Im Blog # 23 vom 17. Mai 2023 wurde die Vorgeschichte der „Agrarisierung der Welt“ (© Gottfried Liedl) aus einer eher missmutigen Perspektive erzählt: wie es nach recht bedenklichen Anfängen – der sogenannten Agrarrevolution des europäischen Mittelalters – zur Industrialisierung, ja Globalisierung der Landwirtschaft kam. Erzählt und nachgestellt wurde das Werden einer ganz bestimmten, alles andere als ökologisch harmlosen Landwirtschaft, die man eigentlich ‚Misswirtschaft‘ nennen müsste angesichts ihrer Folgen für den Boden, welchen besagte ‚Landverwerter‘ vulgo  Landwirte weniger bestellen als vielmehr entstellen (wenn ihr mir das etwas holprige Wortspiel nachseht, geschätzte Leserinnen und Leser dieses … Selbstgesprächs).

Zu jenen Landwirten, so meinte ich, soll man deshalb nicht ‚Bauern‘ sagen (Blog # 22 vom 18. März 2023). Dazu ist der von ihnen angerichtete Schaden zu groß und ihr Unrechtsbewusstsein zu klein. „Auf mehr als einem Drittel aller Anbaugebiete nimmt die Bodenqualität ab (Degradation). Hauptursache ist die Erosion durch Wasser und Wind. Niederschläge und Fließgewässer spülen den Boden fort, der Rest wird vom Wind verweht. In vielen Regionen ist in den letzten 150 Jahren die Hälfte des fruchtbaren Ackerbodens auf diese Weise verloren gegangen. Auch chemische Veränderungen sind am Verlust der Bodenqualität beteiligt. Sie gehen auf Überdüngung, Missbrauch von Pestiziden, Versalzung durch unsachgemäße Bewässerung und auf ‚Sauren Regen‘ zurück. Zusätzlich verringert Wüstenbildung (Desertifikation) die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen“ (Schuh 2008, Seite 148).*

We feed the world? Von wegen. Moderne, sprich in Europa ‚erfundene‘ und jetzt global verbreitete Landwirtschaft ist möglicherweise in der Tat nicht viel mehr als eine Ansammlung Potjomkin’scher Dörfer. Der schlaue russische Fürst und Geliebte der Zarin Katharina der Großen, Potjomkin, hatte seiner Gebieterin eine blühende, gut verwaltete Landschaft vorgespiegelt, indem er die Kaiserin auf eine Inspektionsreise mitnahm, die an perfekt inszenierten … Kulissendörfern vorbeiführte. Heute sind es die großen Player der Agroindustrie, die uns an der Nase herumführen: „We feed the World“. Das ist genauso wahr wie das den Amerikanern im Jahre 1862 gegebene Versprechen, auf den Prärien des ‚goldenen‘ Westens eine neue Heimstatt für sie zu bereiten. Aus dem berühmt-berüchtigten Homestead Act (berüchtigt, weil er die indianische Urbevölkerung ihres Lebensraums und ihrer Bisons beraubte) ging nicht die ertragreiche bäuerliche Landschaft hervor, die man an die Stelle der weiten Prärien zu setzen versprach; zwei Generationen später – am Beginn des 20. Jahrhunderts – war das vermeintliche Ackerland zur Staubwüste verkommen, ein Raub der Dustbowls, der Sandstürme, die riesige Gebiete der ehemaligen Prärie unbewohnbar und in der Folge menschenleer machten. Und das ist nur ein Beispiel unter unzähligen anderen, ein höchst bezeichnendes freilich.

We feed the world, tönt die Agroindustrie von Cargill bis Monsanto. Die Wirklichkeit sieht anders aus: „70 bis 75 Prozent von dem, was wir konsumieren, wird von Kleinbauern produziert. Großbetriebe produzieren oft große Mengen an landwirtschaftlichen Rohstoffen, doch wenig davon dient als Nahrung. Industrielle Landwirtschaft kann keine Nahrung produzieren, ohne den Boden und das Leben der Bauern zu zerstören“ (Olivier De Schutter, Report an die Vereinten Nationen, 2011).**

Wenn die Diagnose stimmt – und welchen triftigen Einwand könnte man der Aussage des Experten entgegen setzen, es sei denn, aus unsauberen ideologischen Motiven? –, klingt die Rede vom ‚Erfolgsmodell‘ moderner westlicher Agrikultur ziemlich schal. Auch eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Nutzens zu den Kosten kann nur negativ ausfallen, wenn man aus Sicht der Umwelt urteilt, welche diese Kosten zu tragen hat. Damit stehen wir freilich immer noch auf exakt jenem Standpunkt, den ich „aus einer eher missmutigen Perspektive“ heraus eingenommen und in die Erzählung von der ‚Agrarisierung der Welt‘ hatte einfließen lassen.

Ein anderer Standpunkt – eine andere Geschichte. Freundinnen und Freunde der Natur könnten hier einwenden, dass die Welt nicht schwarz und weiß sondern bunt sei; und dass Ökologiegeschichte weder mit der Geschichte Europas oder des sogenannten Westens beginne noch mit dieser Geschichte ende. Danke für die Erinnerung. Ein Sensorium für die Gefahren, welche allzu unbekümmerte Eingriffe in die Umwelt mit sich bringen, findet sich bereits in „Büchern über die Landwirtschaft“ aus dem Mittelalter. Geschrieben wurden diese – nennen wir sie ruhig so – ersten Ökologiehandbücher von Gelehrten einer Weltgegend, die aus heutiger Sicht eher nicht als Hotspot eines sensiblen Umgangs mit der Natur gilt. Das war vor einem guten Jahrausend offenbar anders.  Offenbar haben sich Autoren jener Region, die man etwas vereinfachend die Islamische Welt des Mittelalters nennen mag, in ihren Kutub al-Filāha, den „Büchern der Landwirtschaft“ über Tierhaltung und Pflanzenzucht, Bodenbestellung und Bewässerung, Erosion, Bodenversalzung und Verwüstung (und wie man ihrer Herr wird) Gedanken gemacht. Und die Schlussfolgerungen von damals würden einem umweltbewussten Landwirtschaftsexperten von heute alle Ehre machen.

Herausforderungen. Die Landwirtschaft des Mittelalters in den riesigen Räumen des Islamischen Kulturkreises begegnete ähnlichen Gefahren wie die globalisierte und industrialisierte Agrikultur der Jetztzeit. Die Hauptfrage damals wie heute ist die Bodenfrage. Hier wie dort hängt das Wohlergehen der Menschen von der prekären Qualität der Ackerkrume ab, hier wie dort lautet der Weisheit letzter Schluss „zu wenig fruchtbares Land und nicht genügend Wasser“. Während aber der modernen Landwirtschaft europäisch-westlichen Zuschnitts ihre eigenen inneren Widersprüche im Wege stehen – vor allem ein jeder Nachhaltigkeit Hohn sprechender Expansionismus –, hatte der Landmann in der Islamischen Welt mit äußeren Widerständen zu ringen, solchen, wie sie ihm ein abweisender Raum, eine harsche Umwelt, eine wenig freigiebige Natur entgegen setzten.

In der Welt des Islam sind die für Ackerbau und intensive Viehzucht geeigneten Gebiete stets relativ kleine Einsprengsel in riesigen Steppen- und Wüstenzonen gewesen. Auch ein landwirtschaftlicher Aufschwung kam in der Regel vor allem dem Wachstum der Städte zugute und konzentrierte sich fast ausschließlich auf Flusstäler, einige Küstenregionen und unterschiedlich große Oasen. Die halbtrockenen Landstriche zwischen diesen Gunstzonen konnten bestenfalls für die Herden der Nomaden genutzt werden.

Naturräume und Regionen – die islamische Welt des Mittelalters © G.Liedl

Die islamische Welt hatte daher in viel größerem Maß als Europa, wo das Bevölkerungswachstum des Hochmittelalters durch die Gewinnung immer neuer Böden zu großen geschlossenen Siedlungsräumen führte, mit dem Problem riesiger, fast menschenleerer Gebiete zu kämpfen. Dennoch ist die mittelalterliche Welt des sogenannten Orients gerade für die agrarische Expansion des sogenannten Westens von höchstem Interesse. Sozusagen als beispielhafte Blaupause nämlich, vielleicht sogar als Gegenbeweis.

Privilegierter ‚Westen‘? Ein zweigeteiltes Mittelalter mit identischen Problemen. Europäer haben dem Süden und Osten, etwa der Mittelmeerwelt samt angrenzenden Regionen schon immer gerne nachgesagt, ein Musterbeispiel für Raubbau und ökologische Verarmung zu sein. Bodenzerstörung, Entwaldung, Desertifikation werden als geradezu typisch für die Länder südlich und östlich der ‚glücklichen Zonen‘ Nordwest- und Zentraleuropas angesehen. Was dabei geflissentlich vergessen wird: Auch unter den scheinbar ganz anderen Bedingungen des west-, mittel- und osteuropäischen Waldklimas vollzog sich ab dem Moment, wo Nachhaltigkeit zugunsten der Expansion aufgegeben wurde, der Niedergang. Nur eben etwas später. Die systematische (und systemische, das heißt systemimmanente) Zerstörung der scheinbar unerschöpflichen europäischen Waldgebiete, die sich in Nordamerika wiederholt hat und derzeit in den letzten verbliebenen Waldzonen der Tropen wütet, hat zu keiner Verbesserung der Ernährungssituation geführt. Hungerkrisen vom Spätmittelalter bis zur Industriellen Revolution werfen auf die vermeintliche Effizienz einer Landwirtschaft unter feudalen Vorzeichen – besser bekannt als ‚Agrarrevolution des Mittelalters‘ – ein fragwürdiges Licht. Überall gelten die gleichen Gesetze der Ökologie – Missachtung des Prinzips ‚Nachhaltigkeit‘ rächt sich eben; die Folgen sind Bodenverarmung, Erosion und in letzter Konsequenz Missernten und Hungersnot.

Ein Gegenentwurf. Landwirtschaft, die ihre natürlichen Grenzen überdehnt, führt überall zum gleichen ruinösen Ergebnis. Also waren auch die mittelalterlichen Autoren der Kutub al-Filāha, der ‚orientalischen‘ Handbücher für den Landwirt, mit den selben Problemen konfrontiert wie die heutige globalisierte Landwirtschaft ‚europäischen‘ Zuschnitts. So könnte man sagen. Überall dort, wo die Ausweitung von Landwirtschaft über die naturräumlich gegebenen Grenzen hinaus ging, hatte der anfängliche Überschuss ein klar bestimmbares Ablaufdatum. Dagegen galt es einen Musterkoffer an Betrachtungen und Unterweisungen zum Thema Nachhaltigkeit zu entwickeln. In ihren ‚Büchern der Landwirtschaft‘ haben sich Gelehrte vom Schlage eines Ibn Wāfīd, Ibn Bassāl, Ibn al-Awwām oder At-Tignarī (die hier als einige wenige Beispiele stellvertretend für einen ganzen Wissenschaftszweig stehen) mit Tier- und Pflanzenzucht, mit Fragen der Bodenbehandlung und Bodenverbesserung, der Einrichtung von Bauernstellen oder Gutsbetrieben, dem Bau von Wasserleitungen, der Anlage von Beeten oder Gärten, dem optimalen Standort der verschiedenen Baumarten, den idealen Pflanz- und Erntezeiten, dem Import und der Akklimatisierung neuer Pflanzen, der Einfuhr von bisher unbekannten Nutztieren beschäftigt  – alles Dinge aus dem Umfeld des anderswo (etwa im christlichen Abendland) so verachteten Bauernstandes. „Nie vor und nach den Arabern war der Mensch mit jedem Handbreit Erde, mit den verschiedenen Reaktionen auf die verschiedenen Methoden der Berieselung an den verschiedenen Orten so vertraut,“ bringt es der Arabist Hoenerbach auf den Punkt.***

Der Westen als Erbe ‚islamisch-orientalischer‘ Kultur. Um den Wert jener Standards, die im Umfeld der ‚islamischen‘ Expansion entwickelt wurden, einschätzen zu können, muss man sich nur vor Augen führen, welche agrarischen Errungenschaften das Abendland und die Welt dem mittelalterlichen Transfer neuer Objekte, Produkte und Verfahren verdanken.

Botanische Transfers in der islamischen Welt des Mittelalters © G.Liedl

Von den Arabern in den Westen gebracht wurden der Reis und die Baumwolle, Zitrusfruchtbäume, Dattelpalmen (die noch heute in Südspanien und auf Kreta große Haine bilden), verschiedene Gemüsesorten, Gewürz- und Heilkräuter. Sogar die Banane wurde den mediterran-europäischen Klimaverhältnissen angepasst. Importiert und akklimatisiert wurden auch ertragreiche Hirsearten und das Zuckerrohr. Ebenfalls im Mittelalter gelangte durch Vermittlung islamischer Spezialisten die als Futterpflanze unschlagbare Luzerne (Medicago sativa L.) sowie der Alexandrinerklee nach Europa. Die spanische Bezeichnung der Luzerne, Alfalfa, erinnert noch an die arabische Herkunft dieser wichtigen Nutzpflanze.

An großen Nutztieren kannte Europa vor der islamischen Ära weder den Wasserbüffel noch das wertvolle Merinoschaf, das beste Wollschaf der Welt, dessen Ahnen aus dem Hohen Atlas stammen. Auch nicht die für ihr seidenweiches Haar berühmte Angoraziege, die ursprünglich in Zentralasien zu Hause ist und von islamisierten Turkstämmen nach Westen, nach Anatolien gebracht wurde. Hier auch noch das Pferd zu erwähnen, gleicht fast einer Binsenweisheit, so sehr ist die Geschichte dieses edlen Tieres mit der ‚orientalisch-islamischen‘ Welt verwoben. Heute existiert buchstäblich keine Vollblutrasse auf der Welt, die nicht Araberblut in den Adern hätte.

Erhöhen ‚Bücher der Landwirtschaft‘ die Lernfähigkeit? Der geschätzten Naturfreundin, dem werten Naturfreund (so sie dieses Selbstgespräch bis hierher verfolgt haben) mag aufgefallen sein, dass im Verhältnis zu ihrer Bedeutung die Landwirtschaft ‚nicht-europäischer Provenienz‘ (und deren Geschichte) erstaunlich unterbelichtet ist. Gewiss liegt das zum Teil an den Quellen selbst, diese berichten lieber vom Glanz der Städte, Fürstenhöfe und Dynastien, von Kriegszügen und erfolgreichen Handelsoperationen … als vom Tun und Wirken des Landmannes und Gärtners, des Ackerbauern oder Viehzüchters.

Der wichtigste Grund aber liegt im Wesen unserer eigenen ‚westlichen‘ Einstellung – insofern sich diese nämlich einem Kulturvergleich verpflichtet fühlt, der alles mit der Messlatte des linearen Aufschwungs misst. Geschichte ‚der Anderen‘ hat sich dann fragen zu lassen, wie es um ihre … ‚Fortschrittlichkeit‘ (wahlweise ‚Produktivität‘ etc.) bestellt sei. Genau dagegen aber rebelliert das Wissen von der dunklen Seite besagter ‚Fortschrittlichkeit‘, indem es auf etwas verweist, das meist stillschweigend übergangen wird – die Kosten (und wem sie berechnet werden: nämlich genau nicht Jenen, die sie verursacht haben).

Neuerdings werden die großen Erzählungen ‚Europäische Expansion‘ und ‚Fortschritt im Zeichen der ökonomischen Vernunft‘ relativiert – dabei verwendet man Agrar-, Umwelt-, Ökologie- und Globalgeschichte als Gegengewicht zur Modernitäts- und Fortschrittsgeschichte. Mit den Augen und in den Berichten ‚der Anderen‘ entdecken aufmüpfig Suchende statt einer fortschrittsaffinen Wirtschaftsgeschichte verschiedene ‚alte‘ Theorien und eine daraus folgende Praxis, die ihren Gegenständen mit Empathie und Respekt, das heißt auf Augenhöhe begegnet. Wo Tiere, Pflanzen, Wasser, Boden, Landschaften und deren Bewohner nicht bloß als Objekte wissenschaftlicher Neugier eine Rolle spielen (das natürlich auch), sondern dem Menschen gleichberechtigt zur Seite gestellt sind: als Teilnehmer am Spiel des Lebens und der Geschichte. Und die famosen Bücher der Landwirtschaft? Nun. Im Vergleich zum historisierenden Lob des Fortschritts (inklusive Agrobusiness und Lebensmittelindustrie) ist deren Lektüre einfach wohltuend und erfrischend.****   

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* Schuh 2008 = Bernd Schuh: Das visuelle Lexikon der Umwelt. Hildesheim 2008

** De Schutter 2011 = Olivier De Schutter: Agroecology and the Right to Food. Report presented at the 16th Session of the United Nations Human Rights Council [A/HRC/16/49], 8 March 2011 (PDF)

*** Wilhelm Hoenerbach: Das granadinische Sultanat in seiner Agrarstruktur. In:  Der Islam 64  (1987), 231–260

**** Gottfried Liedl / Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Mandelbaum Verlag: Wien 2017 (Download)

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Weil ich gerade ziemlich gut gelaunt bin, juckt es mich, euch ein typisches Gericht der Kategorie 'Politik, Gier & Kaltschnäuzigkeit' zu servieren. Als Dessert gibt es das Gegenbeispiel aus der Welt der WIRKLICH Mächtigen: aus der Finanzwelt. Bon appétit!

