden“ (KURIER vom 17.3.2023, Seite 8). Das ist die urbane Reaktion auf ein rurales Problem. Zugleich Beweis für die Vergeblichkeit idealen Strebens … Auf der Gegenseite gibt es die regionalen Wahlerfolge derer ‚vom Land‘. Sorry, Romantiker, aber grün ist auf dem Lande nur das Gras. Das überdüngte.
Wenn ich meine Lieblings-Gesprächspartnerin und Reisegefährtin aus Jugendtagen zitieren darf: „Attenboroughs Film ist nichts für schwache Nerven.“ Richtig. Aber auch die auf unserem Planeten herrschenden Zustände, welche die Doku ‚Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps‘* beschreibt, „sind nichts für schwache Nerven.“ So besehen hat die Menschheit offenbar ungeheuer starke Nerven. In ihrer erstaunlichen Dickfelligkeit hält sie den steigenden Stress, den sie ‚Mutter Erde‘ und ‚Mutter Natur‘ antut, selber ganz gut aus. Oder sollte man sagen: Ein kleiner Teil der Menschheit tut das? Eine Minderheit besagter Menschheit spürt diesen Stress, diese Belastung schon deshalb nicht, weil sie davon profitiert. Für diesen Teil der Menschheit ist der Zustand, in dem ‚Natur‘ und ‚Mutter Erde‘ sich befinden, geradezu angenehm. „Man hat etwas davon“, wie sie sagen (woher das, ‚was man hat‘, stammt respektive wem es genommen wurde, interessiert nicht weiter).
Und die Anderen? Deren Leidensfähigkeit vulgo Dickfelligkeit verdankt sich einer gut geölten Verdrängungsmaschinerie. Man legt einen frischen Verband an und wirft die nächste Beruhigungspille ein. Dazwischen steigt der Meeresspiegel weiter, brennen die Wälder, leidet die Kreatur. In letzter Instanz entscheidet natürlich nicht der Mensch über sein Schicksal, sondern ‚die Natur‘. Schon die Physiokraten** wussten: Des Menschen Wohlergehen entsprießt dem Boden. Anfang und Ende des Kreislaufs von Wohlstand und Glück bilden die Nahrung spendende Erde mit ihren Gewässern und das von Leben überquellende Meer.
Fruchtbare und weniger fruchtbare Böden. „Wir beobachten schon jetzt, dass durch die Bodendegradation und den Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in einigen Teilen der Welt zurückgeht. Unglücklicher Weise trifft es die armen Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme: Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Was das mit Artenverlust und schwindender Biodiversität zu tun hat, weiß man unter Experten für Boden-Ökologie schon lange. Entscheidend „ist der Verlust der Artenvielfalt unter der Erdoberfläche. Der Boden sollte voller Leben sein. Aber Studien zeigen, dass bis zu 30 % der Landflächen weltweit eine geringe Biodiversität aufweisen. Eine der wichtigsten Aktivitäten der Tiere im Boden ist das Zerkleinern organischer Substanzen, die dann dem Pflanzenwachstum dienen. Wenn wir also die Vielfalt im Boden verlieren, können die Folgen katastrophal sein“ (Richard Bardgett, University of Manchester: Fünf vor Zwölf, 9:22 ff.).
Der Bodenverbrauch ist enorm. „Wir haben weltweit fast 90 % der Feuchtgebiete verloren, wir haben Wälder und Wiesen umfunktioniert – das entspricht 75 % der Erdoberfläche, die nicht von Eis bedeckt ist“ (Robert Watson).
Hauptmotor für den ausufernden Bodenverbrauch der modernen Agrarwirtschaft ist die nicht bis kaum vorhandene Nachhaltigkeit in der Bewirtschaftung der Böden. Statt dem Bodenleben Zeit zur Regeneration zu lassen – das heißt, in den Rhythmus von Säen und Ernten als Zwischenschritt die organische Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit einzufügen –, werden die Anbauzyklen immer kürzer. Der Boden wird zur bloßen ‚Unterlage‘ degradiert, zur Tabula rasa des Ackerbaus.
Ohne kritische Hinterfragung der ökonomischen Denkungsart wird sich das auch nicht so rasch ändern: „Problematisch ist, dass Land gerodet wurde, um unser Produktionsniveau zu gewährleisten, und trotzdem laufend neue Flächen gerodet werden, weil das meist schneller geht und billiger ist. Ein Großteil dieser Rodungen [eine Fläche jährlich so groß wie die Niederlande] wird durch die Nachfrage auf der anderen Seite der Welt angetrieben. Wir wollen günstige Lebensmittel und ein rund um das Jahr verfügbares Sortiment. Der Konsument, der im Supermarkt einkauft, trägt also unwissentlich zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. … Wir haben jetzt die Daten, um die Haupttreiber des Artensterbens zu identifizieren: Soja, Palmöl und das Rindfleisch“ (Toby Gardner, Transparency for Sustainable Economies | TRASE: Fünf vor Zwölf, 26:39 ff.).
„Es zählen zwei Faktoren – die Bevölkerungsgröße, aber auch der Konsum“ (Shahid Naeem, Ökologe, Columbia University: Fünf vor Zwölf, 20:08 ff.). Neben dem Bevölkerungswachstum – manche sagen: mehr als das Bevölkerungswachstum – spielt das Konsumverhalten der Weltbevölkerung eine Rolle. Ein Verhalten, das ob des stetig anwachsenden Ressourcenverbrauchs, den es mit sich bringt, nicht gerade als besonders Nachhaltigkeits-fördernd bezeichnet werden kann: „Wenn es um die Auswirkungen [des Bevölkerungswachstums] auf die Umwelt geht, ist der wachsende Konsum relevanter, der in bestimmten Ländern viel höher ist [als in anderen]“ (Stuart Butchart: Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.). Reden wir Klartext: Im Durchschnitt verbraucht ein Europäer siebenmal so viel wie ein Inder; und ein Amerikaner viermal so viel wie ein Europäer … Denn auch die Umweltverschmutzung treibt das Artensterben an (Fünf vor Zwölf, 20:10 ff.).
Geplünderte Meere. In den letzten vierzig Jahren hat das Ausmaß der weltweiten Fischerei dramatisch zugenommen. Mit kaum vorstellbaren Größenordnungen. So können, wie es heißt, gleichzeitig bis zu 100.000 Schleppnetz-Fischer auf den Meeren unterwegs sein (Fünf vor Zwölf, 17:49 ff.). Nicht dass man dazu von Expertenseite keine Bedenken hätte: „Wir haben eine Datenbank mit Zahlen über den weltweiten Fischfang erstellt und dabei die Situation auf globaler Basis untersucht. Diese globale Betrachtung zeigt eine massive und weltweite Überfischung. Die moderne Fischerei ist ein industrieller Prozess, der von großen Konzernen betrieben wird. [Die dabei eingesetzten Boote] sind Fabriksschiffe. Sie räumen den Meeresgrund mit hausgroßen Netzen ab … und alles, was auf ihrem Weg liegt, landet darin“ (Daniel Pauly, Institut für Ozeane und Fischerei an der University of British Columbia: Fünf vor Zwölf, 17:42 ff.).
Der von Attenborough in seiner Dokumentation zitierte Bericht enthält auch eine bezeichnende Aussage zur Nachhaltigkeit. Vor die Wahl gestellt, auf nachhaltige Weise – also kontinuierlich – moderate Fangquoten zu erzielen, hat die internationale Fischerei „immer den größten Fang in der kürzest möglichen Zeit gewählt“ (Daniel Pauly). Kein Wunder, dass beispielsweise in den Gewässern um China heute noch etwa sechzehn Prozent des ursprünglichen Bestandes übrig sind. Was einen Verlust von mehr als vier Fünfteln bedeutet … in gerade einmal 120 Jahren. Keine Spur von ökologischer Vernunft nach Art der Wissenschaft: „Fischbestände nachhaltig zu bewirtschaften [und] Fischerei in einem Gebiet zu reduzieren, [um] die Population wieder auf ein annehmbares Niveau [zu] bringen“ (Julia Jones, Bangor University: Fünf vor Zwölf, 18:06 ff.) war für die gewinnorientierte Fischerei noch nie die erste Wahl. „Selbst dort, wo es Fischfangquoten gibt, werden sie nicht umgesetzt. Und in vielen Teilen der Welt gibt es dergleichen Vorschriften nicht einmal“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme).
Schlägt Mutter Natur zurück? Krankheiten und Pandemien. Peter Daszak von der Eco Health Alliance ist einer von denen, die hier ein kräftiges ‚Ja‘ auf den Lippen haben. „Wir sehen, wie sich Pandemien häufen … und bei jeder dieser Krankheiten haben wir untersucht, wo auf der Welt sie ihren Ursprung haben. Was dort vor sich geht und was die Ursache dafür sein kann. Und jedes Mal waren der Mensch und sein Einfluss auf die Umwelt die Verursacher der auftretenden Krankheit.
