Kaum Chancen für Mutter Erde, Teil 2

Gottfried Liedl am 9. März 2023

Wenn ich meine Lieblings-Gesprächspartnerin und Reisegefährtin aus Jugendtagen zitieren darf: „Attenboroughs Film ist nichts für schwache Nerven.“ Richtig. Aber auch die auf unserem Planeten herrschenden Zustände, welche die Doku ‚Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps‘* beschreibt, „sind nichts für schwache Nerven.“ So besehen hat die Menschheit offenbar ungeheuer starke Nerven. In ihrer erstaunlichen Dickfelligkeit hält sie den steigenden Stress, den sie ‚Mutter Erde‘ und ‚Mutter Natur‘ antut, selber ganz gut aus. Oder sollte man sagen: Ein kleiner Teil der Menschheit tut das? Eine Minderheit besagter Menschheit spürt diesen Stress, diese Belastung schon deshalb nicht, weil sie davon profitiert. Für diesen Teil der Menschheit ist der Zustand, in dem ‚Natur‘ und ‚Mutter Erde‘ sich befinden, geradezu angenehm. „Man hat etwas davon“, wie sie sagen (woher das, ‚was man hat‘, stammt respektive wem es genommen wurde, interessiert nicht weiter).

Und die Anderen? Deren Leidensfähigkeit vulgo Dickfelligkeit verdankt sich einer gut geölten Verdrängungsmaschinerie. Man legt einen frischen Verband an und wirft die nächste Beruhigungspille ein. Dazwischen steigt der Meeresspiegel weiter, brennen die Wälder, leidet die Kreatur. In letzter Instanz entscheidet natürlich nicht der Mensch über sein Schicksal, sondern ‚die Natur‘. Schon die Physiokraten** wussten: Des Menschen Wohlergehen entsprießt dem Boden. Anfang und Ende des Kreislaufs von Wohlstand und Glück bilden die Nahrung spendende Erde mit ihren Gewässern und das von Leben überquellende Meer.

Fruchtbare und weniger fruchtbare Böden. „Wir beobachten schon jetzt, dass durch die Bodendegradation und den Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in einigen Teilen der Welt zurückgeht. Unglücklicher Weise trifft es die armen Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme: Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Was das mit Artenverlust und schwindender Biodiversität zu tun hat, weiß man unter Experten für Boden-Ökologie schon lange. Entscheidend „ist der Verlust der Artenvielfalt unter der Erdoberfläche. Der Boden sollte voller Leben sein. Aber Studien zeigen, dass bis zu 30 % der Landflächen weltweit eine geringe Biodiversität aufweisen. Eine der wichtigsten Aktivitäten der Tiere im Boden ist das Zerkleinern organischer  Substanzen, die dann dem Pflanzenwachstum dienen. Wenn wir also die Vielfalt im Boden verlieren, können die Folgen katastrophal sein“ (Richard Bardgett, University of Manchester: Fünf vor Zwölf, 9:22 ff.).

Einfluss des Bodenlebens auf Verwitterung und Bodenfruchtbarkeit; Quelle: Fünf vor Zwölf, 9:47

Der Bodenverbrauch ist enorm. „Wir haben weltweit fast 90 % der Feuchtgebiete verloren, wir haben Wälder und Wiesen umfunktioniert – das entspricht 75 % der Erdoberfläche, die nicht von Eis bedeckt ist“ (Robert Watson).

Die Welt, wenn es den Menschen nicht gäbe (grün | oberes Bild) – und die Welt, vom Menschen verändert (gelb-orange | Bild unten); Quelle: HYDE | Fünf vor Zwölf, 26:14 ff.

Hauptmotor für den ausufernden Bodenverbrauch der modernen Agrarwirtschaft ist die nicht bis kaum vorhandene Nachhaltigkeit in der Bewirtschaftung der Böden. Statt dem Bodenleben Zeit zur Regeneration zu lassen – das heißt, in den Rhythmus von Säen und Ernten als Zwischenschritt die organische Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit einzufügen –, werden die Anbauzyklen immer kürzer. Der Boden wird zur bloßen ‚Unterlage‘ degradiert, zur Tabula rasa des Ackerbaus.