Black or green. Von Politikern und Investoren. Da ist dieses Ölförderprojekt in Uganda. Das Projekt – mit Hunderten geplanter Ölbohrungen teilweise mitten in Naturschutzgebieten – stößt selbst bei den Investoren auf einige Skepsis. Schon halten mehrere Banken und Versicherer ihre Unterstützung für Projekt und Pipeline zurück.

Diese Verzögerung macht das Konsortium, das hinter dem Projekt steht, nicht wirklich froh. Die Regierungen von Uganda und Tansania, die französische Ölfirma TotalEnergies SE, die chinesische Cnooc Ltd. und die übrigen Beteiligten bringen vor, dass die 900 Meilen lange East Africa Crude Oil Pipeline (EACOP) Tausende von Arbeitsplätzen schaffen und Milliarden von Dollar an Staatseinnahmen generieren wird.

Ja eh. Das Argument ist so bekannt wie ambivalent: Der reiche Norden missgönnt dem armen Süden dessen Entwicklung. Das Gegenargument ist aber auch nicht ohne: Die Pipeline wird täglich 216.000 Barrel von den Ölfeldern zu Terminals an der Küste des Indischen Ozeans transportieren, wo sie ins Ausland exportiert werden – oft in Länder, die dafür ihre eigene Produktion fossiler Brennstoffe einschränken können. „Das verdeutlicht die Ungleichheit, die auf globaler Ebene besteht,“ so die Projektgegner. „Im ‚armen Süden‘ umweltschädlich geförderte Ressourcen decken den Energiebedarf des globalen Nordens, der dadurch von eigenen fossilen Brennstoffen leichter Abschied nehmen kann. Der Süden bleibt in einer Wirtschaft mit fossilen Brennstoffen gefangen und seine Bevölkerung muss die gesamten sozialen und ökologischen Kosten tragen.“ Aber keine Angst, Old Industry. Die Finanzierung steht. Chinas Exim Bank und zwei afrikanische Unternehmen, die anonym bleiben wollen, seien bereit, die Pipeline zu finanzieren, so Ugandas Energieministerin gegenüber Reportern in Kampala.*

Tausende Meilen weiter nördlich haben Finanzdienstleister recht konkrete Ansichten zum Thema Klima-Risiko. In der Londoner Zentrale von Standard Chartered Plc setzt man sich selbst, wenn es um bestimmte Kredite geht, eine Frist von längstens zehn Jahren. Das sei der Zeitrahmen, in dem Verluste aus Krediten an kohlenstoffintensive Industrien – diejenigen, die am meisten für die globale Erwärmung verantwortlich sind – für die Bank zum Problem werden könnten. Die Analyse basiert auf zu erwartenden Kreditverlusten unter Berücksichtigung der finanziellen Auswirkungen von 1,5 °C-Klimaszenarien, wie sie von der Internationalen Energieagentur skizziert werden.

„Dieser Bericht von seltener Offenheit war aufschlussreich. Für die acht Sektoren mit den höchsten Emissionen – darunter Öl und Gas, Kohlebergbau, Schifffahrt und Aviation – legte die Bank mögliche Kreditverluste in Höhe von insgesamt 603 Millionen US-Dollar […] offen. [… Dabei waren noch] im Jahr 2022, als die Temperaturen in London zum ersten Mal die 40-Grad-Marke überstiegen und ein Drittel Pakistans von Überschwemmungen betroffen war, Klimarisiken für die Bank finanziell irrelevant“ (Alastair Marsh: A rare look inside a bank's climate crisis calculus). So schnell kann’s gehen.**

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Quelle:

*   Bloomberg Green, Newsletter vom 5.6.2023

** Bloomberg Green, Newsletter vom 7.6.2023

Es ist ja schon ein wenig langweilig, wie vorhersehbar konsequent die großen Player ihre Positionen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigen, insbesondere dann, wenn die angepeilte – die Player sagen: angedrohte – Veränderung so klein nicht ist. Schon wahr – das Beharrungsvermögen von Profiteuren des Status quo ist ein Grundgesetz der Geschichte … somit auch der Ökologiegeschichte. Und natürlich sagen die Bewahrer nicht, dass sie ihre eigene konfortable Lage bewahren möchten. Sie sagen: Es geht uns um euch, liebe Mitmenschen … und dann setzen sie die beliebten Leerformeln ein: Arbeitsplätze, Ernährungssicherheit, überhaupt Wohlfahrt an allen Ecken und Enden. Und sie drohen mit den bekannten – gähn – Szenarien: Arbeitslosigkeit, sinkende Wirtschaftsleistung, Stagnation. Das Neue gefährdet also nicht in erster Linie sie selbst (und ihre eigene konfortable Situation); das Neue bedroht ‚die Kleinen‘, also dich und mich. Wir sollen uns vor dem Neuen fürchten. Und interessanter Weise geht das Kalkül der Großen nicht selten auf: die Kleinen – fürchten sich.

Des Häuslbauers Alptraum. Raumordnung und Grundverkehrswesen sind die beliebtesten Popanze, wenn es gilt, eine möglichst große Zahl an Gefolgschaft um die Nutznießer einer gut geölten Immobilien-Maschinerie zu scharen (vom Landwirt, der seinen Acker zu Bauland = zu Geld macht, bis zum Bürgermeister, der seiner Gemeinde neue Bauherren = neue Steuerzahler zuführt, wobei sein Verwandter, der Bauunternehmer sicher nichts dagegen hat, dass auf der grünen Wiese des Landwirts – eines weiteren Spezis des Bürgermeisters – der neue Gewerbepark entsteht). Das gilt für Hintertupfing an der Krötenlacke genauso wie für die Bundeshauptstadt Wien. Na ja. Für Beide gilt natürlich vor allem die Unschuldsvermutung. Als gelernter Verfechter der Neuerung – als Mitglied einer eklatanten Minderheit also – hat man seine Worte weise abzuwägen, auch das ein Grundprinzip der Geschichte (das Imperium schlägt immer zurück; und der Häuslbauer verzeiht Jedem alles – nur nicht die Verhinderung seines Lebenstraums, des Bauens auf Grüner Wiese).

„Planlos gegen den Bodenverbrauch“. Des Leitartiklers Formulierung trifft den Sachverhalt nicht ganz. Natürlich gibt es (mehr oder weniger gute) Pläne gegen die österreichische Erbkrankheit, die exzessive Bodenversiegelung, schon lange. Richtig an des Leitartiklers Formulierung ist des Satzes zweiter Teil, der Bodenverbrauch. „Täglich gehen in Österreich zwölf Hektar an Boden verloren. Knapp die Hälfte davon wird zubetoniert bzw. zuasphaltiert. Für neue Einkaufszentren, Straßen oder Wohnsiedlungen. Zwölf Hektar – das sind ungefähr 17 Fußballfelder.“* In dieser Disziplin ist die Alpenrepublik Europameister. Nirgendwo in der EU geht mehr Acker- und Grünland, mehr Natur, mehr Erholungsgebiet verloren als im selbsternannten Land der Lebensfreude (Stichworte: Phäakentum, Naturverbundenheit, ländliche Idylle).

Das hat die Politik erkannt. Und was das Planen betrifft, so gibt es das löbliche Unterfangen seit mindestens zwei Jahrzehnten (2002 hat sich die damalige Bundesregierung erstmals auf eine Einschränkung des Bodenverbrauchs verständigt. Im Prinzip, versteht sich). „Passiert ist seither nichts.“*

Aller Probleme wohlfeile Lösung: Vertagung. Man ist voll des guten Willens. Die derzeitige Bundesregierung möchte ein entsprechendes Gesetz auf den Weg bringen und lädt zur großen Enquète über eine Bodenschutzstrategie. Mit dem erwartbaren Ergebnis, dass sich die Geladenen – notabene Gemeindevertreter und Abgesandte der Bundesländer – als zähe Verteidiger des Status quo erweisen. Natürlich ist damit das Unternehmen nicht gescheitert, man hat sich ja ‚nur‘ vertagt. „Viel Glück auf den Weg!“ Die Bürgermeister als Baubehörde auf Gemeindeebene wollen sich die Raumplanung nicht wegnehmen lassen. Und die Länder winken, wie es der Leitartikler formuliert, schon bisher „kommunale Großprojekte auf der grünen Wiese oft großzügig durch.“* Und da sollen sich Änderungen am Horizont ausmachen lassen? Ein klares Regelwerk von Verpflichtungen – zum Beispiel für jede neue Bodenversiegelung eine adäquate Fläche zu entsiegeln? Nachnutzung leer stehender Gewerbeimmobilien statt Neubau? Neue Kompetenzen des Bundes in der Raumplanung? Wer’s glaubt, wird selig.** 

Wiens ungenutzte dritte Dimension. Oder: Warum man immer noch am liebsten auf der grünen Wiese baut. „Fehlt der Boden, bleibt nur ‚nach oben‘. […] Um leistbaren Wohnraum zu schaffen, ohne Grünflächen zu versiegeln, setzen immer mehr Städte auf die Überbauung [bestehender Gebäude].“*** Nicht so Österreichs Bundeshauptstadt Wien. Die von Raumplanern und Raumplanerinnen regelmäßig angemahnte Idee der Nachverdichtung – eine intensivere Nutzung bereits verbauter Flächen – scheint bei den Wiener Verantwortlichen (obwohl ich hoffe, dass ich mich irre und die Stadtväter und -mütter in dieser Hinsicht vielleicht doch besser sind als ihr Ruf) nicht so recht greifen zu wollen. Wenn es ums Bauen geht, dürfte das Motto immer noch ‚Stadterweiterung‘ lauten, das war zumindest zwischen 2018 und 2021 so, wie eine Studie der Arbeiterkammer ausweist: Gerade einmal zwei Prozent des in besagtem Zeitraum neu geschaffenen Wohnraums kamen durch flächenschonenden Aus- oder Zubau an bereits bestehender Bausubstanz zustande; der Rest – im Erhebungszeitraum waren das 57.415 Wohneinheiten – entstand durch Neubau, sprich: auf der notorischen Grünen Wiese. Dritte Dimension der Raumplanung, stadtverdichtender Weg ‚nach oben‘? Nichts da! Wir bleiben schön am Boden (der aber nicht der feste Boden der Tatsachen ist).

Fakten und Zahlen. Allein an eingeschoßigen Gebäuden, die sich gemäß neuester bautechnischer Trends und einer zeitgemäßen Raumplanung zur Nachverdichtung eignen würden, verfügt Wien über eine stattliche Hundertschaft im Bereich ‚Einkaufszentren‘. In Wohneinheiten ausgedrückt, könnten so bis zu 10.000 Einheiten in der dritten Dimension entstehen, ohne dafür einen einzigen Quadratmeter unverbauter (Grün-) Fläche zusätzlich in Anspruch zu nehmen.

Bestehende Infrastruktur zu nutzen, ist an städtebaulicher Eleganz und raumplanerischer Effizienz nicht zu toppen.  Leistbarer – weil kostengünstiger hergestellt – ist der durch Stadtverdichtung entstandene Wohnraum schon deshalb, weil diverse Anschlüsse, Kanal, Zufahrtswege … schon vorhanden sind. Allenfalls braucht es, so sagen die Experten, ein wenig ‚strategische Ertüchtigung‘. Verdichtetes Gebiet – ausgebaute Infrastruktur. Grüne Wiese – Tabula rasa. Und dennoch …

Wien ist anders.  Nicht nur Beispiele aus dem Ausland, auch solche aus (West-) Österreich zeigen, „dass es geht“. Im Land Salzburg wurden im Zuge von Umbauten an Supermärkten Verdichtungsprojekte – Wohnraum ‚in der dritten Dimension‘ – erfolgreich in Szene gesetzt. Positvbeispiele dieser Art gibt es auch aus Linz zu vermelden. Vorbilder aus dem Westen? Nicht doch … „Wien ist anders“. Da gibt es das Dilemma der noch immer festgeschriebenen (obwohl veralteten) Flächennutzung, welche eine gemischte Nutzung erschwert. Es ist vielerorts schlicht verboten, Wohnungen auf Supermärkten zu errichten.

Und sie bewegt sich doch. Was Galilei über die Erde gesagt haben soll, wollen wir unheilbaren Optimisten der Gemeinde Wien konzedieren. Offenbar ist es auch in der Hauptstadt der Republik mittlerweile möglich, Wohnungen auf dem Dach eines gewerblich genutzten Gebäudes zu errichten. „Die Lidl-Filiale in der Zschokkegasse im 22. Bezirk wurde gleich inklusive 65 Sozialwohnungen auf dem Dach geplant; in Auhof im 14. Bezirk errichtete ein gemeinnütziger Bauträger mehr als 70 Wohnungen auf dem Dach des Shoppingcenters“ (KURIER, Dienstag, 30. Mai 2023, Seite 19). Übrigens bin ich der Meinung, dass es für die Überlegenheit urbaner Landschafts- und Raumplanung kein besseres Argument gibt als das Hochhaus. Die dritte Dimension, wie gesagt. Und Ende der guten Nachricht. Weil … den Häuslbauern ist eh nicht zu helfen.

Unten der Häuslbauer, oben der Großagrarier. Green Deal als Gefahr für Äcker? „Wir wollen Böden schützen“ (EU-Umweltkommissar Virginius Sinkevičius im Zeitungsinterview).****  Großartig. Endlich. Eine erfreuliche Nachricht … Doch gibt es da welche, die darüber not amused sind. EVP (Europäische Volkspartei) und Agrarlobby finden das gar nicht gut. Und die Österreichische Volkspartei – respektive deren Teilorganisation, der Bauernbund – schließen sich ihren europäischen Kollegen und Kolleginnen an.

Frage: Was ist den Niederlanden und Österreich gemeinsam? Beide sind, ökologisch gesehen, veritable Großmeister. Die Niederländer in Sachen Bodenverseuchung, die Österreicher in Sachen Bodenversiegelung.***** In beiden Ländern findet man die Öko-Bremser wo? – Richtig … auf dem Lande. Apropos Österreich, apropos Bauernbund: Laute Rufe gegen Ökodiktatur hörte ich aus dieser Ecke öfter, Einsprüche gegen Bodenverbrauch und Bodenversiegelung noch nie. „2019, als wir den Green Deal in der EU gestartet haben, hatten sich die meisten Parteien gegenseitig überboten, wer die grünsten Vorschläge macht. Da hatten wir jeden Freitag riesige Proteste der Jugend …“ (Umweltkommissar Virginius Sinkevičius). Tempi passati.

Arm in Arm in trauter Zweisamkeit: Die Volkspartei und ihre Lieblingslobby. Besonders die sogenannte Renaturierungs-Richtlinie (sie sieht die Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2030 vor) stößt der EVP (und ihrem Österreich-Pendant) sauer auf. „Europas Nahrungsmittelversorgung ist in Gefahr!“ Aha. Dem sekundiert der Umweltkommissar ironisch: „Ja, mir ist nicht entgangen, dass es plötzlich populär ist, mit den Apokalyptischen Reitern zu argumentieren […]. Dabei ist es genau umgekehrt, die landwirtschaftliche Lebensmittelproduktion ist durch die zunehmende Schädigung unserer Böden massiv gefährdet.“

Am 15. Juni 2023 schlug das Imperium erstmals zurück. EVP und ihre Lobby erreichten, dass die Abstimmung über die Renaturierungs-Richtlinie im Umweltausschuss des EU-Parlaments scheiterte – trotz mannigfacher Kompromissangebote. Dazu der hämische Kommentar von CDU-Abgeordneter Christine Schneider: „Eine Ohrfeige für die Kommission und Vizepräsident Frans Timmermans [EU-Kommissar für Klimaschutz].“

Spricht alles für sich selbst. Weitere Bemerkungen überflüssig.

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* Planlos gegen den Bodenverbrauch: KURIER, Mittwoch, 21. Juni 2023, Seite 2 (Leitartikel von Wolfgang Unterhuber)

** Siehe auch BLOG # 13 vom 11. Dezember 2022: „Stiefkind Umweltschutz“

Link

*** Fehlt der Boden, bleibt nur ‚nach oben‘. Wohnen auf dem Supermarkt: KURIER, Dienstag, 30. Mai 2023, Seite 19

**** KURIER, Samstag, 3. Juni 2023, Seite 4

***** Siehe BLOG # 22 vom 18. März 2023: „Sagt nicht ‚Bauern‘ zu ihnen“

Link

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Anmerkung: Der sogenannte Green Deal der EU* stellt einen Maßnahmenkatalog für den effizienten Umgang mit Ressourcen dar; für ein Maximum an Biodiversität; ein Minimum von Schadstoffbelastung. Er erstreckt sich auf Verkehr, Energie, Landwirtschaft, die Immobilienbranche, die Industrie. Erreicht werden sollen Klima- und Umweltziele unter anderem durch eine Biodiversitätsstrategie. Exakt diese Strategie wurde jetzt in trauter Zweisamkeit von EVP und Agrarlobby hintertrieben.