So gibt es heute mehr Tierhandel als je zuvor. Es sind die Märkte, wo Tiere mit ihren Fäkalien Viren verbreiten, Tiere, die von uns getötet werden. Viren können sich an solchen Orten unglaublich gut verbreiten.
Und noch etwas fördert die Entstehung neuer Krankheiten: Jeden Tag dringen wir etwas weiter in den Lebensraum der Wildtiere ein. Einunddreißig Prozent aller neu auftretenden Krankheiten sind entstanden, wenn neues Land erschlossen worden ist. … Jeder dieser Schritte im Prozess bringt Menschen näher in Kontakt mit Wildtieren – und deren Viren“ (Fünf vor Zwölf, 16:07 ff.).
Es ist paradox. Gerade die unauffälligsten Beteiligten sind in diesem Prozess die wirkmächtigsten – das gilt nicht nur für die Krankheitserreger selbst. „Virenforschung beweist – wenn Menschen ihren Lebensraum umwandeln, spielt noch etwas anderes mit. Alle Arten beherbergen Krankheiten; es sind aber die kleinen Tiere, welche die meisten Erreger und Viren, die auf den Menschen überspringen können, speichern. Solange es intakte Lebensräume mit hoher Artenvielfalt gibt, werden sie in Schach gehalten. Wenn jedoch Menschen Lebensräume zerstören, verschwinden zuerst die Großen, die Raubtiere … Die kleineren Tierarten sind die Gewinner, sie vermehren sich unbegrenzt. Damit erhöht sich natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns krank machen“ (die Ökologin Felicia Keesing vom Bard College, New York: Fünf vor Zwölf, 29:38 ff.). Anscheinend sind unsere Optionen für eine maßgeschneiderte Welt à la Anthropozän doch nicht so gut, wie wir dachten.***
Was tun? Ein Vorschlag zur Güte. Für Nicolas Stern von der London School of Economics sind die Perspektiven klar: „Als erstes müssen wir die Art, wie wir unsere Wirtschaft führen, resetten. … Ich war an einer Studie beteiligt, in der wir die besten Wege aus dieser Krise durchgedacht haben. Wir haben festgestellt, dass Maßnahmen, die gut sind für die Umwelt, uns zugleich auch aus der Krise herausführen, in der wir uns befinden. Wir müssen die Schäden dramatisch begrenzen, die wir durch Produktion und Konsum verursachen – das ist der Preis“ (Fünf vor Zwölf, 39:42 ff.). Soweit, so deutlich.
Nicht weniger rigoros geht sein Kollege Partha Dasgupta vor (Fünf vor Zwölf, 40:48 ff.). Für den Wirtschaftswissenschaftler von der University of Cambridge steht der Umgang mit den Allmenden, den ‚freien‘ Gütern dieser Welt, auf dem Prüfstand. „Bis heute ist die Natur ein freies Gut. Wir benutzen Flüsse zum Abtransport von Schadstoffen. Große Teile des Regenwaldes sind zu erstaunlich niedrigen Preisen abgetreten worden, zu Preisen, die nicht dem Wert entsprechen, den sie de facto für die Welt haben ... Als Ökonom halte ich es für richtig, dass die Menschen für den Nutzen, den sie aus der Natur ziehen, den angemessenen Preis zahlen“.
Gut gebrüllt, Löwe. Dein Wort in Gottes Ohr.
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* Der Film:
Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.
** Zu den Pysiokraten siehe BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022 und diesen Link.
*** Ähnliche Themen aus früheren Blogs:
Umweltzerstörung, Entwaldung, Artenschwund: Link;
Artenschutz und Arterhaltung: Link 1; Link 2 (Waldschutz und Aufforstung: Bäume in Stadt und Land); Link 3 (Stadtbäume und Exoten); Link 4 (Botanische Weltenbummler); Link 5 (Europas Wälder);
Naturschutz als dehnbarer Begriff: Link 1; Link 2; Link 3 (Der Wisent-Skandal);
Welterbe, Weltallmende – vom Wert der Zivilgesellschaft: Link 1; Link 2; Link 3; Link 4.
Literatur:
Franz Essl | Wolfgang Rabitsch (Hg.): Biodiversität und Klimawandel. Auswirkungen und Handlungsoptionen für den Naturschutz in Mitteleuropa. Springer Spektrum: Berlin 2013 (Nachdruck 2017) Link
Anmerkung: Der Ökologe Franz Essl lehrt an der Universität Wien (Botanik und Biodiversitätsforschung). Vom Club der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er zum österreichischen Wissenschaftler des Jahres 2022 gewählt.
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„Alles wird gut!“ (Der österreichische Schauspieler und Kabarettist Robert Palfrader als Wettermoderator im Film ‚Walking on sunshine‘). Manchmal ist es ziemlich erhellend, Europa von der anderen Seite des Atlantiks betrachtet und kommentiert zu sehen. Wenn da auf die Verstocktheit, für die der alte Kontinent bekannt ist, ein zarter Abglanz amerikanisch-zuversichtlicher Denkungsart fällt, hört sich das beinahe charmant an.
„The EU gets down to business“, befinden Laura Millan Lombrana und Akshat Rathi im jüngsten Newsletter des digitalen Börsenjournals ‚Bloomberg Green‘. Gemeint ist die späte aber wenigstens nicht ganz unkonstruktive Reaktion auf Joe Bidens beherzte Initiative zur Förderung grün-innovativer (wenn man sie denn so nennen mag) Unternehmungen und Projekte US-amerikanischer Provenienz … und NUR dieser. Sich plötzlich ausgeschlossen und abgehängt zu sehen, ließ die Europäische Kommission aufwachen – zumindest aus der Perspektive von jenseits des Großen Teichs.
„Eight months after passage of the lavish US climate law, the European Union is considering policy response that marginally improves on the three-year-old Green Deal roadmap for tackling climate change over a decade.“ Zwar: „The measures set to be proposed by the European Commission on Tuesday don't suggest a Washington-vs.-Brussels arms race for the green future.“ Doch immerhin: „New policies in the Net-Zero Industry Act would accelerate permitting and set production targets for technologies including solar panels, wind turbines, heat pumps, batteries and electrolyzers, according to a draft document reviewed by Bloomberg. […] The EU's green programs will add up to $1 trillion in spending this decade, according to projections from researchers at BloombergNEF. From a certain point of view the US is playing catchup with its $369 billion green spending measure — and because some of the American tax incentives are uncapped, the final total could be far higher“ (Newsletter vom 13.3.2023).
Alles wird gut? Zumindest was die Investitionen in eine solare Zukunft betrifft? Mal sehen. „Walking on sunshine“ … vielleicht sogar irgend wann einmal in Good old Europe.
„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" (Goethe). Genau. Er sei es. Weil er es nicht ist. Über das Ausmaß jener eklatant unedlen Haltung weiß man theoretisch Bescheid; in der Praxis jedoch stehen unserem Wissen einerseits mangelnde Kritikfähigkeit, andererseits nicht genügend Leidensfähigkeit im Wege - Homo sapiens ist auch ein begnadeter Verdränger.
Der britische Naturforscher und Altmeister des Dokumentarfilms, Sir David Attenborough, zieht mit 96 Jahren eine Art Bilanz, in deren Mittelpunkt gar nicht er selbst steht. Vielmehr geht es um den Gegenstand seiner lebenslangen Faszination: ‚Natur‘, gelesen als Gemeinschaft der Lebewesen auf dem Planeten Erde. Es ist, man muss es leider so sagen, eine traurige und traurig machende Bilanz. Attenborough kontrastiert die wunderbaren Bilder seines filmischen Lebenswerks (für das wir ihn bewundern und schätzen) mit dem Zustand der Erde im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends abendländischer Zeitrechnung (Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps).*
„Im Laufe meines Lebens bin ich einigen der außergewöhnlichsten Tierarten der Welt begegnet. Erst jetzt wird mir klar, welches Glück ich hatte. Viele dieser Wunder sind dabei, für immer zu verschwinden“ (Attenborough, Fünf vor Zwölf, 1:27 ff.). Der Dokumentarfilmer lässt die Aussagen seiner Interviewpartner Revue passieren. Was die Expertinnen und Experten über den Zustand unseres Heimatplaneten zu sagen haben, klingt alles andere als beruhigend. In Attenboroughs trocken zusammenfassender Formulierung ist es ein Bericht darüber, „wie Menschen Ökosysteme zerstören, von denen wir abhängig sind“.