Ohne kritische Hinterfragung der ökonomischen Denkungsart wird sich das auch nicht so rasch ändern: „Problematisch ist, dass Land gerodet wurde, um unser Produktionsniveau zu gewährleisten, und trotzdem laufend neue Flächen gerodet werden, weil das meist schneller geht und billiger ist. Ein Großteil dieser Rodungen [eine Fläche jährlich so groß wie die Niederlande] wird durch die Nachfrage auf der anderen Seite der Welt angetrieben. Wir wollen günstige Lebensmittel und ein rund um das Jahr verfügbares Sortiment. Der Konsument, der im Supermarkt einkauft, trägt also unwissentlich zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. … Wir haben jetzt die Daten, um die Haupttreiber des Artensterbens zu identifizieren: Soja, Palmöl und das Rindfleisch“ (Toby Gardner, Transparency for Sustainable Economies | TRASE: Fünf vor Zwölf, 26:39 ff.).

Wege des Konsums; Quelle: TRASE | Fünf vor Zwölf, 28:03

„Es zählen zwei Faktoren – die Bevölkerungsgröße, aber auch der Konsum“ (Shahid Naeem, Ökologe, Columbia University: Fünf vor Zwölf, 20:08 ff.). Neben dem Bevölkerungswachstum – manche sagen: mehr als das Bevölkerungswachstum – spielt das Konsumverhalten der Weltbevölkerung eine Rolle. Ein Verhalten, das ob des stetig anwachsenden Ressourcenverbrauchs, den es mit sich bringt, nicht gerade als besonders Nachhaltigkeits-fördernd bezeichnet werden kann: „Wenn es um die Auswirkungen [des Bevölkerungswachstums] auf die Umwelt geht, ist der wachsende Konsum relevanter, der in bestimmten Ländern viel höher ist [als in anderen]“ (Stuart Butchart: Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.). Reden wir Klartext: Im Durchschnitt verbraucht ein Europäer siebenmal so viel wie ein Inder; und ein Amerikaner viermal so viel wie ein Europäer … Denn auch die Umweltverschmutzung treibt das Artensterben an (Fünf vor Zwölf, 20:10 ff.).

Geplünderte Meere. In den letzten vierzig Jahren hat das Ausmaß der weltweiten Fischerei dramatisch zugenommen. Mit kaum vorstellbaren Größenordnungen. So können, wie es heißt, gleichzeitig bis zu 100.000 Schleppnetz-Fischer auf den Meeren unterwegs sein (Fünf vor Zwölf, 17:49 ff.). Nicht dass man dazu von Expertenseite keine Bedenken hätte: „Wir haben eine Datenbank  mit Zahlen über den weltweiten Fischfang erstellt und dabei die Situation auf globaler Basis untersucht. Diese globale Betrachtung zeigt eine massive und weltweite Überfischung. Die moderne Fischerei ist ein industrieller Prozess, der von großen Konzernen betrieben wird. [Die dabei eingesetzten Boote] sind Fabriksschiffe. Sie räumen den Meeresgrund mit hausgroßen Netzen ab … und alles, was auf ihrem Weg liegt, landet darin“ (Daniel Pauly, Institut für Ozeane und Fischerei an der University of British Columbia: Fünf vor Zwölf, 17:42 ff.).