*Green Deal 1; Green Deal 2

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Nachtrag … Die Abgeordneten erteilen dem Agrarimperium eine erste Abfuhr. Na also – geht doch. Am Mittwoch, dem 12. Juli 2023, gab’s im EU-Parlament eine zwar knappe, aber doch eine Mehrheit für den Renaturierungs-Gesetzesvorschlag der Kommission (336 Abgeordnete dafür, 300 dagegen). Dabei handelt es sich ohnedies nur um eine in groben Strichen skizzierte Strategie, wie man der Natur in der exzessiv ausgebeuteten europäischen Landschaft etwas Genugtuung verschaffen könne, indem man ihr zumindest in ein paar Randzonen den einen oder anderen Freiraum gewährt. „Nix da! Wollen wir nicht!“  Erwartungsgemäß und reflexartig opponierten die üblichen Verdächtigen. Die selbsternannten Bauernkrieger aus den rechten Parteien plus Europäische Volkspartei EVP stehen im Lager der (Groß-)Agrarier, Bodenverbraucher und Landverwerter fest zusammen. Im Klartext: rechts der Mitte und jenseits aller Umsicht und Vernunft (an wissenschaftliche Redlichkeit wagt ohnedies niemand mehr zu appellieren) lehnt man ‚das‘ zentrale Element des Green Deal ab.

Pikante Details am Rande. Wissenschaftler, Natur- und Umweltschützer, die Biobauernschaft oder einfach nur besorgte beziehungsweise aufmerksam beobachtende Menschen hatten sich zu Tausenden im Vorfeld für die Renaturierungsmaßnahmen stark gemacht. Ja wie man hört, sollen sogar große Konzerne wie IKEA und Nestle ihre Unterstützung signalisiert haben.

Umso anrüchiger der Schwenk der konservativen politischen Mitte. Wie aus bestens informierten Kreisen (so sagt man doch?) durchsickert, geht es um die Hauptsache, das Kippen des Green Deal als solchen. Wenn die Abgeordneten der EVP „unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber (CSU) […] in den vergangenen Wochen lautstark in Opposition zu dem Gesetzesvorhaben der EU-Kommission gegangen [sind und] vor ‚sinnlosen Gesetzen‘ warnten [… und sogar behaupteten], ‚dass wir [dann als Folge der Renaturierungsmaßnahmen] aus Nicht-EU-Staaten Lebensmittel importieren müssten‘“ (ORF News, online, 12.7.2023)*, so ist das ein perfekt orchestriertes Ablenkungsmanöver. Besagte gut informierte Kreise sehen die Ablehnung des Renaturierungsgesetzes „stellvertretend für den Versuch der Aufkündigung des gesamten ,Green Deal‘“ (ebd.).* So schaut’s aus!   

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* ORF News, online, 12.7.2023, Link

Nein, um Landwirtschaft im eigentlichen Sinn geht es nicht bei dieser Form der Bodenbearbeitung; auch nicht um Forstwirtschaft. Denn geerntet wird nichts – der Nutzen liegt woanders … Obwohl – mit Urban Agriculture hat die Sache insofern zu tun, als sie durchaus das Ergebnis urbaner Innovationsbereitschaft ist: Tiny Forests, ‚winzige Wälder‘ als vorerst letzter Schrei urbaner Naturvorstellung? Genau deshalb sind diese schicken Mini-Urwälder auch keine Pocket Parks* – so sehr sie ihnen, oberflächlich betrachtet, gleichen mögen. Was sind sie also?

Versuch einer Definition. „Ein Tiny Forest (deutsch: Kleinwald, Mikrowald) ist ein angepflanzter Wald auf einer relativ kleinen Fläche mit einer großen Dichte. Ziel solcher Neuanpflanzungen ist, in urbanen Räumen auf kleinen Flächen möglichst vielfältige, schnell wachsende und sich selbst erhaltende Habitate anzulegen und dadurch eine Verbesserung der Umweltsituation zu erreichen.“** Ein Unterscheidungsmerkmal zum Park, Stadtpark – meinetwegen auch in dessen Diminutivform, dem Pocket Park (auf Wienerisch ‚Beserlpark‘) – wäre also die Fähigkeit des ‚winzigen Waldes‘, sich selbst zu erhalten. „No human interference? Und das mitten in der Stadt?“ Beziehungsweise: „Ob das nur in der Theorie so ist oder auch in der Praxis?“ Beide Fragen scheinen berechtigt, müssen aber erst einmal offen bleiben. Wir nähern uns ihnen über den Umweg einer anderen Frage …

Was ist urban? Keine Sorge, eine lange definitorische Abhandlung ist hier nicht vorgesehen. Nur eine auf das Kernthema – Natur in der Stadt – bezogene Überlegung. Natur in der Stadt ist durch Artenreichtum und Diversifikation gekennzeichnet; der Evolution sozusagen bei der Arbeit über die Schulter blickend, beobachtet man, wie sich – ein wenig abstrakt gesprochen – die Tabula rasa füllt. Ein anfangs leerer Raum (aber was heißt hier ‚anfangs‘?) sieht sich unzähligen Besiedelungseffekten ausgesetzt, nach der Devise first come, first serve. Alles funktioniert hier wie im richtigen Leben (gemeint ist damit die Stadtgeschichte): Stadtbürger ist man nicht, man wird es … in einem endlosen Prozess der Anpassung und Evolution.***

Wiederholen wir die Frage: Was ist urban an dieser Natur? Erstens, dass sie den Faktor Mensch voraussetzt – flapsig gesprochen den Eingriff um des Eingriffs willen. Und zweitens, dass es da ein Laissez faire gibt, welches den Faktor Mensch wieder relativiert. Dieser ‚interlocking approach‘ von Mensch und Natur ist das schlechthin Urbane am Leben in der Stadt.

Es waren Forschungen des japanischen Ökologen Akira Miyawaki, die in den 70er-Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts dem Wald eine Bedeutungsänderung bescherten, die ihn ins Zentrum urbaner Fragestellungen rückte. ‚Begrünung von Großstädten‘ heißt unter forstwirtschaftlichen Aspekten: Begrünung auf verdichteten Böden.

Verdichtete Böden als Limit und Chance. Wie in der fernöstlichen Kampfkunst wird die Bewegungsenergie nicht von außen ins System eingeführt sondern an Ort und Stelle im Sinne des Projekts abgerufen. Dahinter steht die Vorstellung, dass das natürliche System – und nicht der Mensch – die ganze Arbeit macht. Nicht der Mensch begrünt den verdichteten Boden, nein – dieser Boden, ungeachtet seiner Eigenschaft, ‚verdichtet‘ zu sein (eine Eigenschaft, die ihm der Mensch verpasste), begrünt sich von selbst. Dem Stadtmenschen ist der Laissez faire-Aspekt pflanzlichen Lebens, das sich zwischen Mauerritzen und Asphalt ans Licht zwängt, durchaus nicht unvertraut.

Die Idee des japanischen Forschers wurde vom indischen Öko-Unternehmer Shubhendu Sharma aufgegriffen. Unter der Marke ‚Tiny Forest (Afforest)‘ lässt er seitdem kleine verdichtete Stadtwälder auf degradierten  Böden entstehen.

Die Methode. Überschaubare Flächen (Shubhendu Sharma verwendet gerne Park- und Tennisplätze) werden zunächst dicht bepflanzt, zwei bis sieben Bäume je Quadratmeter sind die Regel. Hohe Pflanzdichte steigert den Konkurrenzdruck, dieser wiederum vermehrt die innerhalb des beschränkten Ökosystems freigesetzte Energie – was nicht zuletzt zu vermehrtem Wachstum führt. Ein Ergebnis, auf das ‚natürliche‘ Waldgesellschaften zwei Jahrhunderte warten müssen, stellt sich im urbanen Rahmen schon nach dreißig Jahren ein (unter anderem wird die Phase der Sträucher, Gräser und Pionierbäume übersprungen). Zusätzlich wirkt sich Yoda’s Law aus, jene Regel, die besagt, dass in Mischbeständen mit vielen verschiedenen Baumarten höhere Bestandsdichten erreichbar sind als in Reinkulturen.****

Ökologiehistorisch betrachtet ist die Tiny-Forest-Methode auch ein Indiz für das Ausgreifen der Stadt und ihrer Ideen auf das flache Land und dessen Bewirtschaftung. Tiny Forests sollen, wie man hört, eine der effizientesten Aufforstungsmethoden sein.

Ausgehend vom Sukzessionsprinzip im Stadterweiterungsprozess (Flächennutzungen wechseln einander in gesetzmäßiger Art und Weise ab) sieht Shubendu Sharmas ‚Spiralmodell‘ eine abgestufte Begrünung auf Kleinparzellen vor. Der eigentliche Aufforstungsprozess (mit dem Ziel eines vollkommen ungestörten, sich selbst überlassenen Wachstums nach Art der Primär- oder Urwälder) nimmt die ersten 25 – 30 Jahre in Anspruch (zu Parzellen, die sich gerade in dieser Phase befinden, hat der Mensch keinen Zutritt); danach erfolgt die 25 – 30-jährige Nutzungsphase, in der die Menschen den Lohn für ihre ursprüngliche Enthaltsamkeit einstreifen: aus dem Tiny Forest der Spätphase wird langsam ein mehr oder weniger stark frequentierter Pocket Park. Die letzte Phase von ebenfalls 25 – 30 Jahren dient dem Neuaufbau einer Grünfläche nach Urwaldart, besser gesagt der Rückverwandlung des ‚verbrauchten‘ Geländes in den nächsten Tiny Forest.*****

Forstwirschaftliches Intermezzo – ein Fallbeispiel aus Brasilien. Die Deutsch-Brasilianer Miriam Prochnow und Wigold Schaffer betreiben seit den 70-er Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, „eine Art gemeinnützige Baumschule,“ wie sie es nennen, „eine Urwaldfabrik“ (Tiny Forest: Urwald für die Stadt, 4:36 ff.)******

Sie tun das ganz bewusst als Nachkommen deutscher Einwanderer, die mit der gnadenlos konsequenten  Abholzung des Atlantischen Regenwaldes und dem Verkauf der uralten Baumriesen seinerzeit ein Vermögen gemacht hatten – vor allem mit dem Holz der mächtigen Araukarien, die für den Südosten Brasiliens so typisch waren und heute vom Aussterben bedroht sind. Nun also bepflanzen die Enkel oder Urenkel besagter Waldvernichter – zumindest jene, die dem Beispiel von Miriam und Wigold folgen – mit der Tiny-Forest-Methode die Ränder ausgetrockneter Flussläufe; und zur Wiederherstellung ihrer degradierten tropischen Waldgebiete bedienen sich diese postmodernen Nachfahren deutscher Kolonialherren aller möglichen Samen, Setzlinge und Pflanzerden aus der Baumschule der beiden Umweltpioniere. À propos …

Terra Preta – Amazoniens Wundererde. „Die rote Erde im Amazonas-Regenwald ist arm an Nährstoffen, karg und unfruchtbar.“ Mit Kurzformeln wie dieser pflegt man zu erklären, warum das Land vor Ankunft der Europäer nur dünn besiedelt gewesen sei. Richtig daran ist freilich nur die Farbe der früher ‚Laterit‘ genannten Urwalderde: die heute von den Geologen lieber als ‚Plinthosole‘ oder ‚Oxisole‘ bezeichneten Verwitterungsprodukte sind in der Tat ziemlich unfruchtbar. Doch seit Archäologinnen und Archäologen überall im Amazonasgebiet auf mächtige Böden mit fetter Schwarzerde gestoßen sind – der Name Terra preta bezieht sich auf die Pflanzenkohle, die ein bedeutender Bestandteil dieses Verwitterungsprodukts ist –, mag man an die menschenleere Urwaldlandschaft nicht mehr so recht glauben.

Wie diese Schwarzerden zustande kamen, ist relativ einfach zu erklären. Sie sind das Ergebnis eines Jahrhunderte alten Wanderfeldbaus (shifting cultivation). Das wiederum heißt: die fraglichen Gebiete waren durchgehend besiedelt. Dicht – aber nicht zu dicht – bewohnt und kultiviert von Menschen, die tief im tropischen Regenwald eine ausgeklügelt umweltbewusste Landwirtschaft betrieben. Eine in Zeit und Raum rotierende Agrikultur. In der es zwei Arten von Landschaft nebeneinander gibt, die einander in der Zeit ablösen – eine bebaute, eine unbebaute. Während sich der eine Teil in langsamer Sukzession wieder bewaldet, wird der andere neuerlich gerodet; dort treibt der Mensch auf einem mit der Zeit immer mächtiger werdenden Mutterboden (Terra preta oder ‚Indianererde‘) Gartenbau und Landwirtschaft.   

Shifting Cultivation (schematische Darstellung) © G.Liedl

Lob der Faulheit? „Viele Jahrtausende lang waren die Menschen Naturnutzer der sanften, weil spielerischen Art.“ Das wollen wir mal so stehen lassen. Zumal hier der historisch-ökologiehistorische Befund nicht zu widersprechen scheint.

Wanderfeldbau in der Antike © G.Liedl

Jahrtausende lang, bis weit in die klassische Zeit der Antike, ja noch am Beginn des Mittelalters war ein großer Teil der Weltbevölkerung mit der Wirtschaftsweise des Wanderfeldbaus offenbar so zufrieden, dass er sich buchstäblich kein anderes, besseres Leben vorstellen konnte. And rightly so, ist man geneigt zu sagen. Statt gegen die Kräfte der Natur zu arbeiten, lebt man mit ihnen, was in der Regel entschieden angenehmer ist … für beide Seiten.

Naturferne Effizienz oder geniale Trägheit – hat man die Wahl? Erste Feststellung: Das Umwelt-affine Laissez-faire lässt sich auf mannigfaltige, poetische Weise loben (und im Gegenzug als Trägheit denunzieren) – oder nüchtern-sachlich  auf den Punkt bringen. „Seit ihren frühesten Anfängen war die Landwirtschaft […] weit mehr als nur eine neue Ökonomie … [Sie war] ein Lebensstil“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 270).****

Dieser Lebensstil machte es möglich, dass „wir Menschen uns den größten Teil unserer Geschichte fließend zwischen verschiedenen Sozialordnungen hin- und herbewegt haben, [… sodass wir uns heute fragen müssen:] Wie sind wir stecken geblieben? Wie sind wir bei einer einzigen Ordnung gelandet?“ (Graeber / Wengrow: Anfänge, Seite 135)

Zweite Feststellung: Im kanonischen Bild einer ‚Höherentwicklung‘ ist die moderne Agroindustrie natürlich immer ‚besser, effizienter, wertvoller‘ als das, was vor ihr war und bloß einen obsoleten Lebensstil repräsentiert … Wie aber wäre es, an Stelle des linearen Geschichts-Determinismus einer vieldeutigeren und auf mehreren Ebenen angesiedelten Evolution das Wort zu erteilen und uns zu fragen: „Wenn wir anfangs nur gespielt haben, wann haben wir vergessen, dass wir spielten?“ (Ebd.)

Ein nüchtern argumentierender Beobachter hat das Dilemma moderner Naturferne am Leitfaden der „kulturellen Errungenschaft“ Terra preta dargestellt. „Über Tausende Jahre der Beobachtung […] haben wir Menschen uns ein systemisches Verständnis erarbeitet – das […] im Zuge der Industrialisierung binnen zweier Jahrhunderte nahezu ganz verdrängt und vergessen wurde“ (Jörn Müller, info@permaculturblog.de).**** Dem Befund ist nichts hinzuzufügen und dem Dilemma nur wenig entgegenzusetzen.