Arten sterben. Seit es Leben auf unserem Planeten gibt, spielt die Evolution ihr Spiel vom Werden und Vergehen. Dass Arten aussterben, ist also ganz normal. Nicht normal ist das Tempo, in dem das geschieht, seit Homo sapiens aufgehört hat, eine Art unter anderen zu sein. Anders gesagt, es gibt so viele Individuen der Spezies ‚Mensch‘, dass ihr an und für sich nicht gerade zimperlicher Umgang mit den übrigen Playern aus Flora und Fauna durch den schieren Umfang solcher Intervention eine neue, katastrophale Qualität erreicht. Der Ausdruck Anthropozän (‚Zeitalter des Menschen‘) ist die präzise Beschreibung dieses totalitären Einflusses einer einzigen Spezies.
Kathy Willis, Professorin für Biodiversität an der Universität Oxford, bringt es auf den Punkt. „Wir wissen, dass in der Welt der Natur alles in Verbindung steht. Die gesamte Biodiversität ist weltweit miteinander verzahnt, man braucht alle Teile dieses Systems, alle werden benötigt, damit dieses System funktioniert. Wir Menschen mögen glauben, wir stehen außerhalb – aber wir sind ein Teil davon und völlig darauf angewiesen“ (Fünf vor Zwölf, 2:36 ff.). Sie wählt das Beispiel Pflanzenwelt – ein äußerst eindrucksvolles Beispiel: „25 Prozent der untersuchten Pflanzenarten ist vom Aussterben bedroht – jede vierte Pflanze! Wenn das nicht erschreckend ist … Pflanzen unterstützen fast alles, was wir brauchen. Denken Sie an die Luft, die wir atmen … an die Konzentration von CO2 in der Luft … an sauberes Wasser: Bäume reduzieren den Wasserfluss, fangen den Regen ab. Die Wurzeln halten das Erdreich an Ort und Stelle. Fällt man zu viele Bäume, endet es mit einem Erdrutsch. Das haben wir schon so oft erlebt. Und trotzdem machen wir immer wieder die gleichen Fehler.“
Zusammenhänge, wo man sie nicht vermutet. Heute ist eine Million (von geschätzten acht Millionen Arten) akut vom Aussterben bedroht. „Seit 1970 sind Vögel, Säugetiere, Amphibien und Reptilien um insgesamt 60 Prozent zurückgegangen. Große Säugetiere sind aus dreiviertel ihrer ursprünglichen Lebensbereiche verschwunden“ (Stuart Butchart, BirdLife International; Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.).
Für die gefiederten Kollegen ist die Welt mittlerweile ein ungastlicher Ort geworden. Zugvögel werden massenhaft gefangen, getötet, als Delikatessen gebraten und verspeist. Habitate wie Feuchtgebiete oder Wälder verschwinden, Nistplätze werden gerodet. Das Wegbleiben der Gefiederten liegt sozusagen auf der Hand. Woran man vielleicht nicht sofort denkt, ist die Fortpflanzung. Jungvögel brauchen zu ihrer Entwicklung Eiweiß. Unmengen davon. Hauptlieferanten tierischer Proteine aber sind die Insekten. Womit sich der Kreis schließt.
„Circa 10 Prozent der Insekten sind vom Aussterben bedroht. Manche vermuten, es seien noch viel mehr“ (Robert Watson, UN-Plattform Biodiversität und Ökosysteme; Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Wenn uns also Gelsen, Mücken und Fliegen weniger oft sekkieren als früher (weil sie von Umweltgiften dezimiert wurden), bezahlen wir diese Annehmlichkeit mit dem von der berühmten Autorin schon vor Jahrzehnten prophezeiten Stummen Frühling (Rachel Carson: Der stumme Frühling. Erstausgabe 1962).* Weniger Käfer, (Wild-)Bienen, Hummeln und andere Summer & Brummer bedeuten nicht nur weniger gefiederte Kollegen. Für Homo sapiens bedeuten sie auch weniger bestäubte Blüten im Frühling und weniger Früchte im Herbst. Um‘s mal ganz direkt, ganz plakativ zu sagen.
Plündern und Töten. „Viele denken, das Artensterben sei eine erfundene Geschichte, die von Naturschützern erzählt wird. Aber ich habe dies in Kenia selbst erlebt. … Früher lebten Tausende Breitmaulnashörner in Zentralafrika. Doch durch die Jagd und den Verlust von Lebensraum sterben sie jetzt aus“ (James Mwenda, Ol Pejeta Conservancy, Kenia; Fünf vor Zwölf, 5:56 ff.). Der Mann muss es wissen, ist er doch Pfleger und Wächter der letzten zwei Exemplare des Nördlichen Breitmaulnashorns, Ceratotherium simum cottoni.*** Von dieser nördlichen Unterart des sogenannten ‚Weißen‘ Nashorns – die andere Unterart lebt in Südafrika und ist dort ebenfalls bedroht, wiewohl noch nicht ganz am Ende – weiß man wissenschaftlich gesehen nicht allzu viel und wird mangels lebenden Anschauungsmaterials auch nicht mehr viel erfahren. Allenfalls der Historiker könnte auf spektakuläre Felsbilder verweisen, die diesen Vertreter der Megafauna als magisch verehrtes Jagdwild zeigen. Oder die spärlichen Zeugnisse aus der Antike anführen, die den Arena-Auftritt des einen oder anderen Rhinozeros-Kolosses beschreiben – von umtriebigen Tierhändlern aus der damals noch nicht ganz so wüstenhaften Sahara in die Hauptstadt der Welt gebracht, um dort die brutale Schaulust des populus Romanus zu befriedigen.
Nochmals der Wildhüter aus Kenia: „Wilderei ist wie ein Krieg, den wir führen müssen: Jeden Tag verlieren wir zwei oder drei Nashörner in Afrika. Und nicht nur Nashörner.“ Heute setzen Wildtierhandel und Wilderei jährlich mehr als viereinhalb Milliarden Euro um. Illegaler Handel mit Wildtieren und Pflanzen steht an vierter Stelle transnationaler Straftaten – nach Menschenhandel, Waffen- und Drogenhandel. Tierschutz-Expertin Iris Ho: „Wir sprechen von Millionen Tieren, die der Wildtierhandel betrifft; von Tausenden Arten. Angetrieben wird der illegale Handel vom steigenden Wohlstand in Asien – in China, in Vietnam und anderswo. Wenn Sie über Geld und Internet verfügen, können Sie im Netz buchstäblich alles bestellen, was sie wollen: entweder als Statussymbol oder für medizinische Zwecke“ (Fünf vor Zwölf, 13:18 ff.).
„Für medizinische Zwecke“ wurden und werden auch die Pangoline oder Schuppentiere (Manis pentadactyla, Manis javanica, Smutsia temminckii, Phataginus tetradactyla und andere) an den Rand der Ausrottung gebracht. Dass Wilddiebe und Händler nicht zimperlich mit der ‚Ware‘ umgehen, bevor diese im Kochtopf der fernöstlich-asiatischen Edelkundschaft landet, darf vorausgesetzt werden. „Wilderei ist ein brutales, grausames Geschäft. Ich habe Video-Aufnahmen gesehen, in denen Pangoline lebendig gekocht wurden. Es ist erschütternd zu sehen, wie diese Tiere getötet werden“ (Nicci Wright, Human Society International; Fünf vor Zwölf, 15:00 ff.).
Nachsatz: Attenboroughs Dokumentarfilm erspart den Zusehern auch optisch nur wenig. Von ‚Marktszenen‘ mit apathisch in engen Käfigen hockenden Todeskandidaten bis zu Bildern von lebendig ausgeweideten Schlangen oder im Todeskampf zappelnden Fledermäusen werden Details gezeigt, wie sie der zartfühlenden Seele besser verborgen blieben, doch für den objektivierenden Verstand zur Analyse besagter ‚Realität nach Art des Hauses‘ – vulgo Raubökonomie – leider notwendig sind. Übrig bleibt dann immer noch ein soziopathischer Rest, der vielleicht mit Methoden der Psychologie erklärt werden kann, dem Historiker aber stets ein Rätsel sein wird.