Der von Attenborough in seiner Dokumentation zitierte Bericht enthält auch eine bezeichnende Aussage zur Nachhaltigkeit. Vor die Wahl gestellt, auf nachhaltige Weise – also kontinuierlich – moderate Fangquoten zu erzielen, hat die internationale Fischerei „immer den größten Fang in der kürzest möglichen Zeit gewählt“ (Daniel Pauly). Kein Wunder, dass beispielsweise in den Gewässern um China heute noch etwa sechzehn Prozent des ursprünglichen Bestandes übrig sind. Was einen Verlust von mehr als vier Fünfteln bedeutet … in gerade einmal 120 Jahren. Keine Spur von ökologischer Vernunft nach Art der Wissenschaft: „Fischbestände nachhaltig zu bewirtschaften [und] Fischerei in einem Gebiet zu reduzieren, [um] die Population wieder auf ein annehmbares Niveau [zu] bringen“ (Julia Jones, Bangor University: Fünf vor Zwölf, 18:06 ff.) war für die gewinnorientierte Fischerei noch nie die erste Wahl. „Selbst dort, wo es Fischfangquoten gibt, werden sie nicht umgesetzt. Und in vielen Teilen der Welt gibt es dergleichen Vorschriften nicht einmal“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme).

Schlägt Mutter Natur zurück? Krankheiten und Pandemien. Peter Daszak von der Eco Health Alliance ist einer von denen, die hier ein kräftiges ‚Ja‘ auf den Lippen haben. „Wir sehen, wie sich Pandemien häufen … und bei jeder dieser Krankheiten haben wir untersucht, wo auf der Welt sie ihren Ursprung haben. Was dort vor sich geht und was die Ursache dafür sein kann. Und jedes Mal waren der Mensch und sein Einfluss auf die Umwelt die Verursacher der auftretenden Krankheit.

So gibt es heute mehr Tierhandel als je zuvor. Es sind die Märkte, wo Tiere mit ihren Fäkalien Viren verbreiten, Tiere, die von uns getötet werden. Viren können sich an solchen Orten unglaublich gut verbreiten.

Und noch etwas fördert die Entstehung neuer Krankheiten: Jeden Tag dringen wir etwas weiter in den Lebensraum der Wildtiere ein. Einunddreißig Prozent aller neu auftretenden Krankheiten sind entstanden, wenn neues Land erschlossen worden ist. … Jeder dieser Schritte im Prozess bringt Menschen näher in Kontakt mit Wildtieren – und deren Viren“ (Fünf vor Zwölf, 16:07 ff.).

Es ist paradox. Gerade die unauffälligsten Beteiligten sind in diesem  Prozess die wirkmächtigsten – das gilt nicht nur für die Krankheitserreger selbst. „Virenforschung beweist – wenn Menschen ihren Lebensraum umwandeln, spielt noch etwas anderes mit. Alle Arten beherbergen Krankheiten; es sind aber die kleinen Tiere, welche die meisten Erreger und Viren, die auf den Menschen überspringen können, speichern. Solange es intakte Lebensräume mit hoher Artenvielfalt gibt, werden sie in Schach gehalten. Wenn jedoch Menschen Lebensräume zerstören,  verschwinden zuerst die Großen, die Raubtiere … Die kleineren Tierarten sind die Gewinner, sie vermehren sich unbegrenzt. Damit erhöht sich natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns krank machen“ (die Ökologin Felicia Keesing vom Bard College, New York: Fünf vor Zwölf, 29:38 ff.). Anscheinend sind unsere Optionen für eine maßgeschneiderte Welt à la Anthropozän doch nicht so gut, wie wir dachten.***

Was tun? Ein Vorschlag zur Güte. Für Nicolas Stern von der London School of Economics sind die Perspektiven klar: „Als erstes müssen wir die Art, wie wir unsere Wirtschaft führen, resetten. … Ich war an einer Studie beteiligt, in der wir die besten Wege aus dieser Krise durchgedacht haben. Wir haben festgestellt, dass Maßnahmen, die gut sind für die Umwelt, uns zugleich auch aus der Krise herausführen, in der wir uns befinden. Wir müssen die Schäden dramatisch begrenzen, die wir durch Produktion und Konsum verursachen – das ist der Preis“ (Fünf vor Zwölf, 39:42 ff.). Soweit, so deutlich.