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* Pocket Park; vgl. BLOG # 9, Umweltstadt Wien? Ökologie der Donaumetropole, Teil 4

** Tiny Forest; Stadtökologie; Klimaresilienz; Tiny Forest in Österreich

*** Stichworte: Wärmeinsel-Effekt; Miyawaki-Methode; Partizipation durch Citizen Science; Sozialfunktionen; Ökosystem Boden – Ökosystem Wald; Pilotprojekte – Pflanzaktionen; Wald der Vielfalt – Stadt der Zukunft

Link

**** Permakultur Blog

Aus der Fülle einschlägiger Literatur seien genannt (in alphabetischer Reihenfolge):

Norbert Bartsch / Ernst Röhrig: Waldökologie. Einführung für Mitteleuropa. Springer Verlag: Berlin – Heidelberg 2016;

David Graeber / David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta: Stuttgart 22022 (London – New York 2021);

 S. Kaplan: The restorative benefits of nature: Toward an integrative framework. Journal of Environmental Psychology 15, 1995, Seite 169–182;

H. Pretzsch: Von der Standflächeneffizienz der Bäume zur Dichte-Zuwachs-Beziehung des Bestandes. Beitrag zur Integration von Baum- und Bestandesebene. In: AFZ Allgemeine Forst- und Jagdzeitung. Bd. 177, Nr. 10/11, 2006, Seite 188–198;

H. Pretzsch / G. Schütze: Tree species mixing can increase stand productivity, density and growth efficiency and attenuate the trade-off between density and growth throughout the whole rotation. In: Annals of Botany, Bd. 128, Nr. 6, 2021, Seite 767–786;

Ute Scheub / Haiko Pieplow / Hans-Peter Schmidt: Terra Preta: Die schwarze Revolution aus dem Regenwald. Oekom-Verlag: München 2013 (Rezension)

Terra Preta

***** Tiny Forests – die Methode (Link)

****** Tiny Forest: Urwald für die Stadt. Aufforsten gegen den Klimawandel. Film von Gesine Enwaldt und Ingo Mende (ZDF, 01.04.2023 18:36 Uhr / 29 Min.)

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Das muss ihnen der Neid lassen – wenn die Golfstaaten etwas zur Chefsache erklären, geht die Post ab. Dazu gehört auch das scheinbare Paradoxon, dass in einer Hochburg der Förderung fossiler Brennstoffe die Weichen für das nachfossile Energiezeitalter gestellt werden.

„Europa wird nicht annähernd genug Strom haben, um grünen Wasserstoff zu erzeugen. Eine Hoffnung der EU sind sonnenreiche Staaten in Nahost, die trotz Ölreserven Ökostrom-Anlagen bauen.“*

77 Quadratkilometer – mehr als die Fläche der Stadt Salzburg – umfasst der Solarpark in der Wüste 50 Kilometer südlich von Dubai. 2012 begann man mit der Planung, schon ein Jahr darauf startete die Produktion, heute trägt der nach dem Staatsoberhaupt benannte Mohammed bin Rashid Al Maktoum Solar Park** entscheidend dazu bei, dass in Dubai selbst bereits 15 Prozent des Bedarfs mit Strom aus ‚grünen‘, sprich nichtfossilen Quellen gedeckt werden. Und nicht nur das. Dubai hat sich als erstes Land auf der Arabischen Halbinsel zum Totalausstieg aus Erdgas und Erdöl verpflichtet (bis 2050 will man das geschafft haben).  

Nicht kleckern – klotzen: Das gilt in der Stadt der Superlative offenbar für alles und jeden. Dubai stellt nicht nur das höchste Gebäude der Welt zur Schau – den 829,8 Meter messenden Burdj Khalifa –, verfügt nicht nur über die größte Einkaufsmeile, das größte Riesenrad, das größte Hotel und die längste vollautomatische Metro: die Stadt am Golf hat auch einen exorbitant hohen Stromverbrauch. Besonders im Sommerhalbjahr, wenn die Außentemperaturen auf über 50 Grad klettern, und die Klimaanlagen der Häuser, Büros, Hotels und Einkaufszentren auf Hochtouren laufen. Da muss dann, wie gesagt, auch bei der Stromproduktion ordentlich geklotzt werden.

Concentrated Solar Power. Ein Turm steht auch im Mohammed bin Rashid Al Maktoum Solar Park. Er ist zwar ‚nur‘ 262 Meter hoch, dafür kann er 100 Megawatt Solarstrom nicht nur erzeugen sondern auch speichern, sodass in den orientalischen Wüstennächten, wenn in der Luxusmetropole das Leben pulsiert, niemand im Dunkeln sitzen muss. Spaß beiseite. Das aus einem Kranz von Spiegeln zur Turmspitze hin gebündelte Sonnenlicht bringt Salz zum Schmelzen (unsere Beschreibung ist ein wenig laienhaft, aber hoffentlich nicht falsch), dabei wird Wasser erhitzt, der Dampf treibt Turbinen … und so weiter. „Der Vorteil […] ist, dass die geschmolzenen Salze die Hitze lange speichern und so bis zum Sonnenaufgang weiter Strom liefern können.“ *

To whom it belongs – Wasserstoff für die Welt. Die größte Stadt der Vereinigten Arabischen Emirate boomt seit dreißig Jahren. Von den etwa 3,5 Millionen Einwohnern sind 80 Prozent Ausländer, in der überwiegenden Mehrzahl Arbeiter und Dienstmädchen aus Indien, Pakistan und Bangladesh … So weit, so typisch.  „Und sehr viele reiche ‚Westler‘.“* Eben … so weit, so typisch. Globalisierung goes green, sozusagen und als Geschäftsmodell. Denn wie Experten des Welthandels und der Weltpolitik ausgerechnet haben, wird Dubai (wenn es bis dahin Welthandel und Dubai noch gibt) im Jahr 2050 den Energie- sprich Wasserstoffhunger der Welt zu einem guten Drittel stillen können. Vorerst allerdings herrscht noch Business as usual. Mit anderen Worten: Der CO2-Fußabdruck der Einwohner Dubais gehört zu den größten der Welt. Offenbar sind sie sich darüber im klaren. Ihr Energiehunger ist sicher kein Alleinstellungsmerkmal. Doch im Unterschied zu anderen Energie-Hungrigen haben sie aus ihrem Hunger die Startrampe für ein lukratives – ich wiederhole mich – Geschäftsmodell gemacht.   

Noch ein Wort zum Naturschutz. Nachbar und Rivale Dubais ist der Zwergstaat Qatar. Aber keine Sorge … wir werden die von uns gelegte Rutsche nicht betreten. Politisiert wird nicht. Es sei denn im Sinn der Hypothese, dass es kaum etwas Politischeres gibt als den Naturschutz. Weil wir mit dieser Ansicht aber ziemlich allein dastehen, lesen wir, statt zu politisieren, Zeitung.

Der Qatar Tribune (Sonntags-Ausgabe) zufolge ist jetzt der Artenschutz auch am Arabischen Golf angekommen. Seit der Gründung des Friends of the Environment Centre – so lesen wir – wurde, um der Bevölkerung die Umweltfrage näher zu bringen („to raise awareness about environmental diversity in Qatar“) so manche Kampagne lanciert. Zum Beispiel die Jugendbewegung My Country’s Bird, eine Vogelschutz-Initiative mit erzieherischem Mehrwert. Volksbildung und Birdwatching, Tierschutz und Wissensvermittlung unter einem Dach: „To provide Qatar’s youth and members of the community information about the birds of Qatar and to promote their interest in birds“.

Qatar Tribune, Sonntagsausgabe vom 31.10.2021

Der Aufklärung folgt die humanistische Tat, „in order to establish a culture that calls for the care and preservation of birds and their living spaces, ultimately contributing to biodiversity“. Tierfreunde und Naturliebhaber im Good old Europe der Romantik und Aufklärung hätten das Projekt einer Citizen-Science-geboosteten Vogelschutzrichtlinie zur Erhaltung der Biodiversität nicht besser formuliert. Auch der Vogel des Jahres fehlt nicht: „We aim to introduce the birds of Qatar by celebrating a different local bird each year as the ‚Bird of the Year’”. Für die Jungen (our children 6 to 14) gibt es das Forum EcoKids. Zum besseren Verständnis der heimatlichen Natur.***

Und für die Großen Agro-Science. „Qatars Hauptproblem in der Landwirtschaft ist der Mangel an Süßwasser und fruchtbarem Boden. Oberflächengewässer gibt es nicht, deshalb ist Grundwasser die wichtigste Quelle für landwirtschaftliche Nutzung. Für den Anbau von Tierfutter wird allerdings entsalztes Meerwasser verwendet. Zur Deckung des steigenden Bedarfs an Süßwasser (die neuen Entsalzungsanlagen müssen mit Energie versorgt werden) ist ein eigener Solarenergiepark im Süden des Landes vorgesehen.  Die interessanteste Entwicklung ist jedoch im Bereich sogenannter hydroponischer Systeme zu erwarten. […Diese] kommen gänzlich ohne Erde aus, da sich die Pflanzenwurzeln in ständig bewegtem Wasser, angereichert durch Mineralien und Nährstoffe, befinden. […] Hydroponische Systeme sind äußerst effizient und benötigen nur 25% der Fläche und nur 10% des Wassers im Vergleich zum konventionellen Anbau, weil das Wasser in einen Kreislauf gebracht wird, der vor Verdunstung geschützt ist […]. Alles scheint darauf hinzuweisen, dass diese innovative Technologie großes Zukunftspotential hat und Teil der Lösung der weltweiten Nahrungsmittelproblematik sein könnte. Möglicher Weise führt sie sogar eine echte Wende herbei, indem sie die Kapitalien von ihrem unstillbar scheinenden ‚Landhunger‘ kuriert und ihnen ein anderes, ebenso lukratives, dabei aber weniger riskantes und vor allem ökologisch verträglicheres Investitionsfeld anbietet“ (Al-Aifari 2017, Seite 178 f.). Wer sagt's denn ... Naturschutz für Erwachsene.****

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* KURIER vom 30.5.2023, Seite 4

**Link; Link

*** „The six incredible Animals of Qatar“, The Qatar Tribune, Sunday, October 31, 2021

Link

**** Al-Aifari 2017 = Zaid Al-Aifari: Landgrabbing – Agrarinvestition im Zeitalter der Globalisierung. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 158–179

Gottfried Liedl / Peter Feldbauer: Al-Filāha – Islamische Landwirtschaft. Mandelbaum Verlag: Wien 2017 [Zur Geschichte der ‚arabischen‘ (‚islamischen‘) Landwirtschaft]

Link

'Die Insel der Weißen Antilope' (Naturschutz in Dubai)

Link

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Postscriptum. Lasst mich, geschätzte Freunde und Freundinnen der Nachhaltigkeit, diesem Beitrag ein kleines Loblied auf meine südliche Heimat Spanien anhängen. Ja, Loblied. Meine Eloge gilt dem Umstand – besser gesagt dem Faktum –, dass der Anteil von Energie aus erneuerbaren Quellen am Bruttoendenergieverbrauch in Spanien von 2004 bis 2021 kontinuierlich gestiegen ist. Im Jahr 2021 – mit dem meine Statistik endet – entfielen dann rund 20,7 % des spanischen Bruttoendenergieverbrauchs auf erneuerbare Energiequellen.* Das ist zwar (prozentuell) weniger als die Ziffer, auf welche der gelernte Österreicher stolz zu sein hat (36,5 % im Jahr 2020)**, liegt im Europa- (EU-) Vergleich aber brav im Schnitt (21,8 % im Jahr 2021).*** Länder mit viel Wasserkraft haben klarerweise die Nase vorn (in Schweden beträgt der Anteil an erneuerbarer Energie über 50 Prozent) … und dann gibt es die Schlusslichter (Belgien, die Niederlande, Luxemburg ...) mit unter 15 Prozent. Einen weiteren kleinen Pluspunkt für mein südliches Heimatland muss ich aber schon noch anbringen – den politisch festgeschriebenen Ausstieg aus der Atomenergie. Freundinnen und Freunde der Natur, ich hatte schon schlechtere Nachrichten im Talon.

Wie Spanien mit der Wassernot umgeht. Weil wir gerade dabei sind, die gute Nachricht aus dem Ärmel zu schütteln: Mit 765 Entsalzungsanlagen steht Spanien im weltweiten Ranking an vierter Stelle (hinter Saudi-Arabien, den USA und den Golfstaaten).**** Mit einem hohen Anteil kleinerer, lokaler Anlagen wird insgesamt eine Wassermenge produziert, die dem Bedarf (westlichen Zusschnitts, wohlgemerkt) von 34 Millionen Menschen entspricht. ¡Viva España!

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* Nachhaltige Energieproduktion in Spanien

** Nachhaltige Ebergieproduktion in Österreich

*** Nachhaltige Energieproduktion in der EU

**** Entsalzungsanlagen

„Die Sacher-Würstel waren schon mal besser.“ – „Ja wenn du auch so fleischsüchtig bist … Wegen Leuten wie dir brennen die Regenwälder.“ Cafés sind Orte der Belehrung. Und die schöne Unbekannte am Nebentisch hat ja auch recht. Der Druck globaler Landwirtschaft auf Ökosysteme und Biodiversität ist zu rund zwei Dritteln auf Viehhaltung zurückzuführen. Tierische Produkte, selbst mit den bestmöglichen Verfahren hergestellt, erzeugen bei gleichen Nährwerten höhere ökologische Auswirkungen als pflanzliche Lebensmittel (Roux et al. 2022).*

Aber die Viehzucht ist bloß die Spitze des Eisbergs. Selbst im veganen Chili sin carne stecken möglicher Weise umweltfeindliche Praktiken. Moderne Landwirtschaft ist kein Ponyhof. Das weiß auch der Birdwatcher. „Die intensive Landwirtschaft trägt die Hauptschuld am Vogelsterben … In den vergangenen 40 Jahren ging die Vogelpopulation in Europa um ein Viertel zurück. Feld- und Wiesenvögel gibt es nur mehr halb so viele. Eine Ursache ist, dass viele Tiere keine Insekten oder Würmer mehr finden, um sich zu ernähren.“**

Entwicklung und Fortschritt – die Erzählung. Allerlei Schönes vom Aufschwung der Landwirtschaft weiß die Geschichtsschreibung zu berichten, seit im Neolithikum vor 10.000 Jahren Menschen erstmals sesshaft wurden und Pflanzen nicht mehr sammelten sondern anbauten, Tiere nicht mehr jagten sondern züchteten. Groß waren die Mühen, noch größer die Errungenschaften – aus Dörfern wurden Städte, überall schossen Türme, Pyramiden und Kornspeicher aus dem Boden, Flüsse wurden begradigt und eingedämmt, man pflügte den Boden, bewässerte das Land … kurz, die Menschheit wuchs und mehrte sich.  

Man kann aber auch einen weniger konventionellen Blick auf die Agrargeschichte werfen, indem man sie zum Beispiel von der Evolution des Ernährungsregimes her zu verstehen sucht.*** „Ernährung und Expansion“ sind dann zwei Seiten einer Medaille (Tinhof 2017, Seite 138 ff.) – sie gehören als „Stationen auf dem Weg zur Globalisierung“ (ebd.) zusammen –, wozu noch ein Drittes kommt, der ökologische Aspekt. Mittelalterliche Rodungsexpansion und ‚Vergetreidung‘ der Ernährung führen zu Bevölkerungswachstum; aber ebenso gewiss ist dessen jähes Ende in einer „Rückkehr des Hungers“ (der französische Mittelalterforscher Jacques Le Goff). Die Menschen des Mittelalters – zumindest die Eliten – entwickelten ein Krisenbewusstsein, das bereits eine – wenn man sie denn so nennen will – Ahnung von ökologischen Zusammenhängen bedeutet haben mag und beispielsweise Waldverwüstung mit Bodendegradierung, ausgelaugte Böden mit Unterernährung oder Holzmangel mit wirtschaftlichem Abstieg, sozialem Niedergang und politischem Ruin in Beziehung zu setzen verstand (Tinhof 2017, Seite 142 ff.). Typischer Weise schwächen sich derlei ‚ökologische‘ Sensibilitäten mit den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung wieder ab, der Weg des Umweltschutzes, den Forstgesetzgebung und Bergrecht bereits beschritten hatten, wurde verlassen – zugunsten des alten Schlendrians, der nur den Ressourcenverbrauch kennt, nicht deren nachhaltige Nutzung (ebd., Seite 144).

Damit hatte man „die zweite Stufe – koloniale Expansion und europäische Agrarrevolution“ erreicht (Tinhof, ebd.). „Von der Frühphase der Spanier […] zu den Portugiesen und Niederländern mit den Stützpunktkolonien, dann zu den Engländern mit dem Aufbau von Siedlungskolonien [… bis zum] Abschluss dieser Entwicklung, [… dem] Imperialismus der konkurrierenden Kolonialmächte“ führt der Weg (ebd., Seite 144 f.).  Ökologisch verschärfte sich die Gangart im gegenseitigen „Austausch von Pflanzen und Tieren zwischen der Alten und Neuen Welt, auch als Columbian Exchange bezeichnet“ (ebd., Seite 145).         