Was muss man fürchten? Was darf man hoffen? Die Biologin Elizabeth Hadly lehrt an der Stanford Universität. Ihr Fazit zum Schwinden der Biodiversität ist ernüchternd: „Nun ist aber der Rückgang überall gleichmäßig – in Amazonien, der Arktis, in Afrika … und betrifft die gesamte Biodiversität auf dem ganzen Planeten. Wenn wir diese Arten einmal verloren haben, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie zurück zu holen. Auf jeden Fall nicht in einem Zeitraum, in dem wir existieren“ (Fünf vor Zwölf, 3:05 ff.). Auch zum milliardenschweren globalen Handel mit Wildttieren oder Wildtierprodukten konfrontiert uns die Expertin mit extrem Unerfreulichem. Mit angelsächsischem Understatement wird die bittere Pille serviert: „Es gibt viele Möglichkeiten, Teile des Puzzles Natur zu entfernen. Der offensichtlichste ist, Tiere zu töten – und das tun wir oft.“ Sei es direkt, als Wilderei und ‚Bushmeat‘-Beschaffung, sei es in Folge des von uns mitverursachten Klimawandels, der besonders das Leben hoch spezialisierter Pflanzen und Tiere an seine Grenzen bringt. Und zwar buchstäblich. Biotope werden klimabedingt unbrauchbar; was dort lebt, wird in andere Nischen verdrängt – sodass beispielsweise Kälte liebende Organismen immer höher hinauf wandern müssen, bis es schließlich nicht mehr weiter geht. Elizabeth Hadly: „Man nennt das die Rolltreppe des Artensterbens, und wir sehen es überall auf der Welt“. Der weltumspannenden Bedrohung entspricht auf der Gegenseite nichts Gleichwertiges. „Die Problematik besteht darin, dass wir keine Umweltgesetze haben, die weltweit gelten.“
Keine Hoffnung also … Oder doch? „Vor 40 Jahren hatte ich eine der einprägsamsten Erfahrungen meines Lebens. Ich war in den Virunga-Bergen … und dort bin ich einigen der wenigen verbliebenen Berggorillas begegnet. … Es war eine unvergessliche Erfahrung. Aber sie war von Traurigkeit gefärbt: ich dachte, ich würde die Letzten ihrer Art sehen“ (David Attenborough).
Was aus Attenboroughs ‚Letzten ihrer Art‘ geworden ist, erzählt uns jemand, der es wissen muss. Prosper Uwingeli ist Ranger im Volcanoes National Park, Ruanda: „Früher gab es Spannungen zwischen der Parkverwaltung und der Gemeinschaft, wir hatten viele Wilderer, die Schlingen auslegten und Bambus abholzten. Heute haben wir über zweihundert Ranger, und ihre Aufgabe ist es, Gorillas zu beobachten und ihren Lebensraum zu schützen. Die Regierung hat ein Programm zur Aufteilung der Einnahmen aus dem Tourismus erstellt. Die Dinge haben sich geändert“ (Fünf vor Zwölf, 45:55 ff.). Und die Expertin für Gorillaschutz, Anna Behm Masozera sekundiert: „Die Koexistenz von Menschen und Berggorillas schien vielen nicht machbar. Aber in den darauffolgenden Jahrzehnten besserte sich die Lage. Die Regierungen, Naturschutzorganisationen und die lokalen Gemeinschaften haben zusammengearbeitet. … Ein Teil des im Tourismus erwirtschafteten Geldes kommt den angrenzenden Gemeinden zugute. Dadurch wurde der Lebensraum der Gorillas nicht weiter für landwirtschaftliche Bedürfnisse reklamiert. Und die Population hat sich erholt. Ihre Zahl hat heute die Tausend erreicht – und überschritten. Die Veränderung ist nicht von heute auf morgen passiert. Aber wenn sie hier erreicht worden ist – wo der Bevölkerungsdruck so groß und die Politik so kompliziert sein kann, vor allem zwischen den Staaten –, dann glaube ich, dass das auch anderswo erreicht werden kann“ (Fünf vor Zwölf, 45:31 ff.). Der geschätzte Freund, die ehrenwerte Freundin der Natur – können sie das glauben? Oder sind sie aufs Prinzip Hoffnung angewiesen ...
Wen kümmert die Natur? Grosso modo ist die Menschheit am Naturschutz nicht interessiert. Unlängst ging eine weltweite Kampagne zum Schutz der Meere zu Ende. Der Petition namhafter NGOs haben sich gerade einmal fünfeinhalb Millionen Menschen angeschlossen. Hört sich nicht wirklich viel an – und ist es auch nicht. Man müsste (bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden) fast 2.000 Personen ansprechen, bevor man eine fände, die auf die Frage: Kümmert dich der Zustand der Natur? mit ‚Ja‘ antwortet. Wir Naturfreunde sind eine Minderheit, den Ureinwohnern Amazoniens vergleichbar.
Martin Luther soll gesagt haben: „Wüsste ich, dass morgen die Welt untergeht, ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“
(Wird fortgesetzt)
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* Der Film:
Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.
** Literatur:
Rachel Carson: Silent Spring. US-amerikanische Erstausgabe: 27. September 1962 (Verlag: Houghton Mifflin). Manche sehen in dem Buch den Beginn der weltweiten Umweltbewegung; andere bezeichnen es gar als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts.
*** Links:
Breitmaulnashorn 1; Breitmaulnashorn 2; Gewilderte Schuppentiere
Siehe auch BLOG # 10 vom 1. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann“; sowie BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2“.
In unserer gegenwärtigen Weltordnung hat nur dasjenige einen Wert, erfreut sich nur dasjenige eines Rechts auf Schutz und Schonung, was „jemandem gehört“. Wobei Letzteres noch weiter präzisiert werden muss: Dass mir „etwas gehört“, darf ich, genau genommen, nur behaupten, wenn ich der Eigentümer dieses ‚Etwas‘ bin; etwas bloß zu besitzen reicht nicht aus, um vor dem Hohen Gericht der kapitalistischen Ordnung zu bestehen. Das zeigen die unzählbaren Fälle einer rücksichts- und sanktionslosen Enteignung von Besitzern vermeintlich ‚herrenloser‘ Güter, wie sie uns als Geschichte einer sogenannten Zivilisation vulgo Eroberergesellschaft bis zum Abwinken überliefert worden sind.
„Ja, aber es wäre doch schön, wenn Menschen das Seiende bedingungslos wertschätzten und respektierten – gewissermaßen als es selbst!“ – „Genau: es wäre schön …“ Wovon das imaginäre Zwiegespräch handelt, ist exakt unser Thema – die Allmende, etwas, das ‚allen‘ gehört und daher von ‚allen‘ respektiert zu werden hat. Nimmt man den Begriff ernst, denkt man also beim Wort „alle“ tatsächlich an alle Menschen – an die Menschheit, wenn der pathetische Ausdruck gestattet ist –, dann landet man unweigerlich dort, wovon mein heutiger Beitrag handelt: bei der Welt-Allmende. Ein großes Wort – das uns eine Menge Arbeit macht. Definitionsarbeit, versteht sich.
Die Welt-Allmende, ein Definitionsversuch. Die geneigte Leserin, der geduldige Leser mögen mir gestatten, den Eingangs gesponnenen Gedankenfaden wieder aufzunehmen und zu fragen, was man damit meint, wenn man sagt, etwas sei ein herrenloses Gut. Niemandem zu gehören kann ja per se nicht schlecht sein – haben wir doch gelernt, dass Unabhängigkeit ein Synonym sei für Freiheit. Was aber, wenn es sich dabei um eine ganz spezielle Spielart von ‚Freiheit‘ handelt – um Vogelfreiheit? Das gute deutsche Wort bezeichnet eine Freiheit, die dem Vogel, der sie hat, alles andere als Glück bringt. Es meint das Recht jedes Beliebigen, besagten ‚freien Vogel‘ zu verfolgen, zu fangen und nach Lust und Laune zu behandeln, in letzter Instanz: zu töten. Dieser ‚freie Vogel‘ war zu Zeiten, als das Wort entstand, ein echter Vertreter unseres Untersuchungsgegenstandes. Er war eine typische Allmende.
Ein erster Schluss könnte lauten – und tatsächlich wurde er auch massenhaft gezogen: Was niemandem gehört, ist vogelfrei, sprich zu jedermanns sanktionsloser Verfügung. Was niemandem gehört, gehört also nur theoretisch allen, praktisch demjenigen, der schnell genug ist, den freien Vogel allen anderen wegzuschnappen.
„Wie ärgerlich ist das denn! Was allen gehört, gibt es in Wirklichkeit gar nicht? Nur der Möglichkeit nach? …“ – „Du sagst es … und bist damit in bester Gesellschaft. In Gesellschaft jener nämlich, die schon immer behauptet haben, die Allmende sei eine haltlose Vorstufe zu dem, was einzig Bestand hat: Privateigentum.“* – „Es sei denn, wir weisen den Verfechtern des Privateigentums nach, dass sie selbst gar nicht wollen können, was sie als Idealzustand behaupten: dass jedes Phänomen von Wert, um von Bestand zu sein, einen Eigentümer haben muss.“ – „Du denkst an die Luft zum Atmen?“ – „Zum Beispiel.“
„Drei Bereiche, die keinem Einzelnen gehören dürfen, wenn sie ihrer Bestimmung gerecht werden sollen.“ So könnte es Kant formuliert haben. Wir anderen, eher pragmatisch Denkenden, reimen uns die drei kritischen Bereiche aus der Lebenserfahrung zusammen (mit Hilfe des Gesunden Menschenverstandes). Dass die Aufzählung vollständig sei, behaupten wir freilich nicht.