Nicht weniger rigoros geht sein Kollege Partha Dasgupta vor (Fünf vor Zwölf, 40:48 ff.). Für den Wirtschaftswissenschaftler von der University of Cambridge steht der Umgang mit den Allmenden, den ‚freien‘ Gütern dieser Welt, auf dem Prüfstand. „Bis heute ist die Natur ein freies Gut. Wir benutzen Flüsse zum Abtransport von Schadstoffen. Große Teile des Regenwaldes sind zu erstaunlich niedrigen Preisen abgetreten worden, zu Preisen, die nicht dem Wert entsprechen, den sie de facto für die Welt haben ... Als Ökonom halte ich  es für richtig, dass die Menschen für den Nutzen, den sie aus der Natur ziehen, den angemessenen Preis zahlen“.

Gut gebrüllt, Löwe. Dein Wort in Gottes Ohr.    

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* Der Film:

Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.

** Zu den Pysiokraten siehe BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022 und diesen Link.

*** Ähnliche Themen aus früheren Blogs:

Umweltzerstörung, Entwaldung, Artenschwund: Link;

Artenschutz und Arterhaltung: Link 1; Link 2 (Waldschutz und Aufforstung: Bäume in Stadt und Land); Link 3 (Stadtbäume und Exoten); Link 4 (Botanische Weltenbummler); Link 5 (Europas Wälder);

Naturschutz als dehnbarer Begriff: Link 1; Link 2; Link 3 (Der Wisent-Skandal);

Welterbe, Weltallmende – vom Wert der Zivilgesellschaft: Link 1; Link 2; Link 3; Link 4.

Literatur:

Franz Essl | Wolfgang Rabitsch (Hg.): Biodiversität und Klimawandel. Auswirkungen und Handlungsoptionen für den Naturschutz in Mitteleuropa. Springer Spektrum: Berlin 2013 (Nachdruck 2017) Link

Anmerkung: Der Ökologe Franz Essl lehrt an der Universität Wien (Botanik und Biodiversitätsforschung). Vom Club der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er zum österreichischen Wissenschaftler des Jahres 2022 gewählt.

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„Alles wird gut!“ (Der österreichische Schauspieler und Kabarettist Robert Palfrader als Wettermoderator im Film ‚Walking on sunshine‘). Manchmal ist es ziemlich erhellend, Europa von der anderen Seite des Atlantiks betrachtet und kommentiert zu sehen. Wenn da auf die Verstocktheit, für die der alte Kontinent bekannt ist, ein zarter Abglanz amerikanisch-zuversichtlicher Denkungsart fällt, hört sich das beinahe charmant an.

„The EU gets down to business“, befinden Laura Millan Lombrana und Akshat Rathi im jüngsten Newsletter des digitalen Börsenjournals ‚Bloomberg Green‘. Gemeint ist die späte aber wenigstens nicht ganz unkonstruktive Reaktion auf Joe Bidens beherzte Initiative zur Förderung grün-innovativer (wenn man sie denn so nennen mag) Unternehmungen und Projekte US-amerikanischer Provenienz … und NUR dieser. Sich plötzlich ausgeschlossen und abgehängt zu sehen, ließ die Europäische Kommission aufwachen – zumindest aus der Perspektive von jenseits des Großen Teichs.

„Eight months after passage of the lavish US climate law, the European Union is considering policy response that marginally improves on the three-year-old Green Deal roadmap for tackling climate change over a decade.“ Zwar: „The measures set to be proposed by the European Commission on Tuesday don't suggest a Washington-vs.-Brussels arms race for the green future.“ Doch immerhin: „New policies in the Net-Zero Industry Act would accelerate permitting and set production targets for technologies including solar panels, wind turbines, heat pumps, batteries and electrolyzers, according to a draft document reviewed by Bloomberg. […] The EU's green programs will add up to $1 trillion in spending this decade, according to projections from researchers at BloombergNEF. From a certain point of view the US is playing catchup with its $369 billion green spending measure — and because some of the American tax incentives are uncapped, the final total could be far higher“ (Newsletter vom 13.3.2023).

Alles wird gut? Zumindest was die Investitionen in eine solare Zukunft betrifft? Mal sehen. „Walking on sunshine“ … vielleicht sogar irgend wann einmal in Good old Europe.