Neue Bewirtschaftungsformen und Landnutzungssysteme (Stall- und Koppelhaltung, Viehfutteranbau, künstliche Düngung, Flurbereinigungen bei fortschreitender Mechanisierung, Auflösen der letzten Reste des Gemeineigentums … man nennt diesen Komplex ‚Agrarrevolution‘) begründen die folgende, die „dritte Stufe, [die] globale Expansion im 20. Jahrhundert“ (149 ff.), die sich durch Industrialisierung, aber auch Reglementierung der Landwirtschaft auszeichnet (ein Wechselspiel aus Liberalisierungs- und Fördermaßnahmen beziehungsweise Protektionismus). Nicht genug damit, dass die Betriebsformen der Landwirte sich ändern - angestoßen auch von der Verfügbarkeit etlicher neuer Nutzpflanzen wie Mais, Kartoffel, Tomate etc. (aber auch bedingt durch den Anbau neuer Futterpflanzen wie Alfalfa, Topinambur oder Soja) -, bleibt im Ernährungsregime der Weltbevölkerung kein Stein auf dem anderen. Der signifikant zunehmende Fleischkonsum ist nur ein Aspekt, wenngleich vielleicht der bedeutendste. In Gang gesetzt und aufrecht erhalten „durch einen gewaltigen Energieaufwand und politisch garantierte Handelsfreiheiten“ sorgt „der billige, die verschiedenen Monokulturen miteinander verbindende Transport“ für ständig verfügbare, varianten- und facettenreiche Lebensmittel; was nicht automatisch deren qualitative Güte bedeutet – und schon gar nicht deren ökologische Unbedenklichkeit. Mit dem bekannten Kalauer (der keiner ist), „dass die Zutaten für eine im Supermarkt erhältliche Steinofenpizza aus etwa 20 verschiedenen Ländern kommen und dabei rund 80.000 Kilometer zurücklegen“ (ebd., Seite 150), lässt sich die dritte Stufe des Ernährungs- und Agrarregimes in entwicklungsgeschichtlicher Absicht als Kulminationspunkt suggerieren, sodass die vierte und vorerst letzte ‚Stufe‘ (wenn es denn eine ist) mit der Formel „neue Formen des Agrarischen im 21. Jahrhundert“ beschrieben werden kann und dabei wie ein Einschnitt, Bruch oder Paradigmenwechsel wirkt. Die Umkehrlogik jener (vermeintlich) neuen Formen ist offensichtlich. In den Ansprüchen und Erwartungshaltungen scheint sich eine Verschiebung von der Quantität zur Qualität abzuzeichnen, verbunden mit der Hinwendung zu vegetarischen oder veganen Lebensweisen. Urban Gardenig, City Farming, Stadtteil-Gärtnern, Boden-Genossenschaften, Humus-Akademien … und wie die Formen einer niederschwelligen, öko-affinen Nachbarschafts(agri)kultur alle heißen mögen: als Renaissance der vielleicht zu früh totgesagten Allmende bilden sie „eine echte Alternative zur industriellen Landwirtschaft [… und] möglicherweise eine starke Gegenbewegung zur derzeit aktuellen Globalisierung“ (Tinhof 2017, Seite 155; 157).

‚Agrarisierung‘ der Welt. Wenn Utopie den harten Fakten des Status quo begegnet, kippt sie leicht in ihr dystopisches Gegenteil. Ein Blick vom Satelliten hinab auf die Erde zeigt uns, dass es mit der kleinteiligen, umweltverträglichen, gut nachbarschaftlichen Landwirtschaft der Zukunft nicht so weit her ist.

Fakt ist: Wüsten wachsen – ‚echte‘ Wüsten und Agrarwüsten. Was schwindet, sind die letzten tropischen Wälder. „Etwa 11 % der eisfreien Landoberfläche werden weltweit für den Ackerbau genutzt, 26 % als Weideland. Eine Ausweitung der Ackerbaufläche ist nicht zu erwarten, im Gegenteil: In vielen Regionen ist in den letzten 150 Jahren die Hälfte des fruchtbaren Ackerbodens verloren gegangen. Zusätzlich verringert Wüstenbildung die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen“ (Schuh 2008, Seite 148 [Zitat gekürzt]).**** Das mit der „nicht zu erwartenden Ausweitung“ ist natürlich ein Missverständnis. Wie gesagt, die Wüste wächst … Gerodet werden die Wälder als Ersatz für die steigende Zahl ehemals fruchtbarer, nun aber heruntergewirtschafteter Ländereien. Die „in den letzten 150 Jahren verloren gegangene Hälfte“ ist also um ziemlich genau die gleiche Fläche vernichteten Tropenwaldes zu verdoppeln. So funktioniert die Mathematik der Zerstörung: Minus mal Minus ergibt hier nicht Plus …

Gebiete mit großflächiger Bodendegradierung:

Landnutzung im Zeitalter der Globalisierung | © G.Liedl

Futtertrog, Tank und Teller – sprich Futtermittel, Treibstoff und Nahrungsmittel – sind die drei primären Ziele von Landnutzung, wenn es um die Frage geht, was man auf den verfügbaren Agrarflächen anbaut. In einem globalen Kontext der stetig wachsenden Weltbevölkerung [… erhebt sich die Frage], wie sich das Profitstreben und die Produktionssysteme der internationalen Investoren mit den Bedürfnissen und Produktionssystemen der einheimischen Bevölkerungen zusammenführen lassen. Anders gefragt: Wer hat die Kontrolle über die verfügbaren Ressourcen und zu welchem Zweck?“ (Schmid / Falter 2017, Seite 33 f.; 49 [Zitat gekürzt]).*****

Gute Frage … (Einige werden widersprechen und statt ‚gute Frage‘ ‚Gretchenfrage‘ sagen). Ohnedies kann eine Agrargeschichte ‚der anderen Art‘ (wie sie hier versucht wird) jenes Cui bono – wem zu Nutzen? – nicht beantworten, ohne gleichzeitig eine Ernährungsgeschichte ‚der anderen Art‘ ins Auge zu fassen. „Landwirtschaft [ist nur] als komplexes System ökologischer, ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Elemente [zu] begreifen“ (ebd., Seite 51). Als solchen Spiegel des Nahrungsregimes lassen sich (in chronologischer Reihenfolge) drei Phänomene ausmachen: Industrialisierung, Kapitalisierung und Flexibilisierung ist gleich Globalisierung der Landwirtschaft.

Industrialisierung, Technisierung und Rationalisierung – ungefähr ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – erzeugen im Agrarsektor ein Gefälle der Rentabilität. Als Ausweg bietet sich eine stärkere Kapitalisierung an, um Chancengleichheit zwischen lokalen und internationalen, kleinen und großen Playern zu wahren, mit gravierenden Folgen. Etwa seit 1950 nimmt die Abhängigkeit der Landwirtschaft von Großinvestoren weltweit zu, Technisierung und Rationalisierung lassen lokale Subsistenzbetriebe verschwinden, ersetzt werden sie durch eine immer weniger diversifizierte, immer präziser dem Weltmarkt angepasste Landwirtschaft. Agrikultur wird zum Gegenstand wissenschaftlich-technologischer Interventionen  (Stichwort Green Revolution). Und dann – etwa ab der Jahrtausendwende – betritt auch das vorerst letzte ‚neue‘ Nahrungsmittelregime die Bühne, welches sich „[dadurch] [aus]zeichnet […], dass es flexibel ist“ (Schmid / Falter 2017, Seite 56). Flexibel und global ist dieses Regime, „wobei sich der Wettbewerb […] verschärfte“: ökonomisch durch das Erscheinen neuer Akteure (vor allem in Asien und Lateinamerika), entwicklungspolitisch durch eine Art Neuauflage der Green Revolution – mit ähnlichen Begleiterscheinungen, nämlich Entmündigung lokaler Produzenten und globale Dominanz einiger weniger großer Biotec- und Lebensmittelkonzerne. Letzten Endes verschärfte sich dieser ‚Ausleseprozess‘ auch ökologisch – durch eine Bodenvernichtung ungeahnten Ausmaßes, begleitet von prägnanten Umweltschäden. Auffälliges Indiz des geänderten Nahrungsmittelregimes und eine unmittelbare Folge davon sind dessen hohe ökologische und soziale Kosten (Schmid / Falter 2017, Seite 59). Ganz zu schweigen von den Faktoren Klimakrise und Artenschwund. Wir wollen es kurz machen: Der postmodernen Landwirtschaft, der Landwirtschaft im beginnenden 21. Jahrhundert ein auch nur halbwegs gutes Zeugnis auszustellen, wird nicht leicht sein. Dagegen ist die Quadratur des Kreises ein Kinderspiel.           

(Wird fortgesetzt)

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* Roux et al. 2022 = Nicolas Roux / Lisa Kaufmann / Manan Bhan / Julia Le Noe / Sarah Matej / Perrine Laroche / Thomas Kastner / Alberte Bondeau / Helmut Haberl / Karlheinz Erb: Embodied HANPP of feed and animal products: Tracing pressure on ecosystems along trilateral livestock supply chains 1986–2013. In: Science of the Total Environment, 24. August 2022

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** KURIER vom 10.5.2023, Seite 21

*** Tinhof 2017 = Hannes Tinhof: Ernährung und Expansion – Stationen auf dem Weg zur Globalisierung. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.1: Zivilisationen). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 138–157

**** Schuh 2008 = Bernd Schuh: Das visuelle Lexikon der Umwelt. Hildesheim 2008

***** Schmid / Falter 2017 = Michael Schmid / Lisa Falter: Botanische und ernährungspolitische Aspekte des Landraubs. In: Gottfried Liedl / Manfred Rosenberger (Hg.): Ökologiegeschichte. Band 2: Zeiten und Räume (Halbband 2.2: Naturdinge, Kulturtechniken). Turia und Kant: Wien – Berlin 2017, 33–69

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Nachbemerkung und Fallbeispiel ...

Augenzeugenbericht der Journalistin Sandra Weiss über den Alltag eines typischen Bürgers aus Montevideo: „Wenn Federico Kreimerman zu Hause in Uruguay dieser Tage den Wasserhahn aufdreht, tropft daraus eine salzige Brühe, und im Wassertopf, in dem er seine Frühstückseier kocht, bleibt eine weiße Kruste zurück. Das kleine Land am Silberfluss, dem Rio de la Plata, leidet seit drei Jahren unter einer Jahrhundertdürre. Besonders schlimm ist es in der Hauptstadt Montevideo, wo knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt. Uruguay ist theoretisch kein regenarmes Land. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge liegt bei 1281 mm im Jahr; in Deutschland sind es nur rund 700.“ (Sandra Weiss: „Wegen Dürre wird Flusswasser beigemischt: Uruguay hat nur noch für drei Wochen Trinkwasser“).*

Schuld an der Misere ist nicht der Regenmangel als solcher. Schuld ist natürlich - wieder einmal, möchte man sagen - der Mensch. Der Mensch? Eine ganz spezielle Sorte Mensch, nämlich Homo oeconomicus. Fündig wird die Ursachenforschung bei gewissen Akteuren einer bestimmten Form landwirtschaftlicher 'Nutzbarmachung' der Umwelt: „Die Intensivierung der Land- und Forstwirtschaft entlang des Santa Lucia, die Zerstörung von Pufferzonen und Feuchtgebieten und eine zu hohe Wasserentnahme spielen eine Rolle“ (Marcel Achkar, Umweltforscher an der Universität Montevideo, Zitat: Sandra Weiss). Auch in Uruguay treibt der Sojaboom mit seinem Landhunger die sattsam bekannten Blüten. Die Weiterführung der Gedankengänge von Homo oeconomicus ist ebenfalls wenig überraschend: Wenn wir schon beim Abholzen sind, können wir auch gleich Papierfabriken bauen! Dumm nur, dass diese viel Wasser benötigen (das sie dann auch noch verschmutzen); den Rest erledigen „durstige Eukalyptus- und Kiefermonokulturen“ (Sandra Weiss, ebd.).

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* Quelle: TAGESSPIEGEL (Online-Magazin), Beitrag von Sandra Weiss, 11.06.2023, 15:44 Uhr

Link

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Sprung zurück über den Großen Teich (gleiches Thema, andere Größenordnung).  

Schauplatz Wien, Bundeshauptstadt der Republik Österreich. Ein paar Zahlen, die angeben, welchen Stellenwert bei der Wiener Stadtverwaltung Natur und Umwelt haben (aus dem Budget-Voranschlag für 2023)

Geplante Gesamtausgaben: 16.659,1 Millionen Euro (16,66 Milliarden). Davon Umweltausgaben: knapp 932 Millionen (5,6 %):

Tabelle der für 2023 geplanten Umweltausgaben (aufgeschlüsselt)

Quelle: Voranschlag der Bundeshauptstadt Wien für das Jahr 2023 (Wien 2021)

Link

5,6 % der geplanten Gesamtausgaben … wieviel ist das? Für den Umweltschutz im engeren Sinn (etwas mehr als 8,5 Mio.) macht das der MA 22 (Magistratsabteilung für Umweltschutz) zur Verfügung stehende Volumen gerade einmal 0,05 % des Gesamtvoranschlags aus. Nicht wirklich berauschend im Vergleich mit den durchschnittlich 7 %, die für Verkehr bereit stehen, den 14 % für Verwaltung, den 15 % für Bildung und Sport (nicht dass man mich hier missversteht: eh fein, dass man auch für Bildung etwas übrig hat). Aber 0,05 Prozent? Dagegen ist sogar der mikrige Kulturbereich – hier macht die Stadtverwaltung im Durchschnitt 1,5 % bis 1,8 % locker – ein Quotenriese.

Unlängst hat sich ein Teilnehmer meines Ökologie-Seminars über meinen Sager beschwert, Landwirte seien stets die größten Umweltsünder gewesen (bevor sie die Industrie überholte). „Dieser These würde ich persönlich insofern widersprechen, als ich der Meinung bin, dass die Menschen am Land […] (verdienter Maßen) mit Stolz auf das von ihnen Geschaffene blicken. Ich bezweifle bis zu einem gewissen Punkt, dass der Landmensch den Stadtmensch um seinen Lebensraum beneidet“ (Benedict Kessler, Rezension: Gottfried Liedl, Das Zeitalter des Menschen. Eine Ökologiegeschichte, 3 Bände). Geschenkt, Herr Kollege. Aber ich spreche ja auch nicht von heutigen gebildeten und urbanen Landwirten der ‚Generation achtsam‘ (vulgo Biobauern). Sondern habe – Historiker, der ich nun mal bin, seit ich mich selbst aus den elysischen Gefilden der Philosophie verbannte – einen Bauernstand vor Augen, den eine vieltausendjährige Geschichte der Not, des Mangels, der Sorge und der Unterdrückung geprägt hat.

Geplünderte Plünderer, zerstörte Zerstörer. Von einem Leibeigenen des Feudalzeitalters Empathie für Mutter Natur, für Tiere und Pflanzen zu erwarten, ist ungefähr so realistisch wie die Annahme, afrikanische Wilderer könnten zu Rettern der letzten Nashörner mutieren. Für den Leibeigenen oder, um noch ein wenig weiter zurück zu gehen in der Geschichte der Landwirtschaft, für den Feldsklaven eines römischen Latifundienbesitzers waren Naturgegenstände Inbegriff von Zwangsarbeit, Leid und Entbehrung. „Im Schweiße deines Angesichts …“ Wie recht sie doch manchmal haben, die Heiligen Bücher. Zum Ehrennamen wurde ‚Bauer‘ erst durch das Missverständnis (ein Missverständnis, wie es nur urbanem Müßiggang entspringt), Natur sei idyllisch. Geschätzt und geschützt wurde diese ‚Natur‘ denn auch nicht von denen, die sie im Schweiße ihres Angesichts zur (Bauern-)Landschaft machten, sondern von solchen, die in ihren Gefilden lustwandelten. Bis hin zum Grenzwert besagten Lustwandelns, der Jagd – denn selbst diese lässt den wilden Tieren und Pflanzen mehr Schutz angedeihen als der Landwirt, für den besagte Tiere und Pflanzen lästige Ernteschädlinge sind. Warum auch sollte er teilen, wo doch Schicksal und Natur ihn selbst dazu verdammt zu haben schienen, immer nur abzugeben und herzuschenken, bis ihm selbst kaum das Lebensnotwendigste blieb. Geiz und Bauernschläue prägen das Land; Überfluss und ideale Werte gibt es nur in Burgen, Schlössern und Palais. Und in der Stadt, deren Luft bekanntlich frei macht.

Ein Lehrstück von Bauernschläue und Geiz. „Also sagt nicht ‚Bauern’, wenn ihr die gewerbsmäßigen Agenten moderner Landwirtschaft meint. Sonst werdet ihr Opfer eures eigenen urbanen Idealismus, der ‚auf dem Lande‘ den Hüter der Natur zu finden meint, wo in Wirklichkeit deren Zerstörer sitzen.“

Gegenwärtig wird in den Hotspots der Agro-Industrie gern vom Bauerntum gesprochen … und wie man es schützt, hegt und pflegt. „Wutbauern mischen die Regierung auf. Niederlande: Die neue Bauer-Bürger-Bewegung erzielte einen fulminanten Sieg bei den Regionalwahlen. Ihr Ziel: Das strenge Umweltprogramm der Regierung stoppen“ (KURIER vom 17.3.2023). Mit dem Ruf ‚Höfe vor der Schließung bewahren!‘ zogen Hollands Landwirte, unterstützt von Hollands extremer Rechten und begleitet von idealistischen Bürgern, in die Wahlschlacht. Den Gewinn streifen natürlich nicht sie ein. Sondern andere. „Agrarplayer“ (KURIER), in deren vollautomatischen Massentierhaltungs-Ställen rund 35 Millionen Tiere auf den Tod im voll automatisierten Schlachthof vorbereitet werden, sind klarerweise genau nicht jene, deren ‚Höfe‘ (ein Euphemismus, wie er im Buche steht) geschlossen werden sollen.  