Das gilt auch hinsichtlich der Schönheit von Natur. Nicht nur weil sie Fischstäbchen liefern, sind die Meere unser aller Erbteil (was schon wieder pathetisch formuliert, deswegen aber nicht falsch ist). Und Wale, die größten Lebewesen, welche jemals auf dem Blauen Planeten gelebt haben, sollten überhaupt keinem Nützlichkeitskalkül unterliegen; sie sind – mit Kant zu reden – erhaben; grandiose Vertreter dessen, was der Philosoph aus Königsberg das „Naturschöne“ genannt hat. Dass Zugvögel (und andere wildlebende Tiere) schon per definitionem kein Privateigentum sein können, scheint zwar akzeptiert, und die Öffentlichkeit in Gestalt des Staates zeigt hier mit mehr oder weniger großem Nachdruck Verantwortungsbewusstsein … Allerdings, eine echte Welt-Allmende sind sie nicht.** Auch das sogenannte Weltnaturerbe der UNESCO „tut ja nur so, als ob“. Mangels gesetzlichen Durchgriffsrechts nämlich.
Nachsatz und Resümee. Die hybriden Formen des Umgangs mit Natur, wie sie dem Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheinen – Ergebnis ist ein Kultur- respektive Naturgegenstand zweiter Ordnung – erlauben es, Kunstschönes und Naturschönes in einem Atemzug zu nennen. Kunstschönes und Naturschönes sind die beiden Seiten ein- und derselben Medaille. Ein Text in zwei Sprachen, die sich ständig ineinander übersetzen.
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*Literatur:
Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons. In: Science 13 Dec 1968, Vol. 162, Issue 3859, 1243–1248;
Elinor Ostrom: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge University Press: Cambridge – New York – Melbourne – Madrid – Kapstadt 1990
** Anmerkung:
Wie weit man noch davon entfernt ist, den natürlichen Reichtum als Welt-Allmende zu verstehen – geschweige denn sich zu durchschlagskräftigen Maßnahmen aufzuraffen –, zeigt ein Blick in unseren eigenen europäisch-mediterranen Vorgarten. Nicht nur stehen „Neptuns Gärten“ selbst durch Küstenverbauung, Meeresverschmutzung und Überfischung unter größtem Druck, auch im Luftraum darüber und an seinen Gestaden ist das Mittelmeer Schauplatz einer rücksichtslosen, nein: ruchlosen Plünderung. Plünderung dessen, was mit Fug und Recht eine Welt-Allmende genannt zu werden verdiente … und wenn nicht das, dann doch Allmende der Europäerinnen und Europäer. Vor den Augen besagter Europäerinnen und Europäer werden von Geschäftemachern und ihren sich selbst wohl zu ‚armen Hungerleidern‘ hochstilisierenden sogenannten ‚Jägern‘ in Malta, Zypern, Syrien, Libanon und Ägypten jährlich mindestens 25 Millionen Zugvögel illegal geschossenen oder gefangen.
Links: Vogelfänger 1; Vogelfänger 2; Vogelfänger 3
Siehe auch BLOG # 17 vom 5. Januar 2023: „Botanische Weltenbummler: Pflanzen & Weltsysteme“
In der letzten Einheit vor den Weihnachtsferien stellten mir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Proseminars eine jener Fragen, die man gemeinhin als ‚Gretchenfrage‘ bezeichnet – in diesem Fall war es die Frage nach dem ‚Weltsystem‘ (verstanden als wissenschaftlicher Begriff und als historische Realität). Im vorigen Beitrag (siehe oben) habe ich mich dieser Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen angenommen; das komplexe Thema konnte ich freilich nur holzschnittartig grob skizzieren. So seien an dieser Stelle ein paar zusätzliche Überlegungen angefügt, und was zuletzt vielleicht ein wenig zu kurz kam – die ÖKOLOGISCHEN IMPLIKATIONEN von Weltsystem und Globalisierung – , soll jetzt im Focus stehen.
Europas Wälder sind noch nicht fertig. Europa als Kontinent war nach den Eiszeiten ökologisch 'leergeräumt'. Im Gegensatz zu Nordamerika, wo die großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen, bildeten die grosso modo ost-westlich ausgerichteten Gebirgszüge des Alten Kontinents (Karpaten, Balkangebirge, Alpen, Pyrenäen ...) für Pflanzen, die dem nach Süden vorrückenden Eis ausweichen wollten, unüberwindliche Sperrriegel – sie starben aus. Umgekehrt war die Besiedlung von Süden her aus demselben Grund ebenfalls stark erschwert, sodass am Ende der Eiszeit die Wiederbewaldung Mittel- und Westeuropas nur mit einigen wenigen Arten erfolgte. Fazit: Bis heute weisen mittel- und westeuropäische Wälder signifikant weniger Arten auf als vergleichbare Wälder Nordamerikas.
Da kommt die Globalisierung, kommen die beiden Weltsysteme ins Spiel. In diesen Systemen – dem vormodernen des 13. Jahrhunderts und dem modernen ab dem 16. Jahrhundert, das auch heute noch seine Wirksamkeit entfaltet (und zwar mehr denn je) – bewirkte die erhöhte Kommunikation zwischen den Erdteilen, dass sich in einem Aufholprozess ohnegleichen jetzt auch Europas Pflanzenwelt langsam aber stetig der Artenfülle nähert, wie sie vor den Eiszeiten geherrscht hatte (und in Fernost oder Amerika nie verschwunden war).
Eine Pflanzengemeinschaft holt auf. Vor den letzten großen Eiszeiten wuchsen in Europas Wäldern außer den heute vorkommenden Spezies – um hier vom ehemaligen Artenreichtum nur eine kleine Andeutung zu geben – Ginkgo (Ginkgo biloba), Blauglockenbaum (Paulownia tomentosa), Trompetenbaum (Catalpa) und Götterbaum (Ailanthus altissima); sowie verschiedene Palmenarten. Dieser Zustand stellt sich seit dem 13. Jahrhundert und vermehrt seit dem 16. Jahrhundert mit Hilfe des Menschen und dessen globaler Tätigkeit, Kommunikation und Reiselust langsam wieder her.
Nochmals der Wald. In aufsteigender Reihe erinnern Buche und Tanne (sie kamen im Neolithikum, während der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit nach Mittel- und Westeuropa), Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche (Römerzeit bis Hochmittelalter), Rosskastanie, Flieder, Mannaesche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel (Zuwanderer der Neuzeit) an die prinzipiell noch immer nicht abgeschlossene florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit. Sie erinnern uns daran, dass die ehemalige Artenvielfalt noch nicht wiederhergestellt ist und die Neuankömmlinge gewissermaßen nur einen prähistorischen Auftrag erfüllen.*
Nachsatz für Botaniker, Ökologen oder Naturschützer, die sich wegen der ‚Neuen‘ um die Artenvielfalt unter den ‚Alten‘ Sorgen machen: Keine einzige ursprüngliche Art ist bisher wegen einer später hinzu gekommenen verschwunden.
Die noch nicht gefüllte Nische. Wenn sich aus der Waldgeschichte Mittel- und Westeuropas nach rund 10.000 Jahren Wiederbesiedlung eine Schlussfolgerung ziehen lässt, dann vielleicht die folgende. Man nehme den Fall, dass es einer ehemals „ortsfremden“ Art gelungen ist, nachhaltig stabile Populationen auszubilden, ohne die vorgefundene Artenzahl zu vermindern. Dies könnte ein sicheres Indiz dafür sein, dass die Nische, in welcher solch neues Leben fußgefasst hat, vorher unterbesetzt war. Anders gesagt – in einer solchen schwach besetzten Nische wird mit großer Wahrscheinlichkeit niemandem essentiell etwas weggenommen, jedenfalls solange nicht, bis das Areal tatsächlich optimal (also vollständig) ausgenützt ist. Neobiota, die sich erfolgreich etablieren konnten, haben den Raum, in dem sie vorkommen, nicht gewaltsam frei gemacht (wie das fundamentalökologische Vorurteil lautet), sondern sind Anzeichen dafür, „dass dort noch Platz war“. Die Regel, nach welcher die später Kommenden offenbar handeln, geht so: Der, welcher in ein bereits bewohntes Haus neu einzieht, benötigt weniger Platz als jener, der das Haus ursprünglich für sich geplant und gebaut hatte. Not macht erfinderisch, Konkurrenz belebt das Geschäft.