‚Bauern‘ als Umweltschützer … Wie war das nochmal mit dem Wolf im Schafspelz? „Die mit rund 17 Millionen Einwohnern dicht besiedelten Niederlande haben ein gewaltges Umweltproblem. So groß, dass das höchste Verwaltungsgericht bereits 2019 urteilte: Bis 2030 müssen zwingend 55 Prozent des Treibhausgas-Ausstoßes (ausgehend vom Niveau 1990) verringert werden“ (KURIER vom 17.3.2023, Seite 8). Das ist die urbane Reaktion auf ein rurales Problem. Zugleich Beweis für die Vergeblichkeit idealen Strebens … Auf der Gegenseite gibt es die regionalen Wahlerfolge derer ‚vom Land‘. Sorry, Romantiker, aber grün ist auf dem Lande nur das Gras. Das überdüngte.  

Wenn ich meine Lieblings-Gesprächspartnerin und Reisegefährtin aus Jugendtagen zitieren darf: „Attenboroughs Film ist nichts für schwache Nerven.“ Richtig. Aber auch die auf unserem Planeten herrschenden Zustände, welche die Doku ‚Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps‘* beschreibt, „sind nichts für schwache Nerven.“ So besehen hat die Menschheit offenbar ungeheuer starke Nerven. In ihrer erstaunlichen Dickfelligkeit hält sie den steigenden Stress, den sie ‚Mutter Erde‘ und ‚Mutter Natur‘ antut, selber ganz gut aus. Oder sollte man sagen: Ein kleiner Teil der Menschheit tut das? Eine Minderheit besagter Menschheit spürt diesen Stress, diese Belastung schon deshalb nicht, weil sie davon profitiert. Für diesen Teil der Menschheit ist der Zustand, in dem ‚Natur‘ und ‚Mutter Erde‘ sich befinden, geradezu angenehm. „Man hat etwas davon“, wie sie sagen (woher das, ‚was man hat‘, stammt respektive wem es genommen wurde, interessiert nicht weiter).

Und die Anderen? Deren Leidensfähigkeit vulgo Dickfelligkeit verdankt sich einer gut geölten Verdrängungsmaschinerie. Man legt einen frischen Verband an und wirft die nächste Beruhigungspille ein. Dazwischen steigt der Meeresspiegel weiter, brennen die Wälder, leidet die Kreatur. In letzter Instanz entscheidet natürlich nicht der Mensch über sein Schicksal, sondern ‚die Natur‘. Schon die Physiokraten** wussten: Des Menschen Wohlergehen entsprießt dem Boden. Anfang und Ende des Kreislaufs von Wohlstand und Glück bilden die Nahrung spendende Erde mit ihren Gewässern und das von Leben überquellende Meer.

Fruchtbare und weniger fruchtbare Böden. „Wir beobachten schon jetzt, dass durch die Bodendegradation und den Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in einigen Teilen der Welt zurückgeht. Unglücklicher Weise trifft es die armen Menschen in den Entwicklungsländern am härtesten“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme: Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Was das mit Artenverlust und schwindender Biodiversität zu tun hat, weiß man unter Experten für Boden-Ökologie schon lange. Entscheidend „ist der Verlust der Artenvielfalt unter der Erdoberfläche. Der Boden sollte voller Leben sein. Aber Studien zeigen, dass bis zu 30 % der Landflächen weltweit eine geringe Biodiversität aufweisen. Eine der wichtigsten Aktivitäten der Tiere im Boden ist das Zerkleinern organischer  Substanzen, die dann dem Pflanzenwachstum dienen. Wenn wir also die Vielfalt im Boden verlieren, können die Folgen katastrophal sein“ (Richard Bardgett, University of Manchester: Fünf vor Zwölf, 9:22 ff.).

Einfluss des Bodenlebens auf Verwitterung und Bodenfruchtbarkeit; Quelle: Fünf vor Zwölf, 9:47

Der Bodenverbrauch ist enorm. „Wir haben weltweit fast 90 % der Feuchtgebiete verloren, wir haben Wälder und Wiesen umfunktioniert – das entspricht 75 % der Erdoberfläche, die nicht von Eis bedeckt ist“ (Robert Watson).

Die Welt, wenn es den Menschen nicht gäbe (grün | oberes Bild) – und die Welt, vom Menschen verändert (gelb-orange | Bild unten); Quelle: HYDE | Fünf vor Zwölf, 26:14 ff.

Hauptmotor für den ausufernden Bodenverbrauch der modernen Agrarwirtschaft ist die nicht bis kaum vorhandene Nachhaltigkeit in der Bewirtschaftung der Böden. Statt dem Bodenleben Zeit zur Regeneration zu lassen – das heißt, in den Rhythmus von Säen und Ernten als Zwischenschritt die organische Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit einzufügen –, werden die Anbauzyklen immer kürzer. Der Boden wird zur bloßen ‚Unterlage‘ degradiert, zur Tabula rasa des Ackerbaus.

Ohne kritische Hinterfragung der ökonomischen Denkungsart wird sich das auch nicht so rasch ändern: „Problematisch ist, dass Land gerodet wurde, um unser Produktionsniveau zu gewährleisten, und trotzdem laufend neue Flächen gerodet werden, weil das meist schneller geht und billiger ist. Ein Großteil dieser Rodungen [eine Fläche jährlich so groß wie die Niederlande] wird durch die Nachfrage auf der anderen Seite der Welt angetrieben. Wir wollen günstige Lebensmittel und ein rund um das Jahr verfügbares Sortiment. Der Konsument, der im Supermarkt einkauft, trägt also unwissentlich zum Verlust der biologischen Vielfalt bei. … Wir haben jetzt die Daten, um die Haupttreiber des Artensterbens zu identifizieren: Soja, Palmöl und das Rindfleisch“ (Toby Gardner, Transparency for Sustainable Economies | TRASE: Fünf vor Zwölf, 26:39 ff.).

Wege des Konsums; Quelle: TRASE | Fünf vor Zwölf, 28:03

„Es zählen zwei Faktoren – die Bevölkerungsgröße, aber auch der Konsum“ (Shahid Naeem, Ökologe, Columbia University: Fünf vor Zwölf, 20:08 ff.). Neben dem Bevölkerungswachstum – manche sagen: mehr als das Bevölkerungswachstum – spielt das Konsumverhalten der Weltbevölkerung eine Rolle. Ein Verhalten, das ob des stetig anwachsenden Ressourcenverbrauchs, den es mit sich bringt, nicht gerade als besonders Nachhaltigkeits-fördernd bezeichnet werden kann: „Wenn es um die Auswirkungen [des Bevölkerungswachstums] auf die Umwelt geht, ist der wachsende Konsum relevanter, der in bestimmten Ländern viel höher ist [als in anderen]“ (Stuart Butchart: Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.). Reden wir Klartext: Im Durchschnitt verbraucht ein Europäer siebenmal so viel wie ein Inder; und ein Amerikaner viermal so viel wie ein Europäer … Denn auch die Umweltverschmutzung treibt das Artensterben an (Fünf vor Zwölf, 20:10 ff.).

Geplünderte Meere. In den letzten vierzig Jahren hat das Ausmaß der weltweiten Fischerei dramatisch zugenommen. Mit kaum vorstellbaren Größenordnungen. So können, wie es heißt, gleichzeitig bis zu 100.000 Schleppnetz-Fischer auf den Meeren unterwegs sein (Fünf vor Zwölf, 17:49 ff.). Nicht dass man dazu von Expertenseite keine Bedenken hätte: „Wir haben eine Datenbank  mit Zahlen über den weltweiten Fischfang erstellt und dabei die Situation auf globaler Basis untersucht. Diese globale Betrachtung zeigt eine massive und weltweite Überfischung. Die moderne Fischerei ist ein industrieller Prozess, der von großen Konzernen betrieben wird. [Die dabei eingesetzten Boote] sind Fabriksschiffe. Sie räumen den Meeresgrund mit hausgroßen Netzen ab … und alles, was auf ihrem Weg liegt, landet darin“ (Daniel Pauly, Institut für Ozeane und Fischerei an der University of British Columbia: Fünf vor Zwölf, 17:42 ff.).

Der von Attenborough in seiner Dokumentation zitierte Bericht enthält auch eine bezeichnende Aussage zur Nachhaltigkeit. Vor die Wahl gestellt, auf nachhaltige Weise – also kontinuierlich – moderate Fangquoten zu erzielen, hat die internationale Fischerei „immer den größten Fang in der kürzest möglichen Zeit gewählt“ (Daniel Pauly). Kein Wunder, dass beispielsweise in den Gewässern um China heute noch etwa sechzehn Prozent des ursprünglichen Bestandes übrig sind. Was einen Verlust von mehr als vier Fünfteln bedeutet … in gerade einmal 120 Jahren. Keine Spur von ökologischer Vernunft nach Art der Wissenschaft: „Fischbestände nachhaltig zu bewirtschaften [und] Fischerei in einem Gebiet zu reduzieren, [um] die Population wieder auf ein annehmbares Niveau [zu] bringen“ (Julia Jones, Bangor University: Fünf vor Zwölf, 18:06 ff.) war für die gewinnorientierte Fischerei noch nie die erste Wahl. „Selbst dort, wo es Fischfangquoten gibt, werden sie nicht umgesetzt. Und in vielen Teilen der Welt gibt es dergleichen Vorschriften nicht einmal“ (Robert Watson, UN-Plattform für Biodiversität und Ökosysteme).

Schlägt Mutter Natur zurück? Krankheiten und Pandemien. Peter Daszak von der Eco Health Alliance ist einer von denen, die hier ein kräftiges ‚Ja‘ auf den Lippen haben. „Wir sehen, wie sich Pandemien häufen … und bei jeder dieser Krankheiten haben wir untersucht, wo auf der Welt sie ihren Ursprung haben. Was dort vor sich geht und was die Ursache dafür sein kann. Und jedes Mal waren der Mensch und sein Einfluss auf die Umwelt die Verursacher der auftretenden Krankheit.

So gibt es heute mehr Tierhandel als je zuvor. Es sind die Märkte, wo Tiere mit ihren Fäkalien Viren verbreiten, Tiere, die von uns getötet werden. Viren können sich an solchen Orten unglaublich gut verbreiten.

Und noch etwas fördert die Entstehung neuer Krankheiten: Jeden Tag dringen wir etwas weiter in den Lebensraum der Wildtiere ein. Einunddreißig Prozent aller neu auftretenden Krankheiten sind entstanden, wenn neues Land erschlossen worden ist. … Jeder dieser Schritte im Prozess bringt Menschen näher in Kontakt mit Wildtieren – und deren Viren“ (Fünf vor Zwölf, 16:07 ff.).

Es ist paradox. Gerade die unauffälligsten Beteiligten sind in diesem  Prozess die wirkmächtigsten – das gilt nicht nur für die Krankheitserreger selbst. „Virenforschung beweist – wenn Menschen ihren Lebensraum umwandeln, spielt noch etwas anderes mit. Alle Arten beherbergen Krankheiten; es sind aber die kleinen Tiere, welche die meisten Erreger und Viren, die auf den Menschen überspringen können, speichern. Solange es intakte Lebensräume mit hoher Artenvielfalt gibt, werden sie in Schach gehalten. Wenn jedoch Menschen Lebensräume zerstören,  verschwinden zuerst die Großen, die Raubtiere … Die kleineren Tierarten sind die Gewinner, sie vermehren sich unbegrenzt. Damit erhöht sich natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass sie uns krank machen“ (die Ökologin Felicia Keesing vom Bard College, New York: Fünf vor Zwölf, 29:38 ff.). Anscheinend sind unsere Optionen für eine maßgeschneiderte Welt à la Anthropozän doch nicht so gut, wie wir dachten.***

Was tun? Ein Vorschlag zur Güte. Für Nicolas Stern von der London School of Economics sind die Perspektiven klar: „Als erstes müssen wir die Art, wie wir unsere Wirtschaft führen, resetten. … Ich war an einer Studie beteiligt, in der wir die besten Wege aus dieser Krise durchgedacht haben. Wir haben festgestellt, dass Maßnahmen, die gut sind für die Umwelt, uns zugleich auch aus der Krise herausführen, in der wir uns befinden. Wir müssen die Schäden dramatisch begrenzen, die wir durch Produktion und Konsum verursachen – das ist der Preis“ (Fünf vor Zwölf, 39:42 ff.). Soweit, so deutlich.

Nicht weniger rigoros geht sein Kollege Partha Dasgupta vor (Fünf vor Zwölf, 40:48 ff.). Für den Wirtschaftswissenschaftler von der University of Cambridge steht der Umgang mit den Allmenden, den ‚freien‘ Gütern dieser Welt, auf dem Prüfstand. „Bis heute ist die Natur ein freies Gut. Wir benutzen Flüsse zum Abtransport von Schadstoffen. Große Teile des Regenwaldes sind zu erstaunlich niedrigen Preisen abgetreten worden, zu Preisen, die nicht dem Wert entsprechen, den sie de facto für die Welt haben ... Als Ökonom halte ich  es für richtig, dass die Menschen für den Nutzen, den sie aus der Natur ziehen, den angemessenen Preis zahlen“.

Gut gebrüllt, Löwe. Dein Wort in Gottes Ohr.    

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* Der Film:

Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.

** Zu den Pysiokraten siehe BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022 und diesen Link.

*** Ähnliche Themen aus früheren Blogs:

Umweltzerstörung, Entwaldung, Artenschwund: Link;

Artenschutz und Arterhaltung: Link 1; Link 2 (Waldschutz und Aufforstung: Bäume in Stadt und Land); Link 3 (Stadtbäume und Exoten); Link 4 (Botanische Weltenbummler); Link 5 (Europas Wälder);

Naturschutz als dehnbarer Begriff: Link 1; Link 2; Link 3 (Der Wisent-Skandal);

Welterbe, Weltallmende – vom Wert der Zivilgesellschaft: Link 1; Link 2; Link 3; Link 4.

Literatur:

Franz Essl | Wolfgang Rabitsch (Hg.): Biodiversität und Klimawandel. Auswirkungen und Handlungsoptionen für den Naturschutz in Mitteleuropa. Springer Spektrum: Berlin 2013 (Nachdruck 2017) Link

Anmerkung: Der Ökologe Franz Essl lehrt an der Universität Wien (Botanik und Biodiversitätsforschung). Vom Club der Bildungs- und Wissenschaftsjournalisten wurde er zum österreichischen Wissenschaftler des Jahres 2022 gewählt.

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„Alles wird gut!“ (Der österreichische Schauspieler und Kabarettist Robert Palfrader als Wettermoderator im Film ‚Walking on sunshine‘). Manchmal ist es ziemlich erhellend, Europa von der anderen Seite des Atlantiks betrachtet und kommentiert zu sehen. Wenn da auf die Verstocktheit, für die der alte Kontinent bekannt ist, ein zarter Abglanz amerikanisch-zuversichtlicher Denkungsart fällt, hört sich das beinahe charmant an.

„The EU gets down to business“, befinden Laura Millan Lombrana und Akshat Rathi im jüngsten Newsletter des digitalen Börsenjournals ‚Bloomberg Green‘. Gemeint ist die späte aber wenigstens nicht ganz unkonstruktive Reaktion auf Joe Bidens beherzte Initiative zur Förderung grün-innovativer (wenn man sie denn so nennen mag) Unternehmungen und Projekte US-amerikanischer Provenienz … und NUR dieser. Sich plötzlich ausgeschlossen und abgehängt zu sehen, ließ die Europäische Kommission aufwachen – zumindest aus der Perspektive von jenseits des Großen Teichs.

„Eight months after passage of the lavish US climate law, the European Union is considering policy response that marginally improves on the three-year-old Green Deal roadmap for tackling climate change over a decade.“ Zwar: „The measures set to be proposed by the European Commission on Tuesday don't suggest a Washington-vs.-Brussels arms race for the green future.“ Doch immerhin: „New policies in the Net-Zero Industry Act would accelerate permitting and set production targets for technologies including solar panels, wind turbines, heat pumps, batteries and electrolyzers, according to a draft document reviewed by Bloomberg. […] The EU's green programs will add up to $1 trillion in spending this decade, according to projections from researchers at BloombergNEF. From a certain point of view the US is playing catchup with its $369 billion green spending measure — and because some of the American tax incentives are uncapped, the final total could be far higher“ (Newsletter vom 13.3.2023).

Alles wird gut? Zumindest was die Investitionen in eine solare Zukunft betrifft? Mal sehen. „Walking on sunshine“ … vielleicht sogar irgend wann einmal in Good old Europe.

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" (Goethe). Genau. Er sei es. Weil er es nicht ist. Über das Ausmaß jener eklatant unedlen Haltung weiß man theoretisch Bescheid; in der Praxis jedoch stehen unserem Wissen einerseits mangelnde Kritikfähigkeit, andererseits nicht genügend Leidensfähigkeit im Wege - Homo sapiens ist auch ein begnadeter Verdränger.

Der britische Naturforscher und Altmeister des Dokumentarfilms, Sir David Attenborough, zieht mit 96 Jahren eine Art Bilanz, in deren Mittelpunkt gar nicht er selbst steht. Vielmehr geht es um den Gegenstand seiner lebenslangen Faszination:  ‚Natur‘, gelesen als Gemeinschaft der Lebewesen auf dem Planeten Erde. Es ist, man muss es leider so sagen, eine traurige und traurig machende Bilanz. Attenborough kontrastiert die wunderbaren Bilder seines filmischen Lebenswerks (für das wir ihn bewundern und schätzen) mit dem Zustand der Erde im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends abendländischer Zeitrechnung (Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps).*

„Im Laufe meines Lebens bin ich einigen der außergewöhnlichsten Tierarten der Welt begegnet. Erst jetzt wird mir klar, welches Glück ich hatte. Viele dieser Wunder sind dabei, für immer zu verschwinden“ (Attenborough, Fünf vor Zwölf, 1:27 ff.). Der Dokumentarfilmer lässt die Aussagen seiner Interviewpartner Revue passieren. Was die Expertinnen und Experten über den Zustand unseres Heimatplaneten zu sagen haben, klingt alles andere als beruhigend. In Attenboroughs trocken zusammenfassender Formulierung ist es ein Bericht darüber, „wie Menschen Ökosysteme zerstören, von denen wir abhängig sind“.

Arten sterben. Seit es Leben auf unserem Planeten gibt, spielt die Evolution ihr Spiel vom Werden und Vergehen. Dass Arten aussterben, ist also ganz normal. Nicht normal ist das Tempo, in dem das geschieht, seit Homo sapiens aufgehört hat, eine Art unter anderen zu sein. Anders gesagt, es gibt so viele Individuen der Spezies ‚Mensch‘, dass ihr an und für sich nicht gerade zimperlicher Umgang mit den übrigen Playern aus Flora und Fauna durch den schieren Umfang solcher Intervention eine neue, katastrophale Qualität erreicht. Der Ausdruck Anthropozän (‚Zeitalter des Menschen‘) ist die präzise Beschreibung dieses totalitären Einflusses einer einzigen Spezies.

Exponentiell steigende Kurve der Aussterbe-Rate seit 1900; Quelle: IUCN | Fünf vor Zwölf, 4:18

Kathy Willis, Professorin für Biodiversität an der Universität Oxford, bringt es auf den Punkt. „Wir wissen, dass in der Welt der Natur alles in Verbindung steht. Die gesamte Biodiversität ist weltweit miteinander verzahnt, man braucht alle Teile dieses Systems, alle werden benötigt, damit dieses System funktioniert. Wir Menschen mögen glauben, wir stehen außerhalb – aber wir sind ein Teil davon und völlig darauf angewiesen“ (Fünf vor Zwölf, 2:36 ff.). Sie wählt das Beispiel Pflanzenwelt – ein äußerst eindrucksvolles Beispiel: „25 Prozent der untersuchten Pflanzenarten ist vom Aussterben bedroht – jede vierte Pflanze! Wenn das nicht erschreckend ist … Pflanzen unterstützen fast alles, was wir brauchen. Denken Sie an die Luft, die wir atmen … an die Konzentration von CO2 in der Luft … an sauberes Wasser: Bäume reduzieren den Wasserfluss, fangen den Regen ab. Die Wurzeln halten das Erdreich an Ort und Stelle. Fällt man zu viele Bäume, endet es mit einem Erdrutsch. Das haben wir schon so oft erlebt. Und trotzdem machen wir immer wieder die gleichen Fehler.“

Zusammenhänge, wo man sie nicht vermutet. Heute ist eine Million (von geschätzten acht Millionen Arten) akut vom Aussterben bedroht. „Seit 1970 sind Vögel, Säugetiere, Amphibien und Reptilien um insgesamt 60 Prozent zurückgegangen. Große Säugetiere sind aus dreiviertel ihrer ursprünglichen Lebensbereiche verschwunden“ (Stuart Butchart, BirdLife International; Fünf vor Zwölf, 2:47 ff.).

Für die gefiederten Kollegen ist die Welt mittlerweile ein ungastlicher Ort geworden. Zugvögel werden massenhaft gefangen, getötet, als Delikatessen gebraten und verspeist. Habitate wie Feuchtgebiete oder Wälder verschwinden, Nistplätze werden gerodet. Das Wegbleiben der Gefiederten liegt sozusagen auf der Hand. Woran man vielleicht nicht sofort denkt, ist die Fortpflanzung. Jungvögel brauchen zu ihrer Entwicklung Eiweiß. Unmengen davon. Hauptlieferanten tierischer Proteine aber sind die Insekten. Womit sich der Kreis schließt.

„Circa 10 Prozent der Insekten sind vom Aussterben bedroht. Manche vermuten, es seien noch viel mehr“ (Robert Watson, UN-Plattform Biodiversität und Ökosysteme; Fünf vor Zwölf, 2:26 ff.). Wenn uns also Gelsen, Mücken und Fliegen weniger oft sekkieren als früher (weil sie von Umweltgiften dezimiert wurden), bezahlen wir diese Annehmlichkeit mit dem von der berühmten Autorin schon vor Jahrzehnten prophezeiten Stummen Frühling (Rachel Carson: Der stumme Frühling. Erstausgabe 1962).* Weniger Käfer, (Wild-)Bienen, Hummeln und andere Summer & Brummer bedeuten nicht nur weniger gefiederte Kollegen. Für Homo sapiens bedeuten sie auch weniger bestäubte Blüten im Frühling und weniger Früchte im Herbst. Um‘s mal ganz direkt, ganz plakativ zu sagen.

Plündern und Töten. „Viele denken, das Artensterben sei eine erfundene Geschichte, die von Naturschützern erzählt wird. Aber ich habe dies in Kenia selbst erlebt. … Früher lebten Tausende Breitmaulnashörner in Zentralafrika. Doch durch die Jagd und den Verlust von Lebensraum sterben sie jetzt aus“ (James Mwenda, Ol Pejeta Conservancy, Kenia; Fünf vor Zwölf, 5:56 ff.). Der Mann muss es wissen, ist er doch Pfleger und Wächter der letzten zwei Exemplare des Nördlichen Breitmaulnashorns, Ceratotherium simum cottoni.*** Von dieser nördlichen Unterart des sogenannten ‚Weißen‘ Nashorns – die andere Unterart lebt in Südafrika und ist dort ebenfalls bedroht, wiewohl noch nicht ganz am Ende – weiß man wissenschaftlich gesehen nicht allzu viel und wird mangels lebenden Anschauungsmaterials auch nicht mehr viel erfahren. Allenfalls der Historiker könnte auf spektakuläre Felsbilder verweisen, die diesen Vertreter der Megafauna als magisch verehrtes Jagdwild zeigen. Oder die spärlichen Zeugnisse aus der Antike anführen, die den Arena-Auftritt des einen oder anderen Rhinozeros-Kolosses beschreiben – von umtriebigen Tierhändlern aus der damals noch nicht ganz so wüstenhaften Sahara in die Hauptstadt der Welt gebracht, um dort die brutale Schaulust des populus Romanus zu befriedigen.

Nochmals der Wildhüter aus Kenia: „Wilderei ist wie ein Krieg, den wir führen müssen: Jeden Tag verlieren wir zwei oder drei Nashörner in Afrika. Und nicht nur Nashörner.“ Heute setzen Wildtierhandel und Wilderei jährlich mehr als viereinhalb Milliarden Euro um. Illegaler Handel mit Wildtieren und Pflanzen steht an vierter Stelle transnationaler Straftaten – nach Menschenhandel, Waffen- und Drogenhandel. Tierschutz-Expertin Iris Ho: „Wir sprechen von Millionen Tieren, die der Wildtierhandel betrifft; von Tausenden Arten. Angetrieben wird der illegale Handel vom steigenden Wohlstand in Asien – in China, in Vietnam und anderswo. Wenn Sie über Geld und Internet verfügen, können Sie im Netz buchstäblich alles bestellen, was sie wollen: entweder als Statussymbol oder für medizinische Zwecke“ (Fünf vor Zwölf, 13:18 ff.).

„Für medizinische Zwecke“ wurden und werden auch die Pangoline oder Schuppentiere (Manis pentadactyla, Manis javanica, Smutsia temminckii, Phataginus tetradactyla und andere) an den Rand der Ausrottung gebracht. Dass Wilddiebe und Händler nicht zimperlich mit der ‚Ware‘ umgehen, bevor diese im Kochtopf der fernöstlich-asiatischen Edelkundschaft landet, darf vorausgesetzt werden. „Wilderei ist ein brutales, grausames Geschäft. Ich habe Video-Aufnahmen gesehen, in denen Pangoline lebendig gekocht wurden. Es ist erschütternd zu sehen, wie diese Tiere getötet werden“ (Nicci Wright, Human Society International; Fünf vor Zwölf, 15:00 ff.).

Nachsatz: Attenboroughs Dokumentarfilm erspart den Zusehern auch optisch nur wenig. Von ‚Marktszenen‘ mit apathisch in engen Käfigen hockenden Todeskandidaten bis zu Bildern von lebendig ausgeweideten Schlangen oder im Todeskampf zappelnden Fledermäusen werden Details gezeigt, wie sie der zartfühlenden Seele besser verborgen blieben, doch für den objektivierenden Verstand zur Analyse besagter ‚Realität nach Art des Hauses‘ – vulgo Raubökonomie – leider notwendig sind. Übrig bleibt dann immer noch ein soziopathischer Rest, der vielleicht mit Methoden der Psychologie erklärt werden kann, dem Historiker aber stets ein Rätsel sein wird.

Was muss man fürchten? Was darf man hoffen? Die Biologin Elizabeth Hadly lehrt  an der Stanford Universität. Ihr Fazit zum Schwinden der Biodiversität ist ernüchternd: „Nun ist aber der Rückgang überall gleichmäßig – in Amazonien, der Arktis, in Afrika … und betrifft die gesamte Biodiversität auf dem ganzen Planeten. Wenn wir diese Arten einmal verloren haben, gibt es keine Möglichkeit mehr, sie zurück zu holen.  Auf jeden Fall nicht in einem Zeitraum, in dem wir existieren“ (Fünf vor Zwölf, 3:05 ff.). Auch zum milliardenschweren globalen Handel mit Wildttieren oder Wildtierprodukten konfrontiert uns die Expertin mit extrem Unerfreulichem. Mit angelsächsischem Understatement wird die bittere Pille serviert: „Es gibt viele Möglichkeiten, Teile des Puzzles Natur zu entfernen. Der offensichtlichste ist, Tiere zu töten – und das tun wir oft.“ Sei es direkt, als Wilderei und ‚Bushmeat‘-Beschaffung, sei es in Folge des von uns mitverursachten Klimawandels, der besonders das Leben hoch spezialisierter Pflanzen und Tiere an seine Grenzen bringt. Und zwar buchstäblich. Biotope werden klimabedingt unbrauchbar; was dort lebt, wird in andere Nischen verdrängt – sodass beispielsweise Kälte liebende Organismen immer höher hinauf wandern müssen, bis es schließlich nicht mehr weiter geht. Elizabeth Hadly: „Man nennt das die Rolltreppe des Artensterbens, und wir sehen es überall auf der Welt“. Der weltumspannenden Bedrohung entspricht auf der Gegenseite nichts Gleichwertiges. „Die Problematik besteht darin, dass wir keine Umweltgesetze haben, die weltweit gelten.“

Keine Hoffnung also … Oder doch? „Vor 40 Jahren hatte ich eine der einprägsamsten Erfahrungen meines Lebens. Ich war in den Virunga-Bergen … und dort bin ich einigen der wenigen verbliebenen Berggorillas begegnet. … Es war eine unvergessliche Erfahrung. Aber sie war von Traurigkeit gefärbt: ich dachte, ich würde die Letzten ihrer Art sehen“ (David Attenborough).

Was aus Attenboroughs ‚Letzten ihrer Art‘ geworden ist, erzählt uns jemand, der es wissen muss. Prosper Uwingeli ist Ranger im Volcanoes National Park, Ruanda: „Früher gab es Spannungen zwischen der Parkverwaltung und der Gemeinschaft, wir hatten viele Wilderer, die Schlingen auslegten und Bambus abholzten. Heute haben wir über zweihundert Ranger, und ihre Aufgabe ist es, Gorillas zu beobachten und ihren Lebensraum zu schützen. Die Regierung hat ein Programm zur Aufteilung der Einnahmen aus dem Tourismus erstellt. Die Dinge haben sich geändert“ (Fünf vor Zwölf, 45:55 ff.). Und die Expertin für Gorillaschutz, Anna Behm Masozera sekundiert: „Die Koexistenz von Menschen und Berggorillas schien vielen nicht machbar. Aber in den darauffolgenden Jahrzehnten besserte sich die Lage. Die Regierungen, Naturschutzorganisationen und die lokalen Gemeinschaften haben zusammengearbeitet. … Ein Teil des im Tourismus erwirtschafteten Geldes kommt den angrenzenden Gemeinden zugute. Dadurch wurde der Lebensraum der Gorillas nicht weiter für landwirtschaftliche Bedürfnisse reklamiert. Und die Population hat sich erholt. Ihre Zahl hat heute die Tausend erreicht – und überschritten. Die Veränderung ist nicht von heute auf morgen passiert. Aber wenn sie hier erreicht worden ist – wo der Bevölkerungsdruck so groß und die Politik so kompliziert sein kann, vor allem zwischen den Staaten –, dann glaube ich, dass das auch anderswo erreicht werden kann“ (Fünf vor Zwölf, 45:31 ff.). Der geschätzte Freund, die ehrenwerte Freundin der Natur – können sie das glauben? Oder sind sie aufs Prinzip Hoffnung angewiesen ...

Wen kümmert die Natur? Grosso modo ist die Menschheit am Naturschutz nicht interessiert. Unlängst ging eine weltweite Kampagne zum Schutz der Meere zu Ende. Der Petition namhafter NGOs haben sich gerade einmal fünfeinhalb Millionen Menschen angeschlossen. Hört sich nicht wirklich viel an – und ist es auch nicht. Man müsste (bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden) fast 2.000 Personen ansprechen, bevor man eine fände, die auf die Frage: Kümmert dich der Zustand der Natur? mit ‚Ja‘ antwortet. Wir Naturfreunde sind eine Minderheit, den Ureinwohnern Amazoniens vergleichbar.

Aber. Martin Luther soll gesagt haben: „Wüsste ich, dass morgen die Welt untergeht, ich würde noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“

(Wird fortgesetzt)

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* Der Film:

Fünf vor Zwölf – Natur vor dem Kollaps. Dokumentation von David Attenborough. BBC 2020 | ORF 2023, (Welt Journal +). Länge: 50 Minuten.

** Literatur:

Rachel Carson: Silent Spring. US-amerikanische Erstausgabe: 27. September 1962 (Verlag: Houghton Mifflin). Manche sehen in dem Buch den Beginn der weltweiten Umweltbewegung; andere bezeichnen es gar als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts.

*** Links:

Breitmaulnashorn 1; Breitmaulnashorn 2; Gewilderte Schuppentiere

Siehe auch BLOG # 10 vom 1. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann“; sowie BLOG # 11 vom 2. Dezember 2022: „Lehren aus Sharm el-Sheikh – oder Wie man der Welt-Allmende wirklich helfen kann, Teil 2“.

In unserer gegenwärtigen Weltordnung hat nur dasjenige einen Wert, erfreut sich nur dasjenige eines Rechts auf Schutz und Schonung, was „jemandem gehört“. Wobei Letzteres noch weiter präzisiert werden muss: Dass mir „etwas gehört“, darf ich, genau genommen, nur behaupten, wenn ich der Eigentümer dieses ‚Etwas‘ bin; etwas bloß zu besitzen reicht nicht aus, um vor dem Hohen Gericht der kapitalistischen Ordnung zu bestehen. Das zeigen die unzählbaren Fälle einer rücksichts- und sanktionslosen Enteignung von Besitzern vermeintlich ‚herrenloser‘ Güter, wie sie uns als Geschichte einer sogenannten Zivilisation vulgo Eroberergesellschaft bis zum Abwinken überliefert worden sind.