Übrigens … Der Klimawandel unterstützt diesen ökologischen Bereicherungsprozess zusätzlich. Auch das muss einmal gesagt sein...
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* Literatur: Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003; Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa – von der Eiszeit bis zur Gegenwart. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2010
„Botanische Weltenbummler“ – was soll das sein? Sind das kosmopolitische Botaniker? Oder Pflanzen, die um die halbe Welt gereist sind, um an ihren Standort zu gelangen? Wenn man Berichten aus früherer Zeit (als es noch Abenteuer gab) Glauben schenken darf, offensichtlich beides:
„Im Zeitalter wunderbarer Entdeckungen [… haben wir] die Geheimnisse der Natur enthüllt und erforscht; eine neue Physiologie ward eingeführt. Es ist ein Zeitalter täglicher Fortschritte in allen Wissenschaften, vor allem in der Pflanzengeschichte. Zu diesem Zweck haben nicht nur Privatleute, sondern auch Fürsten und Großgrundbesitzer viel Energie darauf verwandt, neue Blumen für ihre Parks und Lustgärten zu finden, und zu diesem Zweck Pflanzenjäger ins fernste Indien entsandt: Diese haben Gebirge und Täler durchstreift, Wälder und Ebenen, jeden Winkel der Erde durchforscht und alles, was verborgen war, ans Licht und vor Augen gebracht.“
So der englische Pflanzenforscher John Ray im Jahr 1690 (zitiert bei Pavord 2010, Seite 419).* And rightly so. Wenn wir uns heute die Botanischen Gärten der Städte und Metropolen mit ihrer Pflanzenvielfalt ansehen; wenn wir die Bewegungen auf den Getreide- und Rohstoffbörsen der Welt studieren; bei jedem Gang durch den Supermarkt; im Restaurant, beim sprichwörtlichen Italiener, Chinesen, Inder … Wir werden den Ergebnissen obgenannter Reisen besagter ‚Pflanzenjäger‘ begegnen, und sei es auch nur als Ingredienzien eines köstlichen Risotto oder schmackhaften Chilli. Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon im letzten Dorf des hintersten Winkels eben dieser Welt vorbeigeschaut hätte. Ganz zu schweigen von jenen, die gekommen sind, um zu bleiben.
Weltsystem. Dass das ganze irgendwie mit Globalgeschichte zu tun hat, ist eine naheliegende Vermutung. Die denn auch gleich einen weiteren Begriff ins Spiel bringt: Weltsystem. Dieses ist ein „vom amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein vorgelegtes Konzept, […] welches die traditionellen, früher wirtschaftlich und politisch unabhängigen Gesellschaften immer mehr integriert. […] Das Weltsystem […] expandierte im Zuge der Industrialisierung und des Kolonialismus […] in andere Kontinente“ (Lexikon der Geographie, Eintrag ‚Weltsystem‘).**
Das aber ist erst die halbe Wahrheit. Denn jenes Weltsystem als Voraussetzung für Austausch und Transfer – ob, wie von Wallerstein postuliert, einseitig-übervorteilend oder doch eher gleichgestellt-symmetrisch, sei vorerst dahingestellt – gab es, wenn die Quellen nicht lügen und die historischen Anzeichen nicht trügen, schon früher. Um genau zu sein, rund 300 Jahre vor jenen Ereignissen, die als Industrialisierung und Kolonialisierung bezeichnet werden. Manche sehen in diesem Prozess sogar die ‚Europäisierung (der Welt)‘.
Es begann im Mittelalter. Anders lagen die Dinge im Fall des ‚ersten‘, des vormodernen Weltsystems. Bereits im 13. Jahrhundert existierte ein großer transkontinentaler Bereich, wirtschaftspolitisch zusammengehalten von zwei – nennen wir sie ruhig weltumspannenden – Handelsrouten: Ein System von Landverbindungen im Norden, ein weiteres, maritimes System im Süden. Zusammen bildeten sie einen geschlossenen Kreislauf „von Flandern nach Fernost“, einen geschlossenen Geld-Waren-Kreislauf, der zahlreiche europäische, asiatische und afrikanische Untersysteme dauerhaft miteinander verband.
Die vormodernen Subsysteme: 1 = Europa (Handelsstädte, Feudalstaaten, Italien: Seestädte); 2 = Mongolen; 3 = Fernost; 4 = Vorder- und Hinterindien, Inselindien; 5 = Islamische Staatenwelt; 6 = Sudan- und Sahelstaaten; 7 = Nubien, Äthiopien; 8 = Reich von Monomotapa
Demnach verbindet bereits im 13. Jahrhundert ein System aus regionalen und überregionalen Handelskreisläufen, die einander überlappen, Wirtschaftsräume über Tausende Kilometer hinweg. Gemeinsam stiften diese ‚circuits‘, wie die Sozial- und Wirtschaftshistorikerin Janet Abu-Lughod sie nennt,* einen größeren Zusammenhang, der sich wirtschaftlich-kulturell, aber auch politisch artikuliert und die damals bekannte Welt in einem bis dahin unbekannten Ausmaß geeint erscheinen lässt. Von Flandern, Südengland, dem Rheinland und den Märkten der Champagne im Westen bis ins ferne China reicht diese Welt, verbunden durch regelmäßige, beständige und intensive Handelsbeziehungen. Diesen mittelalterlichen transkontinentalen Austausch mag man – oder mag man nicht – eine erste, eine vormoderne Globalisierung nennen.
Pflanzen (und Tiere) von Ost nach West. Nochmals unser Risotto: Dass wir dieses typisch italienische Gericht in jeder besseren Trattoria zu uns nehmen können (wie übrigens auch die famose Paella beim Spanier um die Ecke), verdanken wir – erraten: dem mittelalterlichen Weltsystem. Durch Vermittlung islamischer Agrarexperten in den Westen gebracht wurden der Reis und die Baumwolle, die Zitruspflanzen und die Dattelpalme (heute in Südspanien und auf Kreta zu bewundern), nebst verschiedenen Gemüsesorten, Gewürz- und Heilkräutern. Sogar die Banane wurde den mediterran-europäischen Klimaverhältnissen angepasst. Importiert und akklimatisiert wurden auch ertragreiche Hirsearten und das Zuckerrohr. Ebenfalls im Mittelalter gelangten durch Vermittlung islamischer Spezialisten die als Futterpflanze unschlagbare Luzerne (Medicago sativa L.) sowie der Alexandrinerklee nach Europa. Die spanische Bezeichnung der Luzerne, Alfalfa, erinnert sprachlich an die arabische Herkunft dieser wichtigen Nutzpflanze, über die in der Fachliteratur zu lesen ist, dass sie die wichtigste Futterpflanze in trocken-heißen Gebieten sei.
© G.Liedl
Auch wenn es nicht ganz hierher gehört – das Thema Tierleben sei zumindest angerissen. So kannte man in Europa vor der islamischen Ära den Wasserbüffel nicht. Der Lieferant der unvergleichlichen echten Mozzarella, die aus Büffelmilch gemacht wird, ist heute in Süditalien und auf Sizilien heimisch, aber auch auf dem Balkan und in Ungarn, wohin ihn am Beginn der Neuzeit die Osmanen brachten. Die europäische Pferdezucht verdankt ihre edelsten Rassen ebenfalls diesem mittelalterlichen Ost-West-Transfer. Und das Merinoschaf, das beste Wollschaf der Welt würde ohne seine ersten Züchter aus dem Hohen Atlas auch nicht existieren. Genauso wenig wie die feine Wolle der Angoraziege Anatoliens ohne den Ost-West-Transfer durch islamisierte Turkstämme der heutigen Textilindustrie zur Verfügung stünde.
Modern Times. Was im Mittelalter begann, setzte sich in der Neuzeit fort – auf wesentlich höherem Niveau und mit ungleich nachhaltigeren Folgen; um nicht zu sagen: Mit ungleich eindrücklicherem Erfolg. Ökonomische Interessen stehen dabei im Vordergrund, sind aber nicht die einzige Antriebskraft für expansives Verhalten; Wissen und Wissenserwerb spielen eine nicht weniger bedeutende Rolle. Die nun anbrechende Zeit der Aufklärer, Physiokraten, Naturwissenschaftler und Philosophen spiegelt ideologisch wider, was sich ökonomisch und politisch auf den Weltmeeren ereignet. Den neuen Kurs, den europäische Schiffe in immer größerer Zahl über immer besser erforschte Meere nehmen, um immer größere Mengen an erlesener Fracht aus exotischen Gegenden in ihre Heimathäfen zu bringen, kann man mit den neuen Diskursen vergleichen, die in besagten Heimathäfen geführt werden: Diskurse, in denen die Biologie in Gärten und Menagerien voller interessanter, weitgereister Gestalten, Objekten eines unermüdlichen Pflanzen- und Tiertransfers, erörtert wird.