„Ja, aber es wäre doch schön, wenn Menschen das Seiende bedingungslos wertschätzten und respektierten – gewissermaßen als es selbst!“ – „Genau: es wäre schön …“ Wovon das imaginäre Zwiegespräch handelt, ist exakt unser Thema – die Allmende, etwas, das ‚allen‘ gehört und daher von ‚allen‘ respektiert zu werden hat. Nimmt man den Begriff ernst, denkt man also beim Wort „alle“ tatsächlich an alle Menschen – an die Menschheit, wenn der pathetische Ausdruck gestattet ist –, dann landet man unweigerlich dort, wovon mein heutiger Beitrag handelt: bei der Welt-Allmende. Ein großes Wort – das uns eine Menge Arbeit macht. Definitionsarbeit, versteht sich.

Die Welt-Allmende, ein Definitionsversuch. Die geneigte Leserin, der geduldige Leser mögen mir gestatten, den Eingangs gesponnenen Gedankenfaden wieder aufzunehmen und zu fragen, was man damit meint, wenn man sagt, etwas sei ein herrenloses Gut. Niemandem zu gehören kann ja per se nicht schlecht sein – haben wir doch gelernt, dass Unabhängigkeit ein Synonym sei für Freiheit. Was aber, wenn es sich dabei um eine ganz spezielle Spielart von ‚Freiheit‘ handelt – um Vogelfreiheit? Das gute deutsche Wort bezeichnet eine Freiheit, die dem Vogel, der sie hat, alles andere als Glück bringt. Es meint das Recht jedes Beliebigen, besagten ‚freien Vogel‘ zu verfolgen, zu fangen und nach Lust und Laune zu behandeln, in letzter Instanz: zu töten. Dieser ‚freie Vogel‘ war zu Zeiten, als das Wort entstand, ein echter Vertreter unseres Untersuchungsgegenstandes. Er war eine typische Allmende.

Ein erster Schluss könnte lauten – und tatsächlich wurde er auch massenhaft gezogen: Was niemandem gehört, ist vogelfrei, sprich zu jedermanns sanktionsloser Verfügung. Was niemandem gehört, gehört also nur theoretisch allen, praktisch demjenigen, der schnell genug ist, den freien Vogel allen anderen wegzuschnappen.

„Wie ärgerlich ist das denn! Was allen gehört, gibt es in Wirklichkeit gar nicht? Nur der Möglichkeit nach? …“ – „Du sagst es … und bist damit in bester Gesellschaft. In Gesellschaft jener nämlich, die schon immer behauptet haben, die Allmende sei eine haltlose Vorstufe zu dem, was einzig Bestand hat: Privateigentum.“* – „Es sei denn, wir weisen den Verfechtern des Privateigentums nach, dass sie selbst gar nicht wollen können, was sie als Idealzustand behaupten: dass jedes Phänomen von Wert, um von Bestand zu sein, einen Eigentümer haben muss.“ – „Du denkst an die Luft zum Atmen?“ – „Zum Beispiel.

Drei Bereiche, die keinem Einzelnen gehören dürfen, wenn sie ihrer Bestimmung gerecht werden sollen. So könnte es Kant formuliert haben. Wir anderen, eher pragmatisch Denkenden, reimen uns die drei kritischen Bereiche aus der Lebenserfahrung zusammen (mit Hilfe des Gesunden Menschenverstandes). Dass die Aufzählung vollständig sei, behaupten wir freilich nicht.

Das gilt auch hinsichtlich der Schönheit von Natur. Nicht nur weil sie Fischstäbchen liefern, sind die Meere unser aller Erbteil (was schon wieder pathetisch formuliert, deswegen aber nicht falsch ist). Und Wale, die größten Lebewesen, welche jemals auf dem Blauen Planeten gelebt haben, sollten überhaupt keinem Nützlichkeitskalkül unterliegen; sie sind – mit Kant zu reden – erhaben; grandiose Vertreter dessen, was der Philosoph aus Königsberg das „Naturschöne“ genannt hat. Dass Zugvögel (und andere wildlebende Tiere) schon per definitionem kein Privateigentum sein können, scheint zwar akzeptiert, und die Öffentlichkeit in Gestalt des Staates zeigt hier mit mehr oder weniger großem Nachdruck Verantwortungsbewusstsein … Allerdings, eine echte Welt-Allmende sind sie nicht.** Auch das sogenannte Weltnaturerbe der UNESCO „tut ja nur so, als ob“. Mangels gesetzlichen Durchgriffsrechts nämlich.

Nachsatz und Resümee. Die hybriden Formen des Umgangs mit Natur, wie sie dem Menschen in die Wiege gelegt zu sein scheinen – Ergebnis ist ein Kultur- respektive Naturgegenstand zweiter Ordnung – erlauben es, Kunstschönes und Naturschönes in einem Atemzug zu nennen. Kunstschönes und Naturschönes sind die beiden Seiten ein- und derselben Medaille. Ein Text in zwei Sprachen, die sich ständig ineinander übersetzen.

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*Literatur:

Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons. In: Science 13 Dec 1968, Vol. 162, Issue 3859, 1243–1248;

Elinor Ostrom: Governing the Commons. The Evolution of Institutions for Collective Action. Cambridge University Press: Cambridge – New York – Melbourne – Madrid – Kapstadt 1990

** Anmerkung:

Wie weit man noch davon entfernt ist, den natürlichen Reichtum als Welt-Allmende zu verstehen – geschweige denn sich zu durchschlagskräftigen Maßnahmen aufzuraffen –, zeigt ein Blick in unseren eigenen europäisch-mediterranen Vorgarten. Nicht nur stehen „Neptuns Gärten“ selbst durch Küstenverbauung, Meeresverschmutzung und Überfischung unter größtem Druck, auch im Luftraum darüber und an seinen Gestaden ist das Mittelmeer Schauplatz einer rücksichtslosen, nein: ruchlosen Plünderung. Plünderung dessen, was mit Fug und Recht eine Welt-Allmende genannt zu werden verdiente … und wenn nicht das, dann doch Allmende der Europäerinnen und Europäer. Vor den Augen besagter Europäerinnen und Europäer werden von Geschäftemachern und ihren sich selbst wohl zu ‚armen Hungerleidern‘ hochstilisierenden sogenannten ‚Jägern‘ in Malta, Zypern, Syrien, Libanon und Ägypten jährlich mindestens 25 Millionen Zugvögel illegal geschossenen oder gefangen.

Links: Vogelfänger 1; Vogelfänger 2; Vogelfänger 3

Siehe auch BLOG # 17 vom 5. Januar 2023: Botanische Weltenbummler: Pflanzen & Weltsysteme

In der letzten Einheit vor den Weihnachtsferien stellten mir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer meines Proseminars eine jener Fragen, die man gemeinhin als ‚Gretchenfrage‘ bezeichnet – in diesem Fall war es die Frage nach dem ‚Weltsystem‘ (verstanden als wissenschaftlicher Begriff und als historische Realität). Im vorigen Beitrag (siehe oben) habe ich mich dieser Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen angenommen; das komplexe Thema konnte ich freilich nur holzschnittartig grob skizzieren. So seien an dieser Stelle ein paar zusätzliche Überlegungen angefügt, und was zuletzt vielleicht ein wenig zu kurz kam – die ÖKOLOGISCHEN IMPLIKATIONEN von Weltsystem und Globalisierung – , soll jetzt im Focus stehen.

Europas Wälder sind noch nicht fertig. Europa als Kontinent war nach den Eiszeiten ökologisch 'leergeräumt'. Im Gegensatz zu Nordamerika, wo die großen Gebirgszüge in Nord-Süd-Richtung verlaufen, bildeten die grosso modo ost-westlich ausgerichteten Gebirgszüge des Alten Kontinents (Karpaten, Balkangebirge, Alpen, Pyrenäen ...) für Pflanzen, die dem nach Süden vorrückenden Eis ausweichen wollten, unüberwindliche Sperrriegel – sie starben aus. Umgekehrt war die Besiedlung von Süden her aus demselben Grund ebenfalls stark erschwert, sodass am Ende der Eiszeit die Wiederbewaldung Mittel- und Westeuropas nur mit einigen wenigen Arten erfolgte. Fazit: Bis heute weisen mittel- und westeuropäische Wälder signifikant weniger Arten auf als vergleichbare Wälder Nordamerikas.

Da kommt die Globalisierung, kommen die beiden Weltsysteme ins Spiel. In diesen Systemen – dem vormodernen des 13. Jahrhunderts und dem modernen ab dem 16. Jahrhundert, das auch heute noch seine Wirksamkeit entfaltet (und zwar mehr denn je) – bewirkte die erhöhte Kommunikation zwischen den Erdteilen, dass sich in einem Aufholprozess ohnegleichen jetzt auch Europas Pflanzenwelt langsam aber stetig der Artenfülle nähert, wie sie vor den Eiszeiten geherrscht hatte (und in Fernost oder Amerika nie verschwunden war).

Eine Pflanzengemeinschaft holt auf. Vor den letzten großen Eiszeiten wuchsen in Europas Wäldern außer den heute vorkommenden Spezies – um hier vom ehemaligen Artenreichtum nur eine kleine Andeutung zu geben – Ginkgo (Ginkgo biloba), Blauglockenbaum (Paulownia tomentosa), Trompetenbaum (Catalpa) und Götterbaum (Ailanthus altissima); sowie verschiedene Palmenarten. Dieser Zustand stellt sich seit dem 13. Jahrhundert und vermehrt seit dem 16. Jahrhundert mit Hilfe des Menschen und dessen globaler Tätigkeit, Kommunikation und Reiselust langsam wieder her.

Die agrarwirtschaftliche Seite der botanischen Globalisierung im modernen Weltsystem © G. Liedl

Nochmals der Wald. In aufsteigender Reihe erinnern Buche und Tanne (sie kamen im Neolithikum, während der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit nach Mittel- und Westeuropa), Walnuss, Edelkastanie, Quitte, Holzbirne und Wildkirsche (Römerzeit bis Hochmittelalter), Rosskastanie, Flieder, Mannaesche, Ailanthus, Sommerflieder und Robinie, Roteiche, Douglasie, Sitkafichte und Kanadapappel (Zuwanderer der Neuzeit) an die prinzipiell noch immer nicht abgeschlossene florale Wiederbesiedlung Europas nach dem Ende der Eiszeit. Sie erinnern uns daran, dass die ehemalige Artenvielfalt noch nicht wiederhergestellt ist und die Neuankömmlinge gewissermaßen nur einen prähistorischen Auftrag erfüllen.*

Nachsatz für Botaniker, Ökologen oder Naturschützer, die sich wegen der ‚Neuen‘ um die Artenvielfalt unter den ‚Alten‘ Sorgen machen: Keine einzige ursprüngliche Art ist bisher wegen einer später hinzu gekommenen verschwunden.

Die noch nicht gefüllte Nische. Wenn sich aus der Waldgeschichte Mittel- und Westeuropas nach rund 10.000 Jahren Wiederbesiedlung eine Schlussfolgerung ziehen lässt, dann vielleicht die folgende. Man nehme den Fall, dass es einer ehemals ortsfremden Art gelungen ist, nachhaltig stabile Populationen auszubilden, ohne die vorgefundene Artenzahl zu vermindern. Dies könnte ein sicheres Indiz dafür sein, dass die Nische, in welcher solch neues Leben fußgefasst hat, vorher unterbesetzt war. Anders gesagt – in einer solchen schwach besetzten Nische wird mit großer Wahrscheinlichkeit niemandem essentiell etwas weggenommen, jedenfalls solange nicht, bis das Areal tatsächlich optimal (also vollständig) ausgenützt ist. Neobiota,** die sich erfolgreich etablieren konnten, haben den Raum, in dem sie vorkommen, nicht gewaltsam frei gemacht (wie das fundamentalökologische Vorurteil lautet), sondern sind Anzeichen dafür, „dass dort noch Platz war“. Die Regel, nach welcher die später Kommenden offenbar handeln, geht so: Der, welcher in ein bereits bewohntes Haus neu einzieht, benötigt weniger Platz als jener, der das Haus ursprünglich für sich geplant und gebaut hatte. Not macht erfinderisch, Konkurrenz belebt das Geschäft.

Übrigens … Der Klimawandel unterstützt diesen ökologischen Bereicherungsprozess zusätzlich. Auch das muss einmal gesagt sein...

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* Literatur: Hansjörg Küster: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. München 2003; Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa – von der Eiszeit bis zur Gegenwart. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. München 2010

** Anmerkung des Autors zum zitierten Link:

Dankenswerter Weise unterlässt es der offensichtlich recht ausgereifte Artikel nicht, darauf hinzuweisen, dass die gegenwärtige (wissenschaftliche und gesellschaftspolitische) Diskussion zum Thema 'neue Arten' äußerst kontroversiell ist und in ihrer jeweiligen (nicht selten erstaunlich radikalen Ausformung, bis hin zur Verwendung von aus der Militärsprache stammenden Begriffen) „auf konkurrierende, kulturell geprägte Deutungsmuster schließen lässt.“

Diese politische (kulturpolitische) Dimension (also für bestimmte Gesellschaften typische Denkungsarten von langer Dauer – beispielsweise Aufklärung versus Romantik im mitteleuropäischen Raum) ist wohl auch dafür verantwortlich, dass ursprünglich durchaus pragmatische Ansätze und Maßnahmen aus dem Ruder laufen, wenn etwa unter dem Deckmantel sogenannter Spezialstudien (oder Gutachten) wissenschaftlich unbelegte, plakative Behauptungen in teure, wirtschaftlich unnötige und ökologisch verheerende Maßnahmen übersetzt werden, ohne dass diese vom gesellschaftlichen Konsens getragen würden; nicht selten sogar explizit gegen einen solchen Konsens (zum Ökofundamentalismus mit Fallbeispielen von Ausrottungskampagnen siehe BLOG # 30; BLOG # 31; BLOG # 32).

Als unschönes, aber typisches Beispiel (für eine Unzahl ähnlicher Elaborate) kann untenstehende Studie ‚empfohlen' werden. Darin wird die im übrigen wissenschaftlich unbelegte Behauptung aufgestellt, dass für 54 % der in historischer Zeit ausgestorbenen Spezies Neobiota verantwortlich seien und diese also die zweitwichtigste Ursache für Artensterben darstellten (die wichtigste ist die Zerstörung des Habitats). Das mag für Inselpopulationen stimmen. Aber nicht einmal für diese ist das eindeutig zu belegen (mangels historischer Quellen).

Miguel Clavero / Emili García-Berthou: Invasive species are a leading cause of animal extinctions. In: Trends in Ecology and Evolution. Band 20, Nr. 3, 2005, S. 110, doi:10.1016/j.tree.2005.01.003

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Postscriptum: Douglasie, Roteiche & Co. – warum Förster Neophyten lieben. Auch wenn sich Puristen des Naturschutzes daran stoßen mögen (Leserinnen und Leser dieses Blogs haben sich an die vom Autor in diesem Zusammenhang gern gebrauchte Bezeichnung mittlerweile ja gewöhnt: Ökofundamentalisten, auch als Verfechter einer Fundamentalökologie bekannt) – für die Waldwirtschaft war und ist die Ankunft neuer Arten – ‚fremder‘, ‚exotischer‘, aus anderen Klimazonen und Weltgegenden stammender Pflanzen (Fachausdruck: Neophyten) – keineswegs noxious, ‚schädlich‘ (sorry, Freundinnen und Freunde der Natur, aber schon wieder konnte ich mir die Anspielung auf gewisse alarmistische Formulierungen in bestimmten Gesetzestexten nicht verkneifen), sondern im Gegenteil äußerst nützlich und willkommen.

Hubert Hasenauer vom Institut für Waldbau an der Universität für Bodenkultur Wien bringt es stellvertretend für eine ganze Zunft von Forstleuten und eine mehrhundertjährige Tradition aufgeklärt-pragmatischen Expertentums auf den Punkt. Angesichts des Klimawandels seien Alternativen notwendig, „um heimische Bäume zu ersetzen“.* „Die Douglasie könnte eine Alternative sein“. Und „es gibt auch Experimente mit der amerikanischen Rot-Eiche und der Libanon-Zeder.“*

Auch der Gottseibeiuns des Ökofundamentalismus darf nicht fehlen. Bäume, die lange sommerliche Trockenperioden aushalten, werden wieder zunehmend interessant; allen ökologiepolitischen Unkenrufen zum Trotz stehen aktuell auf 15.000 bis 20.000 Hektar forstlich genutzter Fläche Trockenheits-resistente Douglasien in Österreich – und bringen beste Ergebnisse, was Vitalität, Schädlingsresistenz, Wuchsleistung und Holzqualität betrifft; und auch der Gottseibeiuns der Puristenzunft, die vielgeschmähte, in der einschlägigen Gesetzgebung als auszurottender Neophyt denunzierte Robinie (Pseudo-Akazie) wird vom Forstexperten ohne Wenn und Aber rehabilitiert. Denn: „Ich glaube, dass es immer einen Wald geben wird. Aber er wird vielleicht anders aussehen.“*

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* Hubert Hasenauer zitiert nach KURIER, 5. August 2023, Klimakrise, Seite 3: „Ein Blick in den Wald der Zukunft“