Vormodernes und modernes Weltsystem. Einen entscheidenden Unterschied zwischen vormodernem und modernem Weltsystem gibt es jedoch; nämlich die Tatsache, dass im vormodernen System die einzelnen Teile und Player sozusagen auf Augenhöhe mit einander verkehrten, wohingegen das moderne System eine schiefe Ebene bildet, an deren oberer Kante die Player (West-) Europas stehen; sie bilden gemeinsam, aber auch untereinander rivalisierend, das Zentrum, um hier den Ausdruck zu verwenden, den auch Wallerstein benützt.**
Das schlägt sich sogar in der Art und Weise nieder, wie die Systeme ihre Tier- und Pflanzentransfers durchführten. Dabei fällt als Hauptunterschied die Verbreitungsrichtung auf: Im Mittelalter gab es eine klar erkennbare Ost- Westachse; diese bildet die prinzipielle Gleichwertigkeit von Sender (Ost) und Empfänger (West) während der Blüte des vormodernen Weltsystems ab. Aus dem Westen kommt das im Osten hochbegehrte Edelmetall, meist Silber; aus dem Osten das jeweilige Äquivalent in Gestalt der nachgefragten Waren, in unserem Falle neuartige, hochproduktive Pflanzen samt dazu gehöriger elaborierter Agrartechnik.
Dass in der Neuzeit dann die Verteilung der transferierten Pflanzen (Mais, Tomate, Kartoffel; Zuckerrohr, Baumwolle, Kaffee; Soja, die Ölpalme, der Kautschukbaum) und Tiere (Pferd, Rind, Schwein, Schaf; Jagdwild wie Rot- und Damhirsch ... um nur die wichtigsten zu nennen) in alle Richtungen geht – ein Prozess, der bis heute anhält –, lässt sich verblüffend einfach mit der ebenfalls sämtliche Erdteile umfassenden, vom ‚Zentrum‘ Europa aus gesteuerten Kolonisierung der Welt, ihrer Unterwerfung unter ein einziges dominantes Kalkül erklären. Industrialisierung – der agro-industrielle Komplex – hat mit der europäischen Expansion das gemeinsam, dass er von einem Quasi-Punkt ausgehend, in sozusagen konzentrischen Kreisen das größere Ganze durchdringt, bis – zumindest in der Theorie – sämtliche Punkte dieses Ganzen erreicht sind und überall eine einheitliche Qualität hergestellt ist.
Wie war das doch gleich mit den kosmopolitischen Reisenden und ihren Produkten? Zwar soll man sich nicht selbst zitieren … dennoch: Nur wenig Übertreibung steckt in der Behauptung, dass es keine Nahrungs-, Gewürz- oder Industriepflanze unserer Welt gibt, die nicht schon mal im letzten Dorf des hintersten Tals vorbeigeschaut hätte.
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* Literatur:
Janet L. Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A.D. 1250–1350. New York-Oxford 1989;
Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860. Cambridge 1997;
Anna Pavord: Wie die Pflanzen zu ihren Namen kamen. Eine Kulturgeschichte der Botanik. Berlin 2010;
Pirmin Suter: Pflanzen, Botschafter der Globalisierung. In: Gottfried Liedl | Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 11–32
Empfehlenswerte (noch) unveröffentlichte Beiträge zum Thema ‚Pflanzentransfer‘:
Sarah Abdul Kader: Die Dattelpalme und ihre Globalisierung: Zwischen Symbolik und Verbreitung. BA-Proseminararbeit, Sommersemester 2020 | Universität Wien: Wien 2020 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Anton Büchel: Das Erbe Al-Andalus' auf der Iberischen Halbinsel mit besonderer Berücksichtigung von Zitrus- und Palmenkultivierung. Geschichtswissenschaftliche Arbeitstechniken und Archivkunde, Sommersemester 2013 | Universität Wien: Wien 2013 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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David Kaufmann: Quellen der Irrigationssysteme in al-Andalus. Islamische und prä-islamische Perspektiven. BA-Proseminararbeit, Wintersemester 2021 | Universität Wien: Wien 2022 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Tobias Mairhofer: Herrschaft, Ökonomie, Botanik: Ein Modell für die Nutzung von Botanik als Impulsgeber in der Landwirtschaft im Emirat Granada. Abschlussarbeit, Seminar „Frühmoderne im Islam. Die Landwirtschaft in der islamischen Welt. 8. - 16. Jh.“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Sommersemester 2018). Wien 2018 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Caroline Schnur: Avocado – der heißumkämpfte „Smaragd“ Mexikos. Ökologische und soziale Folgen einer Agrarproduktion im Zwiespalt zwischen exhaustiver Landnutzung und blutigem Drogenkrieg. Abschlussarbeit, Proseminar „Europäische Expansion | Ökologie | Globalisierung“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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Andjelo Smoljo: Die Entwicklung von Globalisierung, Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Abschlussarbeit, Seminar „Umwelt- und Agrargeschichte aus globalhistorischer Sicht“, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien (Wintersemester 2018|19). Wien 2019 [Unveröffentlichtes Typoskript]
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** Lexikon der Geographie: Weltsystem
Wieviele Stadtmenschen teilen sich einen Baum? Zahlen lügen nicht, sagt man. In Wien führen derzeit (Waldbäume im Lainzer Tiergarten, im Prater und in der Lobau nicht eingerechnet) rund 190.000 Straßenbäume aus 400 Arten ihr mehr oder weniger strapaziöses respektive komfortables Dasein – da kommt auf 10 Leute ein Baum. Das klingt schon mal ganz gut. Noch besser stehen die Dinge zwischen Elbe und Alster – nur 7 Stadtmenschen teilen sich in Hamburg einen Stadtbaum – und an der Spree: ein Baum ‚gehört‘ gerade mal 5 Berlinerinnen und Berlinern. Urbanes Leben unter Bäumen scheint ein realistisches Szenario zu sein.
Die Ältesten und Größten. „Stadtluft macht frei.“ Für Bäume müsste es heißen: Städtischer Boden macht groß. Zumindest wenn man im Süden lebt. Überall rund ums Mittelmeer – von Haus aus nicht unbedingt eine Gegend, wo man als Baum sein möchte – geht es Bäumen in den Städten gut. Überall zwischen Barcelona und Rom, Marseille und Athen, Palermo und Istanbul, ja sogar in Kairo werden Bäume – Hitzestress hin oder her – richtig groß, viel höher und mächtiger als ihre Vettern und Cousinen auf dem Lande. Der größte Banyan-Feigenbaum außerhalb Indiens wächst in Sevilla; um die Ehre, die älteste Platane der Welt zu beherbergen, streiten sich (nur so als Beispiel) zwei Orte in der Ägäis: Krassi auf Kreta mit einem 2.400 Jahre alten Exemplar und Kos auf der gleichnamigen Insel mit der sogenannten ‚Platane des Hippokrates‘.
Paradiesische Zustände im Verborgenen. Des Rätsels Lösung liegt unter dem Pflaster. Städtischer Boden ist zwar versiegelt, dem Pflanzenwachstum tut das keinen Abbruch. Es stimmt schon – Bäume in der Stadt gibt es noch nicht so lange. Erst mit dem Wachstum der Städte zu Riesengebilden stellte sich die Frage nach städtischem Grün. Stadtbäume führten Jahrhunderte lang ein eher bescheidenes Dasein auf Plätzen oder vor wenigen ausgewählten Gebäuden. Mit der Moderne änderte sich das. Und je länger die Wasser- und Abwasserrohre im Boden liegen (und das tun sie in der Regel seit dem 19. Jahrhundert, als der urbane Mensch anfing, hygienisch zu werden), desto besser ist das für Bruder Baum. Aus den undichten Verbindungsstücken sickert das kostbare Nass; aus anderen Rohren kommt Düngung gratis hinzu.
Schöner leben. Wir sagten es bereits. Stadtbaumarten – die typischen Straßen-, Allee- oder Schattenbäume, die Bäume der Höfe und Hinterhöfe – werden im urbanen Raum größer als dort, wo sie ursprünglich wuchsen. Ökologisch ähneln Städte mit ihren Mauern, hohen Gebäuden und engen Straßenschluchten trocken-heißen Gebirgsgegenden und Felslandschaften. Das engt den Kreis der Kandidaten ein. Im Süden, aber dank Klimawandel zunehmend auch nördlich der Alpen, werden das subtropische bis tropische Arten sein. Denen kommen windgeschützte Plätze und Wärme speichernde Mauern gerade recht.
Nirgendwo im mediterranen Süden werden die Bäume höher und schöner als in den Städten; man könnte meinen, sie hätten sich der Mittelmeerwelt – ihrer von alters her durch und durch urbanen Kultur – auch in dieser Hinsicht angepasst. Wenn es Winter wird, bleibt es zwischen Mauern verhältnismäßig mild. Und im Sommer sind die Umstände trotz Hitze immer noch weniger harsch als draußen auf freiem Feld. Wie der mediterrane Mensch ist auch der mediterrane Baum begeisterter Städter.
P.S. Schon wahr … auch in den Städten ist nicht alles Gold, was glänzt; aber Baumkrankheiten, Schädlingsbefall und Hitzestress sind Themen, die uns im Moment nicht übermäßig interessieren und die wir gern den Zuständigen überlassen: Stadtgärtnern und deren behördlich-botanischen Assistenten. Wen’s dennoch interessiert – Netz und Bibliotheken stellen massenhaft zielführende Einträge und praktische Belehrungen zur Verfügung. Lieber sprächen wir über Fragen der Resilienz und die Rolle nicht einheimischer Baumarten; über Stadt- und Straßenbäume im Klimawandel; über das, wie es stolz genannt wird, „klimafitte Wiener Straßenbaum-Sortiment“; oder darüber, was Bäume mit dem Schwammstadt-Prinzip zu tun haben.* Über die Geschichte der Stadtbegrünung und die Zukunft der Stadtbäume** wird’s vielleicht demnächst einen eigenen Blog geben – mal sehen.
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* Links:
Exotische Stadtbaumarten; Straßenbaum, Stadtbaum; Stadtbäume im Klimawandel; Klimafittes Wiener Baumsortiment; Schwammstadt-Prinzip; Stadtbäume der Zukunft
** Literatur:
Conrad Amber: Bäume auf die Dächer – Wälder in die Stadt! Projekte und Visionen eines Naturdenkers. Verlag Frankh-Kosmos: Stuttgart 2017
Ich gebe es ja zu – als ich zum ersten Mal von jenem deutschen Schüler hörte, der mit neun Jahren beschloss, dafür zu sorgen, dass weltweit Millionen Bäume gepflanzt würden … und diesen Entschluss nicht nur in einer fulminanten Rede begründete sondern das Vorhaben in den folgenden Jahren auch erfolgreich verwirklichte*, war ich nicht nur begeistert. Sondern auch irgendwie neidig. Ich bin seit meiner Jugend ein eigensinniger Baumfreund. Und Bäumepflanzen gehört zu meiner Lebensphilosophie. Der Junge aus Deutschland war eindeutig mein besseres – weil effizienteres – Alter Ego.
Bäume des Südens. Meine Kontakte mit Bäumen haben sich intensiviert, seit ich viel Zeit in einem einsamen Tal im Hinterland von Málaga, Südspanien verbringe. Meine Baumerfahrungen sind mediterran gefärbt. Bäume sind für mich vor allem Wesen, die ihre Arme im harten Licht des Südens ausbreiten: Schattenspender. Meister des Umgangs mit der kostbaren Ressource Wasser. Erst seit wenigen Jahren ist mir klar geworden, dass das größte Verdienst meiner stämmigen Compañeros in ihrer Bedeutung für das große Ganze liegt. Meine Compañeros sind Helden der Klimapolitik. Meister des CO2-Handlings, weil sie dieses Treibhausgas freundlicher- beziehungsweise nützlicherweise der Luft entziehen und in ihren Blättern, Ästen, Stämmen und Wurzeln festhalten. Oder so ähnlich.
Die Sache mit dem CO2. Ich bin kein Botaniker. Aber Baumfreund mit Interesse für ökologische Zusammenhänge. Als solcher lese ich mich ein: Fachlich fundierte Studien** bieten mir eine Faustformel an, die besagt, dass ein Hektar Wald pro Jahr sechs Tonnen CO2 bindet. Das wären je nach Standort und Bepflanzung zwischen 10 und 25 Kilogramm pro Jahr und Baum. Bäume im Süden – mit Ausnahme der tropischen Primärwälder, versteht sich (die stehen uneinholbar an der Spitze) – binden weniger CO2 (zwischen 10 und 15 Kilogramm), ihre nördlichen Verwandten mehr.***
Ein aufgeforstetes Tal. Wer unser stilles Tal im andalusischen Hinterland besucht, kann, wenn er denn möchte, stundenlang unter Bäumen wandeln oder friedlich in ihrem Schatten schlummern. Das war nicht immer so. Vom heutigen Baumbestand (die Anzahl der Bäume bewegt sich im hohen vierstelligen Bereich) wurden drei Viertel von uns gepflanzt. Ursprünglich entsprach der Bewuchs der typischen offenen mediterranen Landschaft (Macchia, Maquis, Monte bajo), wie man sie vom Sommerurlaub kennt: vereinzelte alte Bäume – vor allem Steineichen und Oliven –, dazwischen Grasland und Hartlaubgehölze wie Ginster, Lorbeer, Erdbeerbaum und Oleander. Diese Landschaft gibt es noch immer. Aber sie hat jetzt neue Nachbarn – die Bäume unseres eigens aufgeforsteten subtropischen Parks.
Suptropische Parklandschaft auf der Finca Los Gamos © G.Liedl
Tue Gutes und rede darüber. Der Baumliebhaber rechnet zusammen … Eine tropisch-subtropische Parklandschaft mit Palmenhain; Olivenhaine und Zitruspflanzungen und von Mandelbäumen bestandene Abhänge; neu aufgeforstete Föhren- und Zypressenwäldchen; alte Steineichen und Ölbäume zwischen Hartlaubgewächsen; ein von Bäumen gesäumtes Bachbett … das ergibt eine ordentliche Bilanz. Selbst wenn wir die geringere CO2-Absorptionskraft der mediterranen Bäume in Rechnung stellen (weil sie nicht so groß werden; weil sie langsamer wachsen), so haben sie doch den unbestreitbaren Vorteil gegenüber ihren nördlichen Brüdern und Schwestern, immergrün zu sein, also ganzjährig assimilieren zu können. Dementsprechend zufrieden stellend fällt das Ergebnis aus.
Rund 90 Tonnen CO2 bindet unser stilles Tal Jahr für Jahr, was selbst dann, wenn wir pro Jahr durchschnittlich fünf Flüge aus unserer nördlichen in die südliche Heimat in Rechnung stellen, einen stattlichen Überschuss zu unseren Gunsten ergibt (84 Tonnen).
Ganz abgesehen von den anderen Assets der grünen Compañeros – beschattete Böden und ein verbessertes Mikroklima; Bewahrung der Bodenfeuchtigkeit und weniger Erosion; unten mehr Humusbildung, oben mehr Insektenleben und ergo dessen zahlreiche Vögel in großer Artenvielfalt.
Das mit dem Bäumepflanzen war vielleicht doch nicht die dümmste Idee meines Lebens.****
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*Anmerkung: Der Schüler Felix Finkbeiner hatte 2007 mit neun Jahren die Umweltschutzorganisation „Plant-for-the-Planet“ gegründet. Nach Jahren des Reisens durch die ganze Welt, nach Begegnungen mit Entscheidungsträgern wie zum Beispiel dem früheren amerikanischen Vizepräsidenten und Klimaaktivisten Al Gore, vor allem aber weil es ihm gelang, Millionen Jugendliche zu mobilisieren, sind bis heute überall auf unserem Planeten Hunderte Millionen von Bäumen neu gepflanzt, gepflegt und großgezogen worden. Und wie er selbst sagt: solange er lebe, werde er dafür sorgen, dass diese gigantische Aufforstungsmaschine, in Betrieb genommen und gesteuert von Kinderhänden, nicht zum Stillstand komme.
Fakten und Daten: Felix Finkbeiner ist der Sohn des Unternehmers und Club of Rome-Mitglieds Frithjof Finkbeiner und der Textilingenieurin Karolin Finkbeiner. 2006 bis 2015 besuchte er die Munich International School in Starnberg, 2018 schloss er sein Studium im Fach Internationale Beziehungen mit einem Bachelor an der Universität London ab. Seit 2018 Studium an der ETH Zürich (Department für Umweltwissenschaften). Die von ihm gegründete Organisation „Plant-for-the-Planet“ mit 130 Mitarbeitern und 70.000 Mitgliedern in 67 Ländern ( Stand 2017) hatte nach 10 Jahren ihres Bestehens bereits über 1.200 Ausbildungsworkshops organisiert. Kritik an dieser Organisation, etwa wegen Intransparenz und geschönter Erfolgsstatistiken, hat ihr Gründer stets vehement zurückgewiesen. (Dazu: Plant for the Planet)
** Link: Waldwissen
*** Link: Bäume im Klimawandel
**** Monica Tomaschek: Eine Finca in Andalusien. Der lange Weg zum Garten Eden. MyMorawa: Wien 2022